Das Handy ist der beste Bauchredner

von Ute Nyssen

Paris, Juni 2008. Will man in Paris ins Theater, so empfiehlt es sich, über die zahllosen Streiks auf dem Laufenden zu sein, sonst passiert es immer wieder, dass man vor geschlossenen Métrogittern steht. Das kann lästig sein für die Besucher, aber schlimmer noch: ans Eingemachte gehen bei den Theatern, denn ihren Einnahmeausfall bei leeren Häusern gleicht keine Subvention und keine Versicherung aus.

Dem derzeitigen Streik der Gymnasiasten hätte ich mich jedoch angeschlossen. Denn er richtet sich gegen die drastische Einsparung von Lehrern, wobei insbesondere das Wahlfach Theater betroffen ist. Dieses Angebot der Schulen erfreut sich höchster Beliebtheit, zumal bekannte Regisseure oder Schauspieler die praktische Arbeit begleiten. Das Ergebnis wird bei einem landesweiten Wettbewerb vorgestellt, die beste jährliche Produktion preisgekrönt.

Laufkundschaft, die sich auf Mundpropaganda verlässt

Dieses Fach würde aus dem Schulalltag verschwinden, wenn die Regierung Sarkozy in den nächsten vier Jahren wie geplant bis zu 91.000 von derzeit 735.000 Lehrerstellen einspart. Einer meiner Gewährsleute, der 17jährige Schüler Albert, brachte es spöttisch auf den Punkt: "Die wollen, dass wir werden wie sie selber sind". Mit Kultur nix am Hut. Doch nicht nur das kulturelle, auch das wirtschaftliche Talent dieser Regierung, spiegelt sich in der Kurzsichtigkeit ihrer Entscheidung.

Dazu ein kurzer Zwischenruf: Man muss wissen, dass der Kartenverkauf in Paris anders organisiert ist als im deutschsprachigen Raum mit seinen Abonnements, Kulturgemeinden, Theaterbusfahrten etc. Hier hingegen besteht der überwiegende Teil der Besucher aus Laufkundschaft, die sich auf individuelle Interessen oder auf Mundpropaganda verlässt. Presse und Medien spielen, schon quantitativ, eine geringere Rolle als in Deutschland, wo jenseits des Inhalts der Kritik die schiere Häufigkeit der Hinweise auf einen Theaterabend, ob per Presse, Funk oder Fernsehen, dennoch ihre Wirkung tut. Dass der Einfluss der französischen Besprechungen im Schauspiel unbedeutend ist, zeigt sich auch daran, dass sie oft kurz vor Ende der Stücklaufzeit überhaupt erst erscheinen.

Sensibilisierung fürs Medium

Zurück zu den Schülern: Ihr Unterricht will nicht der Heranbildung von Amateurschauspielern dienen, wohl aber sensibilisiert er für das dramatische Medium und baut ständig den Humus der Theaterbegeisterung in der französischen Gesellschaft neu auf. Dass die Theater in Paris so erstaunlich gut besucht sind, fällt nicht vom Himmel. Albert und seine Klasse gehen seit ihrer "Schulung" begeistert ins Theater. Spart man da ein, so hat das langfristig wirtschaftliche Folgen. Zwar zählt ein Verlust von Arbeitsplätzen an den Bühnen für Politiker wenig, aber da in Paris 40 Privatbühnen einen gewichtigen Anteil des Angebots ausmachen, dürfte ein Schwund von zahlenden Kunden – die Preise liegen zwischen 15 und 60 Euro – doch nicht ganz négligeable sein.

Es handelt sich bei den Privattheatern keineswegs nur um Boulevardbuden, denn es verkehrt hier ein Publikum, dessen Bildungsniveau anspruchsvollere Stücke als die mit der abgegriffenen, privaten Dreiecksgeschichte fordert. Der Erfolg von Yasmina Reza und die Unterhaltungskomödien von Eric-Emanuel Schmitt (beide hier vornehmlich an nicht-subventionierten Bühnen) beweisen es; und neben diesen bekanntesten Namen gibt es weitere zeitgenössische Autoren.

Texte zur Lage der Nation

So passt in das derzeitige politisch-ökonomische Klima das Stück LES RICHES REPRENNENT CONFIANCE von Louis-Charles Sirjacq, der 2008 als bester Autor für den Theaterpreis Molière nominiert wurde. Regie bei der Uraufführung 2007 an dem Privattheater Poche Montparnasse führte Etienne Bierry. Die Laufzeit wurde mehrmals verlängert, obwohl zum Beispiel Le Monde sich eher mokant äußerte, aber dazu: siehe oben.

Sirjacqs Hauptfigur ist der Vermögensberater Bruno Sobin. Vorgeführt werden die verschlungenen Machenschaften einer grauen Eminenz, einem Phänotyp unserer Epoche, dessen gierige Spielbesessenheit unser aller Existenz ruinieren kann – das Desaster der amerikanischen Immobilienspekulation war ja eine solche Probe aufs Exempel. Im Stück erleben wir die Konkursgeschichte eines großen Familienunternehmens, spannend, cool und sarkastisch aufgeblättert.

Großes unbekanntes Genre

Dieses Genre gibt es in der deutschsprachigen Dramatik nicht. In Frankreich hat es Tradition mit Autoren wie Henry Becque, Sacha Guitry, Edouard Bourdet – im besten Fall grüßt um fünfzig Ecken Molière, und wenn man übrigens der fünften Figur in Yasmina Rezas GOTT DES GEMETZELS zuhört, dem Handy, das wie ein Bauchredner durch die Figur des Anwalts spricht, so erklingt auch dort derselbe spöttische Ton angesichts schmutziger Firmenmanöver. Sirjacqs Geschäftemacher Sobin wird ausgebootet von der neuen Generation, seinem "intellektuellen" Adlatus. Dessen gut gelaunter Schauspieler legt als Beleg der Cleverness dieser Figur eine Sexszene aufs Parkett, deren adrette Eleganz perplex macht.

Wenn es dann noch gelingt, wie hier am Poche Montparnasse, auf schmalem Raum ein ausgedehntes Büro zu suggerieren, dann sitzt man im echten Profi-Theater. Aus der Beengtheit entwickelt sich ein Aufführungsstil, der durch Tempo, durch die Kunst des Pointen-Servierens und durch den Einsatz von erotischem Charme die räumliche Eingeschränktheit zu kompensieren weiß und der charakteristisch ist für die meisten Privattheater, die fast alle nur über kleine Bühnen mit sehr geringen technischen Möglichkeiten verfügen. Im Poche Montparnasse wurde ebenso erfolgreich LES DIRECTEURS von Daniel Besse uraufgeführt, ein ätzendes, preisgekröntes Stück über Mobbing am Arbeitsplatz. Es schaffte sogar den Sprung nach Deutschland.

Schlagfertigkeit, alltägliche Erfahrungen, aktuelle Themen

Typisch für das Genre sind die knappen Szenen mit schlagfertigen Dialogen, mit denen hier eine hässliche Angestelltenmentalität zwischen Subalternität und gnadenlosem Rausboxen geschildert wird. Besse greift auch in anderen Sittenkomödien auf alltägliche Erfahrungen zurück, sehr komisch zum Beispiel mit LA HYPOTHÈQUE, wo schrill die Ängste zu Wort kommen, die jedermann verfolgen, der eine Hypothek abzahlen muss. Und 2005 schrieb er für das Petit Théâtre, ein Privattheater am Montmartre, LE MEILLEUR PROFESSEUR. Ein Elitegymnasium soll den besten Lehrer für einen repräsentativen Fernsehauftritt benennen, seine Aufgabe besteht im Lob der Werte des französischen Schulsystems.

Diese ministerielle Schnapsidee heizt den Druck der Eltern auf die Schule an, vergiftet das Klima unter den Schülern und feuert auch den ohnehin schamlosen Konkurrenzkampf der Lehrer neu an. Es ist der persönlich und fachlich fragwürdigste Lehrer, der bei dem Wettbewerb den Sieg davonträgt, nicht der beste. Ein Stück mit einem nur scheinbar banalen Problem, das vielen Theaterbesuchern auf den Nägeln brennt. Die oben erwähnten Streiks führten anschaulich vor Augen, welche Daueraktualität das Thema Schulsystem in Frankreich hat. Auch wenn die Figuren, nach dem Tierfabelmodell von Ben Jonsons VOLPONE, mit Namen wie Schwein, Albatross, Truthahn, den Schauspielern manchmal zu wenig Entfaltungsspielraum ließen, blieb man immer gepackt.

Boulevard ist nichts Ehrenrühriges

Neben Namen wie Besse und Sirjacq, der auch als Übersetzer von Brecht, Wedekind, Jelinek bekannt ist, neben Yann Reuzeau, wäre noch Véronique Olmi zu nennen, die zumindest gute Rollen schreibt, oder Samuel Benchetrit. Dieser verfasste zum Beispiel für Jean-Louis Trintignant mit MOINS DEUX eine liebenswürdige Geschichte von zwei todkranken alten Männern, die aus dem Krankenhaus entwischen, um für Fremde ein bisschen Schicksal zu spielen. Dass ein Star wie Trintignant, dem die Rolle natürlich auf den Leib geschrieben wurde, dem Autor zusätzlich zum Erfolg verhilft, ist hier nichts Ehrenrühriges und gilt ebenso für die Stücke von E.E. Schmitt, die zum Beispiel durch Danielle Darrieux noch an Attraktivität gewinnen.

Der Beitrag des französischen Privattheaters zum Genre ist nicht zuletzt von Bedeutung, weil hier zumindest im Glücksfall den Autoren, anders als im subventionierten Theater, ein finanziell passables Auskommen winkt. Was die Zuschauer betrifft, die die Privattheater frequentieren, so befinden sie sich im besten Alter, sind weder arm noch reich, berufstätig und gegenüber Bühnen wie etwa der Comédie Francaise skeptisch. Ihre bevorzugten Stücke zeichnen sich durch gesellschaftliche und im weiteren Sinne politisch aktuelle Fragestellungen aus; metaphysische Probleme oder gar Weltschmerz interessieren nicht.

Teil eines breiteren Spektrums

Ihre trocken-witzige Sprache erlaubt inszenatorisch keinen Musikteppich, keine theatralische Aufgeblähtheit, keinen Pop à la Regietheater und erfordert von den Schauspielern vor allem Präzision. Vom Boulevardtheater wiederum unterscheiden sie sich dadurch, dass sie grundsätzlich dem Publikum nicht nach dem Maul reden, die Härten der sozialen Realität nicht ausblenden, und es ist bedauerlich, dass man ihre nüchterne Darstellung des Alltags, statt der Verschnitte von Film und Roman, nur selten auf deutschen Bühnen antrifft. Natürlich machen diese gelungenen Stücke, die sich mit den Mückenplagen des Tages befassen, nicht das ganze Spektrum des heutigen französischen Stückangebots aus, es gibt auch die, die eher von den subventionierten Bühnen bevorzugt werden – von ihnen ein andermal.

 

Ute Nyssen
Dr. phil., Bühnenverlegerin, mit Jürgen Bansemer Gründung eines eigenen Theaterverlags. Herausgeberin mehrerer Buchausgaben, u.a. mit Stücken von W. Bauer, E. Jelinek, B. Behan, Th. Jonigk. Veröffentlichungen in Zeitschriften und Rundfunk.