Von nun an ging's bergab

von Michael Wolf

Berlin, 17. November 2017. Da steht der Lehrer in seinem Rollkragenpullover (Ist das orange? Ist das Schlamm? Ist das überhaupt eine Farbe?). Dazu trägt er eine abscheuliche abscheuliche Bügelfaltenhose. (Man muss das Wort wirklich zwei mal schreiben.) Keine fünf Minuten sind vergangen, und schon möchte der Kritiker am liebsten die Kostümbildnerin Carolin Schogs packen und schütteln. Denn stilistisch ist der Mann von Beginn an nicht zu retten. Dabei geht es doch um seinen Untergang. Der soll doch erst später kommen!

"Ich bin ein Opfer", sagt Ronald Rupp (Daniel Hoevels) zu seiner Klasse. Aber an dieser Stelle ist das noch als pädagogische Lektion gemeint. Seine Schüler sollen das Wort nicht als Schimpfwort verwenden. Im Verlauf des Abends schauen wir ihm dabei zu, wie die Prophezeiung wahr wird.

Versetzung2 560 Arno Declair u"Ist man ein Opfer, ist die ganze Welt Täter" – Daniel Hoevels, Christoph Franken, Judith Hofmann,
Helmut Mooshammer © Arno Declair

Es gibt Schriftsteller, die sich immer neuen Stoffen widmen, und es gibt solche, die ein Thema immer wieder umkreisen: Bei Thomas Melle ist das eine Krankheit. Seine Krankheit, wie wir seit seinem letzten Buch "Welt im Rücken" wissen. Wie er ist auch der traurige Held in seinem Stück "Versetzung" manisch-depressiv. Das heißt, es geht steil nach oben oder unten.

Die Störung, das sind auch die anderen

Am Anfang ist Ronald Rupp aber noch verdächtig ausgeglichen. Er soll zum Schulleiter befördert werden, seine Frau ist schwanger, seine Kollegen und Schüler mögen ihn. Aber bald macht das Gerücht über seine bipolare Störung die Runde. Eine Stunde später ist die bei ihm wieder ausgebrochen. Kurz darauf verliert er Frau, Status und Job.

Nicht nur seine Hosen sollen Rupp als angepassten – und also geschmacklosen – Lehrer charakterisieren. Auch darstellerisch setzt Daniel Hoevels anfangs etwas zu stark auf Lehrer-Klischees. Sein Rupp wirkt fahrig, misstrauisch und nur oberflächlich kontrolliert. In guten Momenten scheint es, als spüre er schon die widerstrebenden Kräfte, die ihn später zerreißen. In weniger guten wirkt er einfach nur wie ein trotteliger Studienrat. Dafür heimst Hoevels Lacher ein, aber er verringert so auch die Fallhöhe seiner Figur.

Reim dich oder es frisst mich

Thomas Melle schreibt saubere, schnelle Szenen, der erbarmungslose Abstieg stockt zu keinem Zeitpunkt. Auch seine Nebenfiguren hat Melle reich mit Pathologien ausgestattet: Der Elternrat (Michael Goldberg) ist ein paranoider Impf-Gegner und die Mutter seiner Schülerin (Birgit Unterweger) mindestens nymphomanisch veranlagt, dazu wahrscheinlich schizophren, auf jeden Fall aber wahrnehmungsgestört.

Das trifft ohnehin auf alle zu in Brit Bartkowiaks Uraufführung in den Kammerspielen des Deutschen Theaters. Das Ensemble spielt nicht vom Blatt, sondern schielt knapp daran vorbei – und liebäugelt mit einer interessanten Interpretation des Stücks:

Rupps Krankheitsschübe kündigen sich dadurch an, dass er Sätze missversteht. Wenn sein Gegenüber sagt: "Mein Sohn ist ein kritischer Geist, das ist alles!", kommt bei ihm Folgendes an: "Ein Hohn, wie du hektisch scheißt, was du knallst." Aber eben nicht nur bei ihm, sondern auch beim Publikum. Später spricht Rupp nur noch in Reimen, in Sonetten. Die starre Form ist seine letzte Möglichkeit, das Widerstrebende in ihm zusammenzuhalten.

Versetzung1 560 Arno Declair uDaniel Hoevels, Anja Schneider © Arno Declair

Hinzu kommt die eigenwillige Mechanik des Abends. An einer Stelle platzt der Elternrat unvermittelt in eine Lehrer-Besprechung. "Wo kommen Sie jetzt her?" – "Von dahinten", antwortet er und zeigt ins Leere. Das ist nicht nur ein grandioser Dramatiker-Witz, hier zeigt sich auch, dass der Text selbst nicht nach rationalen Regeln funktioniert. Das Stück hat eine Schraube locker. Man kann sie sogar hören: Während der Held sich dem Zusammenbruch nähert, quietscht es leise, aber sehr unangenehm aus dem Lautsprecher über der Bühne. Brit Bartkowiak lässt uns durch das Gewinde in Rupps Kopf schauen.

Sinnvoller Niedergang

So erklären sich auch Szenen, die vom Stück deutlich abweichen. Etwa, wenn seine Frau und seine vermeintliche Geliebte sich küssen. Oder wenn er diese geil und gewaltsam in das Aquarium auf der sparsam eingerichteten Bühne taucht. Melles Vorlage gibt diese Ausbrüche nicht her. Es sei denn, man wollte Bartkowiaks Lesart folgen. Dann wäre Rupp das, was man in der Prosa einen unzuverlässigen Erzähler nennt. Dann wäre "Versetzung" nicht die glaubwürdige Geschichte eines Niedergangs, sondern der Rückblick eines gebrochenen Mannes, der sich längst am Tiefpunkt befindet. Wie er tatsächlich dort hinkam, spielt keine Rolle mehr. Von Bedeutung ist nur noch, dem eigenen Niedergang eine Dramaturgie und damit einen Sinn zu verleihen.

Nur: Wo sind wir, wo sind die Zuschauer in diesem Setting? Im Theater wird Leid nur wirksam als Mitleid. Das Stück bietet genug Leichtigkeit und Humor, dass es auch etwas Pathos, etwas ungebrochenen Schmerz vertrüge. Jedoch: Als der Patient vollkommen verstört schreit, wütet und dichtet, da gluckst der Saal amüsiert. Ein Irrer halt. "Ist man ein Opfer, ist die ganze Welt Täter", heißt es am Ende. Vielleicht wollte Bartkowiak, dass sich das Publikum über sich selbst erschreckt. Darüber, wie es das Opfer nicht wahrnimmt, es noch nicht mal annimmt. Aber das wäre Pädagogik. Und die gehört in die Schule.

Versetzung
von Thomas Melle
Uraufführung
Regie: Brit Bartkowiak, Bühne: Johanna Pfau, Kostüme: Carolin Schogs, Musik / Sounddesign: Joe Masi, Chor-Einstudierung: Bernd Freytag, Dramaturgie: David Heiligers.
Mit: Daniel Hoevels, Anja Schneider, Helmut Mooshammer, Judith Hofmann, Christoph Franken, Linn Reusse, Caner Sunar, Birgit Unterweger, Michael Goldberg.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Thomas Melles autobiografischen Roman Die Welt im Rücken inszenierte in Wien Jan Bosse als Solo für Joachim Meyerhoff.

 

Kritikenrundschau

"Viel Schul- und Lebensmist", identifizierte Ulrike Baureithel vom Freitag (25.12.2017) im Stück. "(U)nd das ist das Problem, denn darunter droht das eigentliche Thema zu verschwinden, Rolands bipolare Störung und die Frage, ob ein solcher Lehrer zumutbar ist für die Kinder und die noch dringlichere Frage, wer nämlich vom ganzen Personal am meisten gestört ist." Die Regiekonzeption sei unentschieden, der eigentlich tragische Fall werde ironisch zersetzt oder kalauernd heruntergewirtschaftet. "Es wird viel behauptet in diesem Stück, aber (zu) wenig gezeigt, obwohl sich die Darsteller mühen, die Fallhöhe des Falls glaubhaft zu machen."

Melle greife den Zwiespalt, in den eine bipolare Störung die Umwelt der erkrankten Person schmeißt, von vielen Seiten an und spiele ihn durch, "und er nutzt dabei geschickt und mit viel aufklärendem Humor die Vielbödigkeit des Theaters, sein willkürliches Ineinander von Sein, Schein und Deutung", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online am 18.11.2017). In der Wirklichkeit entziehe sich dieses Ineinander der Kontrolle und Nachprüfbarkeit. "Durch diese Tür kommt der Wahn und schreibt sein eigenes Drama." Brit Bartkowiak inszeniere den Niedergang des Protagonisten "mit situativer Verspieltheit und Sinn für das ausgestellte Detail", so Seidler, und: "So erschütternd die Erfahrung der Verlassenheit, des Nichtswissen- und Nichtsteilenkönnens sein mag, im Theater macht man sie gemeinsam und hat den Befund damit für einen Moment widerlegt."

Melle beschreibe die Störung nie als private Leidensgeschichte, sondern befragt das System, in dem sie sich ereignet, so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (19.11.2017) über die Vorlage. Dazu liefere Bartkowiak eine schlüssige, stringente Inszenierung, "die Melles immer wieder theoretisch überschießender Figuren-Rede einen glasklaren Ton verpasst."

"Versetzung" wirke "wie ein didaktisches Beistück zu Melles Welt im Rücken", findet Katrin Bettina Müller in der taz (20.11.2017), das der ungleich stärkere Abend war: "Unheimlich wurde da die Sprache selbst, ein trügerisches Gewebe, das nur lose an den Dingen haftet." Diese Qualität fehle "Versetzung", das kein überzeugendes Theaterstück sei. "Das Fatale an der Inszenierung ist, dass sie ästhetisch selbst in die Elemente Biederkeit und Irrationalität zerfällt. Spannend wird es immer erst mit der Krankheit." Die gesunden Phasen wirkten wie  ein didaktisches Stück über Pädagogen. "Das macht die Sache unangemessen eindimensional."

"Krank­heit als Me­ta­pher?", fragt Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.11.2017). "In Tho­mas Mel­les Stück ist sie bei­des: ei­ne Wirk­lich­keit und ein Bild der Un­ord­nung, die dort, wo sie nicht aus­bricht, kei­nes­falls ab­we­send ist, son­dern nur im Hin­ter­grund bleibt." Al­le hier wä­ren gern an­ders, al­le sind über­grif­fig. "In Ber­lin ist es den Schau­spie­lern er­sicht­lich ein Ver­gnü­gen, un­ter der text­na­hen Re­gie von Brit Bart­ko­wi­ak die­se Ty­pen zu ge­ben, her­aus­ra­gend un­ter den vie­len gu­ten Hel­mut Moos­ham­mer als Schul­di­rek­tor und An­ja Schnei­der als Frau des Leh­rers."

"Thomas Melle hat im vergangenen Jahr mit 'Die Welt im Rücken' ein in seiner rückhaltlosen Genauigkeit und poetischen Kraft bewegendes Buch über die Schübe seiner eigenen bipolaren Erkrankung geschrieben. In seinem neuen Stück setzt er sich mit dem Thema leider auf mechanische Weise auseinander", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (25.11.2017). "Es wirkt, als wolle er es sich vom Leib halten." Auch Brit Bartkowiak komme in ihrer Uraufführungsinszenierung "über mühsame Belebungsversuche der hölzernen Figuren nicht hinaus".

 

 

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