Deutsche Erde für deutsche Tote!

von Harald Raab

Heidelberg, 24. November 2017. Der Schlussapplaus war anerkennend und steigerte sich, als ER auf der Bühne erschien: Franz Xaver Kroetz. Vor Jahrzehnten in Heidelberg Hausautor, war der Dramatiker Kroetz in den 1970er und -80er Jahren als Theatermacher und Schauspieler ein Star. Nun blickt er etwas ungläubig ins Publikum, winkt skeptisch, als wollte er den Beifall abwehren. Denn das, was er eben erlebt hat, widerspricht seiner immer wieder geäußerten pessimistischen Überzeugung: "Als Dramatiker bin i tot. Mi spüt eh koana mehr." Der Heidelberger Intendant Holger Schultze sieht das offenkundig anders. Er nahm sich jetzt des 1994 geschaffenen Stücks "Ich bin das Volk" an. 

Zugespitzte Verhältnisse

Gespielt wird in einem konstruktivistischen Bühnenbild von Martin Fischer, ein Maschinenraum gesellschaftlicher Abgründe. Gelbe Eisenträger, Treppen von irgendwo nach nirgendwo. Podeste, Laufstege mit Geländer, eine rote Walze, eine rote Rutsche. In diesem technoiden Dschungel werden 14 der 24 Szenen des Stücks abgehandelt: von der Neuvermietung einer Wohnung, in der Menschen bei einem Anschlag ums Leben kamen, über Ängste eines Schriftstellers, der ein Gedicht über den Stoiber-Nazi geschrieben hat und wissen will, ob er dafür belangt werden kann, bis zum Politiker, der eine Rede aus wohlfeilen Sprachhülsen bastelt. Regisseur Schultze realisiert viele Spielideen, um diese Monologe und Dialoge zu lebendigen Bildern werden zu lassen.

IchbindasVolk40 560 SebastianBuehler uMaschinenraum gesellschaftlicher Abgründe: die Bühne von Martin Fischer © Sebastian Bühler

Kroetz schrieb seine "Volkstümlichen Szenen aus dem neuen Deutschland" (wie das Stück im Untertitel heißt) in den ersten Jahren nach der Wende als Reaktion auf einen rechtsextrem motivierten Brandanschlag auf das Wohnhaus einer türkischen Familie im nordrhein-westfälischen Solingen, dem 1993 fünf Menschen zu Opfer fielen. Inzwischen haben sich die Verhältnisse weiter zugespitzt: Fremdenhass, Gewalt gegen Schwache, Minderwertigkeitskomplexe, mit nationalen Größenphantasien kompensiert. Pegida, AfD und ethnopluralistische Identitäre lassen grüßen.

Anarchischer Wirtshausrevoluzzer

"Ich protestiere gegen das kleinbürgerlich faschistoide Klima, in dem ich aufwuchs." Dieser Satz Franz Xaver Kroetz' fällt zwar nicht in diesem Stück. Er ist aber ein Schlüsselsatz zum Verständnis des bajuwarischen Alt-Berserkers und seiner fast 60 Arbeiten für die Bühne. Immer wenn das Theater der alten Bundesrepublik Muskeln zeigen wollte, gegen Kleinbürgermief mit brauner Grundierung: Bei Kroetz lag man richtig. Bildungsbürgerin und Bildungsbürger konnten sich bei ihm wohlig-schaurig-schön und volksnah echauffieren, moralgesättigt auf der Seite der Guten wähnen. Das war einmal. Die Welt ist komplizierter geworden, die Schuldfragen uneindeutiger. Sind Kroetz "volkstümliche Szenen" nach über 20 Jahren also noch aufführbar?

Um aus einem Kroetz-Stück heute noch Funken zu schlagen, darf man den Autor nicht auf einen Sockel stellen, gleich neben Ödön von Horvath oder Marieluise Fleißer. Wer dem sozialkritischen Gehalt seiner Arbeiten gerecht werden will, muss Kroetz mehr als Spezl des Kabarettisten mit dem bösen Blick, Gerhard Polt, und des Wahnsinnsfilmemachers Herbert Achternbusch herausarbeiten. Das Achternbusch-Motto ist auch das Credo des Theaterautors Kroetz: "Die Welt besteht nur aus Deppen und ich bin ihr Oberdepp." Auf die satirische Perspektive kommt es also bei diesen anarchischen Wirtshausrevoluzzern an. Erst so bekommt ihre Kritik Biss. Das Kleinbürger-Klischee, mit dem bis zum Gehtnichtmehr jongliert wird, muss ausgequetscht werden, bis es quietscht.

IchbindasVolk89 560 SebastianBuehler uDeutschtümelnd und zündelnd: Steffen Gangloff  © Sebastian Bühler

Genau darauf setzt Regisseur Holger Schultze. Alle Rollenstereotypen werden in der Szenenfolge genüsslich karikiert. Das ins Groteske verzerrte Normale zählt. Das ergibt als Essenz das Abgründige, untermalt vom stilisierten Gebrauch des Dialekts: Mia san mia – korrupt, bigott, selbstgerecht, kulturlos, provinziell, fremdenfeindlich und sooo gemütlich. Szenischer Holzschnitt muss als solcher sichtbar bleiben. Mit Empörungstheater allein ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Das sind die immer noch funktionierenden Grundbefindlichkeiten in den stark am Handwerk Brechts angelehnten kurzen Episoden. Der Regisseur lässt in der erzählerischen Tradition des Volkstheaters spielen – naiv und gerade in dieser Naivität "hinterfotzig", wie es in Bayern heißt. Mit hinterlistig ist dieses Wort nur sehr unzureichend übersetzt. Das Publikum weiß nicht, soll es lachen oder die Aussagen des Bilderbogens ernst nehmen.

Aufs Maul

Das Konzept funktioniert aber nur in den Szenen, in den das Absurde auch bis hinein ins Sprachspiel durchgehalten wird. Dort, wo Kroetz politisch korrekt wird, bleibt es nur eine Allerweltsverlautbarung. Diese Szenen langweilen. Etwa die mit dem Amtsrichter, der auf dem rechten Auge blind ist, Verständnis für die völkischen Parolen eines Volksgenossen zeigt, aber einen jungen Tropf die ganze Härte des Gesetzes spüren lässt. Der hatte das RAF-Zeichen an eine Brücke gepinselt.

Wunderbar dagegen die verschlungenen Gedankengänge einer Witwe am Grab ihres verstorbenen Gatten. "Beim Tod hört die Gastfreundschaft auf", empört sie sich. Auf einem deutschen Friedhof muss deutsche Ordnung herrschen. Deutsche Erde für deutsche Tote. Dagegen findet ein deutscher Obersekretärstyp: Türken sind oft die besseren Nazis. Blasphemisch-satirisch wird es in der Szene "Dachau Fantasie". In der Versöhnungskirche der KZ-Gedenkstätte haben Flüchtlinge Zuflucht gesucht. Sie werden mit Polizeigewalt vertrieben. Einer von ihnen hat sich in Christuspose ans Kreuz gehängt, wird heruntergeholt und weggetragen. Kommentar eines Polizisten: "Die scheren sich an Dreck um die Hunderttausende Menschen, die hier von den Nazis ermordet worden sind."

"Wenn man früher ein Stück von mir gesehen hat, ging man raus und musste zum Gewehr greifen", schwärmte Kroetz nostalgisch umflort in einem Interview. Nun, zur Knarre muss man nicht langen, nach der Aufführung seiner Szenen in Heidelberg. Kroetz hat dem Volk aufs Maul geschaut. Dieses Volk sind wir – und nicht immer nur die anderen.

 

Ich bin das Volk – Volkstümliche Szenen aus dem neuen Deutschland
von Franz Xaver Kroetz
Regie: Holger Schultze, Bühne: Martin Fischer, Kostüme: Erika Landertinge, Komposition: Andrew Zbik, Licht: Ralf Kabrhel, Dramaturgie: Lene Grösch.
Mit: Marco Albrecht, Benedict Fellmer, Hans Fleischmann, Marie-Therese Futterknecht, Steffen Gangloff, Raphael Gehrmann, Sophie Melbinger, Andreas Uhse, Olaf Weißenberg, Martin Wißner.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterheidelberg.de

 

Kritikenrundschau

"Eine große Stärke in Schultzes Inszenierung liegt – neben dem imposanten Bühnenbild – in der virtuosen Darbietung der zahlreichen Stimmen mit all den feinen Unter- und Zwischentönen, den raffinierten Doppelbödigkeiten und zielgenauen Pointen", schreibt Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (26.11.2017). Die einzelnen Szenen des Dramas, dem der Kritiker beklemmende Aktualität bescheinigt, wirken auf ihn "oft kabarettistisch überhöht bis klischeehaft – plakativer Höhepunkt ist die Gleichsetzung des gekreuzigten Jesus mit einem in eine Kirche geflüchteten Asylsuchenden". Thematisiert würden "fatale gesellschaftliche Phänomene und Strömungen von der anhaltenden Hitler-Bewunderung über die Rechtsblindheit in Polizei oder Justiz sowie die opportunistischen Medien und Schriftsteller bis hin zum ganz alltäglichen Faschismus, der selbst noch auf dem Friedhof anzutreffen ist." Auch die Schauspieler findet Vogt "bravourös".

Von einem "schillernden Kaleidoskop" schreibt Eckehard Britsch im Mannheimer Morgen (27.11.2017). Auf der aufwändigen Bühne von Martin Fischer lasse Regisseur Holger Schultze die Figuren "räsonieren, monologisieren und dozieren", hetzte sie "treppauf und treppab". Trotzdem kann der Abend dem Kritiker wohl nicht ganz die Frage beantworten, "inwieweit diese Kroetz-Reanimation aufrüttelt oder ob das Schauspiel als (halb)satirischer Konsumartikel goutiert wird" – auch wenn Schultze dieses Dilemma dem Eindruck des Kritikers zufolge "spielerisch kultiviert".

"Manche der Szenen besitzen eine ungeheure Treffsicherheit." Manche wirkten dagegen plump, abgestanden, sogar in der Auswahl von Holger Schultze, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (30.11.2017). Aber: Schultze treffe Kroetz’ Duktus perfekt. "Die Energie, mit der die insgesamt zehn Schauspieler (und zahlreiche Statisten) in dem Gestänge auf der Bühne herumholzen, ist faszinierend." Zuletzt fragt Tholl, ob man rechte Gesinnung einfach ungefiltert auf die Bühne stellen könne, und antwortet gleich selbst: "Man kann, man muss, die Wut legitimiert vieles. Spaß macht das nicht, wichtig ist es schon."

 

 

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