Goldregen über verlorenen Existenzen

von Jan Fischer

Göttingen, 24. November 2017. Kate Tempests Texte hört man am besten von der Spoken-Word-Künstlerin selbst. Diese tiefe Stimme, die diese spielerischen Texte voller Wut und emphatischer Klugheit in schnoddrigem Nordlondoner Akzent dahinflowen lässt. Andererseits kann Tempest ja auch nicht überall sein. Von daher ist es den drei Darstellern in ihrem Stück "Wasted", das im Deutschen Theater Göttingen erstmals übersetzt aufgeführt wird, hoch anzurechnen, dass sie es versuchen.

Während der Großteil des Stücktexts in der Inszenierung tatsächlich auf deutsch gespielt wird (Übersetzung: Judith Holofernes), gibt es in Johannes Rieders Regie fünf Passagen, in denen ein Chor auf englisch Lyrik der Autorin spricht. Hier versuchen die Darsteller – Benedikt Kauff, Dorothée Neff und Gabriel von Berlepsch – in Tempests unnachahmlichem Duktus und Akzent zu sprechen. Um dann in den Handlungspassagen wieder ins Deutsche zu wechseln, während der englische Stücktext in Übertiteln projiziert wird.

Voller Ecstasy-Liebe

Die Bühne ist in "Wasted" eine größtenteils leere. Die Darsteller laufen in Klamotten umher, die aussehen, als seien sie aus den unschuldigen Zeiten der Love Parade übrig geblieben. In einer Partyszene wird der ganze Raum mit Stroboskoplicht zugeblitzt, während sich drei gigantische aufblasbare Figuren entfalten, aber auch schnell wieder in sich zusammenfallen; und am Ende regnet es für die Bühne – und die erste Publikumsreihe – Goldschnipsel.

Wasted2 132 560 IsabelWinarsch uDie Love-Parade-Outfits sind schon zerrissen und verwittert, die Jugendträume auch: "Wasted" in
Göttingen © Isabel Winarsch

Ansonsten aber gibt es in der Black Box nicht viel – außer eben viel Platz für den in zwei Sprachen sich spiegelnden Stücktext. In dem geht es um drei Freunde – Dan, Ted und Charlotte –, die sich in ihrer Jugend kannten und am zehnten Todestag des vierten Menschen im Freundeskreis, Tony, ihre alten wilden Drogentage wieder aufleben lassen. Ted hat eine Freundin und einen sicheren Job in einem Büro, Charlotte ist Lehrerin in einem Problemviertel, Dan hat eine Band und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Und eigentlich will Dan was von Charlotte, wie früher schon, aber sie weiß genau, dass Dan ihr nicht gut tut. Am Ende der Party jedenfalls reiben sich alle verschwitzt und voller Ecstasy-Liebe aneinander, bevor sie sich wieder auseinanderleben.

In der Gleichgültigkeit des Systems

Es ist ein für Kate Tempest typisches simples Setting, eine typische simple Geschichte über Menschen, die irgendwo in der Nachbarschaft ihren unsichtbaren Geschäften nachgehen. Es sind genau solche Menschen, die es Tempest angetan haben – weil sich an ihnen am besten die Gleichgültigkeit des Systems, in dem sie leben, zeigen lässt. Denn alle drei Freunde sind von ihrem Leben frustriert. "Manchmal sehe ich nachts diese ganzen vertanen Tage wie eine Traube am Fußende meines Bettes stehen, und sie lachen mich aus", sagt Ted, wenn er über seine Arbeit spricht. "Ich stehe vor meiner Klasse und fühle mich, als würde ich ertrinken", sagt Charlotte. Und Dans Band geht es auch nicht gut: "Wir haben im Moment keinen Drummer, aber letztens haben wir coole T-Shirts gemacht."

Dabei hatten sie einmal große Träume, haben hinten im Bus Gras geraucht und "früher hat sich alles, was wir gemacht haben angefühlt, als hätte es noch nie jemand vor uns gemacht". Das ist die Fallhöhe, an der sich Tempest in ihrem Text abarbeitet – Menschen, die voller Freiheits-Träume als Könige der Stadt in ein System geworfen werden, dem all das egal ist. Hauptsache, das Geld stimmt, und glücklich sind alle nur im Drogenrausch. "This", sagt der Chor am Anfang, "is the tragedy of London."

Probleme, Schuldgefühle und IKEA

Regisseur Johannes Rieder hat gut entschieden, dem Text gleich doppelt Raum zu geben. Denn obwohl die Darsteller die Rollen spielen, sind die Figuren selbst nur sehr grob geschnitzt, dienen eher als Vehikel, als dass sie tatsächlich Individuen sind. Ja, Dan ist ein wenig schmierig, Ted etwas verknöchert, Charlotte ein bisschen ängstlich und gleichzeitig spontan. Letzlich aber sind sie so reduziert wie die Bühne. Der gedoppelte Text dagegen ist überpräsent und präzise vor allem dadurch, dass er einer Arbeiterklasse direkt aus dem Mund heraus poetisiert ist.

Über die Übersetzungs-Ebene aber wird auch schnell klar, dass es hier nicht um Großbritannien geht, nicht um eine bestimmte Menschengruppe in einem bestimmten Land. Es geht vielmehr um ein Lebensgefühl von Menschen Anfang bis Mitte 30, die langsam nicht nur einsehen, dass ihre Jugend vorbei ist, sondern dass auch all die glitzernden Versprechen davon, dass man sein könne, was man wolle, irgendwann an der Realität zerschellen müssen. Und dann weiß man noch nicht einmal, wen man deshalb beschuldigen kann.

Wasted1 39 560 IsabelWinarsch u Menschen um die dreißig: Kate Tempests drei Freunde gespielt von Benedikt Kauff, Dorothée Neff,
Gabriel von Berlepsch © Isabel Winarsch

Doppelt tragisch wird's dadurch, dass die drei Schuldgefühle entwickeln, dass sie diese Probleme überhaupt haben. Beim Katerfrühstück im Café liest Dan – eingewickelt in die Überreste einer Aufblasfigur – die Zeitung, sagt: "Wir haben es eigentlich ganz gut, im Vergleich." Denn auch wenn sie zu einer unteren Schicht gehören, nur kurz über dem Existenzminimum: Die drei haben Arbeit, sie haben Wohnungen, sie haben genügend Geld für Alkohol und Drogen.

Das einzige, was sie eben nicht haben, ist irgendeine Form von eingelöstem Versprechen aus ihrer Jugend. "Ich werde nie jemandes Held sein", sagt Ted. Und bricht dann, verkatert, kaputt gefeiert, mit seiner Freundin zu IKEA auf, um Vorhänge auszusuchen, dabei ihre Hand zu halten, so zu tun, als interessierten ihn die Vorhänge, weil auch das die Liebe ist: "Wenn man einmal eine Entscheidung getroffen hat, dann bleibt man dabei", sagt er, und zieht, tausend kleine Entscheidungen im Rücken, gegen sich selbst ins Feld.

Kleine, feine Akzente

Würde es nicht immer schief gehen, jemanden als "Stimme einer Generation" zu bezeichnen, man müsste Kate Tempest so nennen. Johannes Rieder gibt in seiner minimalistischen Inszenierung dem Text viel Raum und fährt Schauspiel und Kulissen fast zum Nullpunkt zurück. Der poetische, hellsichtige, gegenwärtige Text trägt die Inszenierung dabei sehr gut, wobei zum Beispiel die Aufblasfiguren mit Stroboskop kleine, feine Akzente bilden. "Our times are strange / as all times are", sagt der Chor. Und Goldregen erhellt glitzernd die Luft über verlorenen Existenzen.

Wasted
von Kate Tempest, deutsch von Judith Holofernes
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Johannes Rieder, Dramaturgie: Verena von Waldow, Bühne und Kostüm: Thomas Unthan.
Mit: Benedikt Kauff, Dorothée Neff, Gabriel von Berlepsch.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.dt-goettingen.de

 

Kritikenrundschau

"Das teils humorvolle Spiel der Darsteller stellt das Stück weniger traurig und düster als die Vorlage dar", so Madita Eggers im Göttinger Tageblatt (27.11.2017). "Sie vermitteln eine reelle Hoffnung auf Veränderung." Mit ihrem harmonierenden Charme und den auffälligen Kostümen nehmen die Spielenden die Bühne ein. "Die anfängliche dargestellte Oberflächlichkeit, beispielsweise als Danny von seinem neuen Drummer erzählt, den er aufgrund seiner 'langen Haare und Tattoos' für fähig hält, verwandelt sich in Ehrlichkeit. Es seien die kleinen Momente im Leben, aus denen man 'das Beste herausholen' muss."  

Kate Tempest habe in "Wasted" "Auszüge ihrer Gedichte, Performances, Roman-Elegien und anderweitig hervorbrechende Gedankenströme locker zu ihrem ersten Theaterstück" formatiert, so Jens Fischer in der taz (13.1.2018). Tempests Versuche, die Gefühls- und Gedankenverwirrung ihrer Generation popliterarisch zu fassen, funktionierten "einfühlsam in der Inszenierung Johannes Rieders, der die Wortsalven der Alltagsmelancholie recht unverstellt feiert und sich wie die Autorin voll und ganz auf die Figuren als Beweismittel einlässt, wie Sinnsucherei im Leerlauf rotiert".

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