Was isst Liebe?

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 24. November 2017. Immerhin: Niemand muss ganz nackt auf die Bühne! Alle haben immer irgendetwas an. Wenn nicht volles Outfit, dann wenigstens schwarze Shorts, Stofffetzen, Binden um Brüste und Augen. Einmal spült Lulu ihr Kleid mit Wasser weg, es löst sich auf, und sie liegt nackt auf einem Tisch: auf den Zacken hunderter Speisegabeln. Aber sofort geht das Licht aus. Also: Kompliment! Armin Petras erspart seinem Publikum in der kleinen Spielstätte Nord des Staatstheaters Stuttgart doch tatsächlich (fast ganz) eine splitternackte Lulu. Danke!

Lulu3 560 ThomasAurin u Dramatis personae: Miles Persien (Live-Musik), André Willmund (Shunning), Ferdinand Lehmann
(Alva, Shunnings Sohn), Andreas Leupold (Dr. Goll), Sandra Gerling (Lulu), Paul Grill (Maler Schwartz),
Berit Jentzsch (Geschwitz) © Thomas Aurin

Dafür liefert er aber schon ganz am Anfang einen anderen Klischee-Fettnapf: "Lulu – Ein Rock-Vaudeville" beginnt mit Ravels "Bolero" – dem musikalischen Opfer eines 1979er-Films und seiner zentralen Bettszene. Vorher hat sich Lulu schon zaghaft auf die Schöße von Publikums-Männern gesetzt. Dann verschwindet sie hinterm lichten Plastikvorhang und windet sich tänzelnd zum "Bolero". Das wäre ja nicht weiter schlimm. Wenn bloß nicht das Ironie-Signal fehlen würde.

Und so gestaltet sich der ganze Abend. Geprägt von einer gewissen Lustlosigkeit an der Klarheit, an der Präzision, überhaupt am Stoff. Und das in Zeiten, da "Lulu" punktgenau auf eine international geführte Debatte über Sexisten, Grapscher, Vergewaltiger trifft. Das macht ratlos.

Lulus Geister

Frank Wedekind legt in seinem Skandalstück eine durch Scheinmoral korrumpierte Gesellschaft frei. Lulu, in Armut geboren, freizügig, triebhaft, abhängig, ausgebeutet, Verführerin, Sklavin. Dann der Befreiungsschlag: Ihr Körper wird zum Instrument, der Männer zerstört. Sie mordet und wird dann selbst gemeuchelt. In Petras' Sicht der Dinge schrumpft sie zur Karikatur zusammen. Klar, er inszeniert nicht Wedekinds Originaltext, sondern den Song-Zyklus "Lulu – Ein Rock-Vaudeville" von The Tiger Lillies, einer englischen Band, die sich der Theatermusik verschrieben hat, mit anarchisch-britischem Humor auf eine Stilmixtur aus Kunstmusik, Punk, Kabarett, Zirkusklängen, Epischem Theater, französischem Chanson setzt.

In ihrer "Lulu"-Version haben die Tiger Lillies in 18 Songs entscheidende Themen des Stücks amalgamiert, das Resultat ist in vielem der Brecht-Weillschen "Dreigroschenoper" ähnlich. Die Tiger-Lillies-"Lulu" stellt aber zwischen den Songs eine Menge Leerplätze zur Verfügung. Petras füllt sie nun mit Klamauk, zur Schau gestellter Inhaltslosigkeit, Fremdtexten. Wedekinds Skandalstück geistert im Raum herum, ist aber nicht zu fassen.

Lulu2 560 ThomasAurin uSandra Gerling (Lulu) © Thomas Aurin

Sandra Gerling als Lulu ist dabei gänzlich unterfordert. Robbt zum Song "Bird in a cage" mit lahmen Beinen über die leere Bühne – die durch zwei kleine Showbühnen mit Band-Equipment gerahmt wird –, klettert auf den Flügel und stülpt sich ein blutrotes Tüllkleid über. Lässt sich beim "Mirror"-Song umrundet von Spiegeln zu einer bleichen, blutigen Leiche schminken. Performt mit riesigem Federschmuck auf dem Kopf und durchaus witzigem Stimmeverstellen das Märchen vom König, der seine eigene Tochter heiraten will. Es gibt noch weitere Lulus, die über die Bühne irrlichtern. Sie tun nichts zur Sache.

Macho-Klischee-Parade

Die Männerfiguren – vom Maler Schwartz bis zu Jack the Ripper – sind nicht weniger Karikatur. Die Zeit zwischen den Songs – professionell gesungen vom Multiinstrumentalisten Miles Perkin oder dilettantisch von Ensemble-Mitgliedern – füllt sich mit Nonsens: Man tanzt minimalistisch mit Zylindern auf dem Kopf. Männer tollen auf allen Vieren herum und mimen gierig hechelnde Hunde. Ein Schlechte-Witze-Erzähler mit neonfarbenen Jonglier-Keulen und Gewehr ("Treffen sich zwei Schnecken im Wald …") und ein Macho-Rapper ("Alle Fotzen ohne Hirn lutschen meinen Schwanz") treten auf. Immerhin gibt Paul Grill als Maler Schwartz eine lustige Kunst-Performance, in der er die Farbe auf seinen Körper schmiert und sie dann durch Sprünge gegen die Leinwand dorthin befördert. Ist aber aus "Fack ju Göhte 3" geklaut. Und dann sprechen alle im Chor mehrmals "Liebe ist …", was unbeantwortet bleibt und an die kitschigen Cartoons mit dem pummeligen Pärchen erinnert. Oder ist "Liebe isst" gemeint? Würde besser passen zur Monstre-Tragödie.

Lulu1 560 ThomasAurin uSandra Gerling (Lulu), André Willmund (Shunning) © Thomas Aurin

Zieht man den Dilettantismus der Singenden ab, wird den Tiger-Lillies-Songs ein wenig das Anarchische ausgetrieben, auch wenn sie oft lustig mit Toy-Piano und Alltagsgegenständen begleitet werden. Die Darsteller*innen zeigen freilich, dass sie auch instrumental etwas drauf haben: André Willmund etwa spielt ganz fantastisch Trompete.

Aber so aufgedreht, so schrill, so laut das Ensemble auch performt, es kann die schockierende Lustlosigkeit des Regisseurs nicht überspielen. Es ist Petras' letzte Spielzeit in Stuttgart. Und er zeigt ganz deutlich, dass er auf diese Stadt keinen Bock mehr hat.

Lulu
Ein Rock-Vaudeville nach Frank Wedekind mit Musik von The Tiger Lillies
Regie: Armin Petras, Musikalische Leitung, Bearbeitung und Einstudierung: Miles Perkin, Choreografie und Körpertraining: Berit Jentzsch, Bühne: Julian Marbach, Kostüme: Annette Riedel, Licht: Norman Plathe, Dramaturgie: Carmen Wolfram.
Mit: Sandra Gerling, Paul Grill, Berit Jentzsch, Caroline Junghanns, Ferdinand Lehmann, Andreas Leupold, André Willmund, Miles Perkin.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Von einer "gewollt schäbigen, abgefuckten, in jeglicher Hinsicht alt aussehenden Gothic-Show" spricht Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (27.11.2017). Zwar zeige sich das das siebenköpfige, in bizarren Fantasiekostümen steckende Ensemble musikalisch von seiner besten Seite, was diesen Abend zu einem lohnenden Konzertabend machen könnte, "wäre da nicht diese störende Kleinigkeit einer immer wieder aus dem Ruder laufenden Regie". Hier nämlich hat der Kritiker den Eindruck, "dass Armin Petras der Einfälle, die er gebiert, nicht Herr wird – und dass es weit und breit keine Dramaturgie gibt, die ihm in die abseitige und konzeptlose Bilderparade dieses abgestandenen Moritaten-Stadels fahren könnte oder wollte. Deshalb hilft nur eines: Augen zu, Ohren auf und durch!"

"Die Orgie des Unscharfen, Undeutlichen, aufgedreht Nichtssagenden wanzt sich an das heran, was der Schauspielintendant für 'Kult' halten mag", schreibt Martin Mezger in der Esslinger Zeitung (27.11.2017). Dafür begehe Petras' "Missbrauchs-Varieté unter dem Allerwelts-Alibi der Performance mutwillige Sabotage an der theatralischen Kommunikation." In schweifender Beliebigkeit hangele sich der Abend über die Runden: "ein Pop-up-Arrangement konfuser szenischer Einzelbelichtungen, das die Darsteller zu lebenden neben den toten Requisiten erklärt (eine ganze Batterie von Grabkerzen darf auch nicht fehlen). Bei allem Respekt vor Profi-Musiker Miles Perkin und dem zu Multi-Instrumentalisten verwandelten Ensemble."

Einen "finster-grotesken Karneval der Bilder, manchmal betäubend, mitunter überladen" gibt Thomas Morawitzky in den Stuttgarter Nachrichten (27.11.2017) über diesen Abend zu Protokoll, "der ein wenig lang war, verwirrte, auch einmal verärgerte, dann wieder fesselte, von dem ein paar Bilder bleiben, und viel Musik."

 

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