Die Mathematik des Unglücks

von Christian Muggenthaler

Regensburg, 2. Dezember 2017. Kommt das Leben erst einmal ins Minus, wird das Schicksal ein absolut ausbruchssicheres Gefängnis. Die Geschichte, die Lorenz Langenegger in seinem Stück "Nord West 59" erzählt, handelt von einem Zirkusartisten, der unverschuldet in die Mühlen der Justiz und in Haft geraten ist. Er wird erwischt: mit Bargeld im Lieferwagen und Flüchtlingen im Auto. Für beides kann er nichts, wie sich zeigen wird. Dennoch wird aus seiner Unschuld auf einer zweiten, fiesen Handlungsebene Schuld, eine Schuld, an der er und sein persönliches Umfeld in Zukunft noch zu bezahlen haben werden. Das Stück, eingeladen in diesem Jahr zum Autorenwettbewerb des Heidelberger Stückemarkts, wurde jetzt am Theater Regensburg uraufgeführt und zeigt einen schmerzhaften Prozess, in dem der Strafe das Vergehen erst folgt.

Das Schicksal, dieser miese Köter

Langeneggers Text ist eine Sprachpartitur, in der sich Gegenwart und Vergangenheit permanent durch- und überkreuzen. Es ist keine eigentliche Handlung, die sich da auf der kleinen Bühne des Hauses abspielt, sondern ein Sprechen über Handlungen und deren Varianten in Sätzen, die sich in Volten wiederholen und mit immer neuen Konnotationen anders zusammenfügen. So, wie sich eben im Leben des nunmehr vorbestraften Marionettenspielers Mika Vergangenheit und Gegenwart ungut verknotet haben: Er, der sein geringes Geld damit verdient hatte, alle Fäden in der Hand zu haben, ist eingesperrt in einem Gefängnis, dessen Steine andere zusammengefügt haben.

NordWest59 2 560 Jochen Klenk uWenn das Schicksal durchdreht: Zeynep Buyraç, Josef Simon und Deniz Baser in "Nord West 59".
© Jochen Klenk

Des Stückes Kern heißt Schicksal, dieser alte, miese Köter: Es pisst einen an, ohne dass man wüsste, warum. Zu Mikas Schicksal tragen viele bei: seine (Ex-)Freundin Conny, sein (Ex-)Freund Flo, sein (Ex-)Zellengenosse Mats und zwei Reisende aus Not, Rashid und Alia. Die permanente Wiederholung von Sprachsequenzen in der Text-Partitur bewirkt, dass aus dieser Schicksalserzählung regelrecht mathematische Gleichungen werden, deren Unbekannte stets bei Mika herauskommen: Man hat ihn schlicht verarscht. Und tut das weiter. Es geht um Geld, das erst zu viel ist (Mika wird als vermeintlicher Fluchthelfer verurteilt) und dann zu wenig (Mika wird in eine Erpressung verwickelt). Dass nun dieses Sprachspiel in Regensburg jene beeindruckende, ja qualvolle Wucht entwickelt, die ihm innewohnt, liegt an der ebenfalls fast mathematischen Präzision der Darsteller und an der sehr eleganten Regie von Charlotte Koppenhöfer.

Farbig ausgemaltes Unglück

Denn jede Phase und jede Passage des Textes bekommt in dieser Inszenierung Atemluft und Unterstrom, erhält starke Konturen durch Zu- und Abgewandtheit und Statuswandel der Figuren, Einblicke in deren emotionalen Unterbau, pointierte Zeichnungen der Persönlichkeiten: Weit über seine abstrakte Anmutung als düsteres Schicksalsschnittmuster hinaus erhält das Stück so eine starke menschliche Dimension und Farbigkeit. Das Bühnenbild (von Julie Weideli) ist geprägt von drei fahrbaren, grauen Mauerteilen, auf die melancholische Grundstimmung vermittelnde Videosequenzen (von Arpad Dobriban) projiziert werden; die Kostüme (von Maria Preschel) sind in Weiß und Grau gehalten.

NordWest59 3 560 Jochen Klenk uGraue Eminenz des Unglücks: Robert Herrmanns (re.) als Mats, Deniz Baser als Mika © Jochen Klenk

Es ist dieser farbliche Minimalismus, aus dem die besagte Farbigkeit der Inszenierung herausblüht. Koppenhöfer und Ensemble malen Unglück, bis hin zu einer atemberaubenden Alptraumszene als Zusammenbruch einer Ordnung, die sich ohnehin nur jeder zurechtbehauptet hat. Denn die Unaufrichtigkeit aller um ihn herum ist die Gewähr für Mikas Unglück. Den spielt Deniz Baser hinreißend als trotz allem zutiefst freundlichen Menschen weit ab von Wut und Rache. Zeynep Buyrac als Conny und Robert Herrmanns als Mats geben ihren Figuren deutlich Charisma, die eine als Pragmatikerin des Alltags, der andere als Pragmatiker des Verbrechens. Josef Simon ist ein vortrefflich windelweicher Flo, und Philipp Quest und Verena Maria Bauer verkörpern eindringlich das Flüchtlingspaar Rashid und Alia, dessen alltägliche Nöte nebenbei ebenfalls thematisiert werden.

 

Nord West 59
von Lorenz Langenegger
Uraufführung
Regie: Charlotte Koppenhöfer, Bühne: Julie Weideli, Kostüme: Maria Preschel, Video: Arpad Dobriban, Musik: Paul Neidhart, Licht: Martin Stevens, Dramaturgie: Anastasia Ioannidis.
Mit: Deniz Baser, Robert Herrmanns, Zeynep Buyrac, Josef Simon, Philipp Quest, Verena Maria Bauer.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theater-regensburg.de

 

Kritikenrundschau

Lorenz Langenegger setze textkompositorisch auf eine Art 'Cut-up-Technik'. Er werfe die Erzählfäden so aus, dass die Sprechrollen wie Infopakete daherkommen, oft zeitlich ungeordnet oder auch unsortiert. Es stelle sich so etwas wie systemische Überforderung ein, schreibt Peter Geiger in der Mittelbayerischen Zeitung (3.12.2017). Die metaphernstarke Übertragung auf die Bühne lasse jedoch alle inhaltichen Mäkelein vergessen. "Was die sechs Schauspieler hier als geschlossene Ensembleleistung abliefern, ist von manufakturhafter Präzision." Das Team arbeite den sprechopernhaften Text mit unbedingtem Willen zur Perfektion ab. Man dürfe sich freuen über eine "beeindruckende Theatererfahrung der synästhetischen Art".

"Dank Koppenhöfers kluger und präziser Regie und dem unaufdringlich eindringlich agierenden jungen Ensemble gelingt es der Inszenierung eine flirrende Spannung zu erzeugen, die über 80 Minuten bis zum finsteren Ende anhält", schreibt Petra Hallmayer in der Süddeutschen Zeitung (6.12.2017). Lorenz Langeneggers literarisches Talent zeige sich "nicht in der löchrig konstruierten, reichlich kruden Geschichte", sondern Langenegger verstehe es geschickt, mit wenigen Strichen atmosphärisch dichte Momentaufnahmen zu schaffen "und in der fragmentierten Sprache der Figuren ihre missglückende Kommunikation und Entfremdung aufscheinen zu lassen", so Hallmayer. Charlotte Koppenhöfer inszeniere den Text "mit feinem Gespür für Nuancen", und "die Schauspieler loten die Musikalität des Textes sensibel aus und geben den skizzierten Figuren ohne grelle Dramatisierung Konturen."

 

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