Die Leinwand des Hirns

von Kaa Linder

Zürich, 10. Dezember 2017. Gestatten, die Protagonisten dieses Theaterabends sind: eine Hühnerrupferin, ein Huhn, eine Feder und der Schaft der Hühnerfeder. Sie gehen zusammen über einen Dorfplatz und tragen etwas Schweres, was mag es sein – ein Sarg vielleicht? Vorerst wird zur Beantwortung dieser Frage keinerlei Werkzeug bereitgestellt. Später übrigens auch nicht.

Museum für vergessene Märchenfiguren

In einem rosarot tapezierten Raum (Bühne: Dominik Freynschalg) ist ein Stück DNA-Doppelhelix zu sehen, groß wie zwei über Kreuz geschlagene Rutschbahnen, ausgekleidet mit weißem Polster. Das Gebilde erinnert gleichermaßen an Marzipan wie an pulsierende Blutgefäße, ist ein Innen und ein Außen zugleich. Eine ausgestopfte Eule wacht über der Szenerie, ein Gummibaum markiert Wachstum, ansonsten ähnelt dieser Raum einem verstaubten Museum, in welchem vergessene Märchenfiguren vor sich hindösen.

Schlaechter I 560 Raphael Hadad uZwischen Marzipan und Blutgefäß – die Bewohner der Doppelhelix: Julia Kreusch, Lisa-Katrina Mayer (oben), Vreni Urech (unten), Robert Rožić © Raphael Hadad

Den Wänden entlang sitzen kerzengerade in barocken Gewändern (Kostüme: Noelle Brühwiler) die vier eingangs genannten Protagonisten. Im hochgeschlossenen, schwarzen Kleid beginnt eine Frau (Julia Kreusch) von einem Raum zu erzählen, welcher derart gut eingerichtet ist, "man möchte sich die Gesamtheit der Verdauungsorgane hinausstülpen, so gut ist es eingerichtet. Man möchte ihm Tribut zollen, indem man sich ausverleibt. Es ist so gut eingerichtet, dass es keinen Makel aufweisen kann. Es ist ihm unmöglich. Selbst wenn ich so gerne möchte, die Falten sind in den Vorhängen vorteilhaft, in meinem Gesicht nicht."

Vom Konsumtaumel über die Reproduktionsmedizin bis zum Holocaust

Man sollte als Zuschauerin keinesfalls dem Bedürfnis nachgeben, in dem sprachgewaltigen Orkus von Katja Brunner, Auftragswerk für das Schauspielhaus Zürich, etwas Nachvollziehbares – also einen Halt – zu suchen. Geschweige denn, dem rasenden Tempo, mit welchem die Dramatikerin ihren ausufernden Text in Wortbildern und auf verschlungenen Assoziationsumwegen in genau denjenigen hineinmanövriert, irgendeine Form von Widerstand entgegenzusetzen. "Den Schlächtern ist kalt oder Ohlalahelvetia" ist eine Suada auf die Gegenwart, die sich Wirklichkeit nennt. Da hat alles Platz vom Konsumtaumel bis zur Reproduktionsmedizin, von stinklangweiliger Normalität bis zu diesem rätselhaften Raum, der "eine gute beste Gutbürgerlichkeit" darstellt. Eine muntere Rutschpartie ist das, die von der Konsultation beim "Arztmensch" über das Warten in einer Schlange, wo sich alle gegenseitig zuwinken, bis zum Holocaust reicht.

Spätestens da wird der Zuschauerin mulmig, weil sie sich über die so deutlichen und aufgeladenen Referenzen wundert, nachdem die Protagonisten eine halbe Stunde lang mehr oder weniger rätselhaft vor sich hin getextet haben. Der Text wirbelt Staub auf und überlässt es der Rezeption, in den Schwaden von Assoziationen eine Interpretation anzutreten. Dann wieder gibt es hochkomische und hochpoetische Momente, etwa wenn eine ältere Frau (Vreni Urech) im hellblauen Morgenrock mit Hermelinbordüre darlegt, weshalb sie lieber als Geschenkgutschein auf die Welt gekommen wäre, und ihr Nachbarsmann (Robert Rožić) das französische Äquivalent gleich aufnimmt und mit dem Wort "Bon" weiterspielt.

Rappend, reimend, atemlos kalauernd

Katja Brunners Text spielt mit sich selbst, zerpflückt alle Eindeutigkeiten, weicht ab, wächst über sich hinaus und kehrt immer wieder motivisch zu den vier Protagonisten zurück, die über einen Dorfplatz gehen und etwas Schweres mit sich tragen. Mal spricht das Huhn, mal die Feder. Mal hört man einem Arzt zu, der die blumig vorgetragenen Panikattacken seiner Patientin damit begründet, dass ihre Amygdala überreizt sei. "Die Leinwand des Hirns" ist eine Projektionsfläche, für die kein Regisseur zuständig sein will. Blumen! Bäume! Bienen! Auf die Dauer könnte man sich über die elegante Beliebigkeit verstimmen, mit welcher die Autorin Text ausverleibt (am liebsten in Großbuchstaben!), rappend, reimend, atemlos kalauernd, wie es euch gefällt. "Eine Fiktion, so wahr und schön, dass es einem direkt eine Reizblase verschafft – dein Unterleib möchte vor Rührung weinen."

Schlaechter II 560 Raphael Hadad uIn fleischfarbenem Kleid am Mikro: Lisa-Katrina Mayer, im Hintergrund: Vreni Urech © Raphael Hadad

Regisseurin Barbara Falter vollbringt die kluge Leistung, das von der Autorin bis zur Verzweiflung konfektionierte Vexierbild in eine schlüssige Form zu gießen. Der latenten Aufregung des Textes setzt die präzise, rhythmische Inszenierung straffe Striche und ein Spiel entgegen, das in der Haltung des Dauerstaunens vorgetragen wird. Die vier Spielerinnen und Spieler zelebrieren Leichtigkeit, sei's in schweren Samtkleidern oder halb entblößt in fleischfarbener Unterwäsche. Sie entledigen sich förmlich von allem, was sich illustrativ aufdrängt. Barbara Falter und ihr tolles Ensemble erschaffen so einen ganz eigenen Kosmos, in welchem Vergangenes und Gegenwärtiges lustvoll kollidieren. So wird die bündige Theaterstunde zu einem Kondensat, das sich sehen lässt – auch wenn man bisweilen gerne weghört.

 

Den Schlächtern ist kalt oder Ohlalahelvetia
von Katja Brunner
Uraufführung
Regie: Barbara Falter, Bühne: Dominik Freynschlag, Kostüme: Noelle Brühwiler, Licht: Thomas Adam, Gerhard Patzelt, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Julia Kreusch, Lisa-Katrina Mayer, Robert Rožić, Vreni Urech .
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Katja Brunner hat den Sound. Und sie hat in der Regisseurin Barbara Falter die Partnerin, die einen heiss kochenden Textstrom in eine klare szenische Form bringt", so Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (11.12.2017). Brunners Sprache sei rhythmisch, verdichtet, klangbetont und frei assoziierend. Das sei ein bisschen Dadaismus, eine Prise Lautgedicht, es seien hochpoetische Naivitäten. Später kippe die leichthändige Spielanlage in blutigen Ernst und aus dem vormals poetischen Mahlstrom von Worten und Bildern werde ein schlecht beleumundetes Sprachspiel um des Spielens willen. "Katja Brunners neue Schweiz-Befragung trägt einen Trauerrand. Es ist auch die Enttäuschung darüber, dass ihr Versuch, verbindlich zu sein, schmerzhaft unverbunden Behauptung bleibt."

Ein Feuerwerk an Wortfantasie erlebte Michael Laages, der aber dennoch das Schauspielhaus Zürich ohne eine neue Erkenntnis verließ, wie er auf Deutschlandfunk Kultur (10.12.2017) berichtete. Es gehe der Autorin nicht um Botschaften und sie erkläre auch nicht gerne, was sie gemeint habe. Brunners Text habe die Funktion einer "Art Vorhang". Es sei eine Wortpartitur. Vor allem gehe es um das immerwährende Sprechen. Barbara Falter habe sich nicht verführen lassen, Spielräume hinzuzuerfinden. Sie halte sich zurück und belasse das Stück in "der Partitur einer musikalischen Konstruktion".

Von einem "Fest der großen Sätze", einem "großen, bösen Gesang" über den Ekel an der selbstgefälligen Wohlstandsgesellschaft und seinem geistlosen Materialismus spricht Wolfgang Höbel im Magazin Der Spiegel (16.12.2017). Die Regisseurin lasse ihn von den Darsteller*innen vortagen, als würden sie selbst diesen Sätzen hinterherlauschen. Es handele sich um ein "vergnügliches, intelligentes Kunstspektakel", in dem der Kritiker auch das Versprechen auf ein größeres Drama erkennt.

Denn Barbara Falter kommt den wechselnden Sprachmelodien des Textes aus Sicht von Jürgen Berger auf www.schwaebische.de (14.12.2017 und dasselbe noch einmal ausführlicher in der Süddeutschen Zeitung, 27.12.2017) ) zwar sehr nahe, entwickele aber keine Haltung zum Text. "Zu sehen ist ein Sprachmuseum, bewacht von Julia Kreusch (Eine Frau), Lisa-Katrina Mayer (Eine jüngere Frau), Robert Rožić (Ein Junger Mann), Vreni Urech (Eine ältere Frau). Man lauscht Museumswärtern, die ihre barocken Kostüme (Noelle Brühwiler) ab der Mitte der Uraufführung ablegen, um fortan in wattierter Unterwäsche Text zu sprechen. Das bringt etwas Bewegung in eine Inszenierung, der man alles in allem einen offensiveren Zugriff gewünscht hätte."

 

Kommentare  
Den Schlächtern ist kalt, Zürich: weitere Kritik
Inzwischen ist auch Jürgen Bergers Kritik in der Schwäbischen Zeitung erschienenen:

http://www.schwaebische.de/panorama/kultur_artikel,-Theaterkritik-Den-Schlaechtern-ist-kalt-oder-Ohlalahelvetia-in-Zuerich-_arid,10787091.html
Ohlalala Helvetia, Zürich: weitere Kritik
Und hier ist eine Besprechung im Spiegel erschienenen:

https://magazin.spiegel.de/SP/2017/51/154831749/index.html?utm_source=spon&utm_campaign=centerpage
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