Das letzte Leuchten der Macht

von Esther Boldt

Mainz, 15. Dezember 2017. Jetzt geht es doch um ihn. Der anfangs dachte, der Tod ziehe tatenlos an ihm vorüber. Jetzt sind die Schicksalsknoten entwirrt, obgleich so viele sich dagegen sträubten – und Ödipus die Entwirrung beharrlich vorantrieb. Jetzt fällt er bäuchlings auf das königliche Lasterbett, liegt wie ein gestürzter Baum. Jetzt bebt sein Verzweiflungskichern aus den Laken, und rotwangig stößt er aus: "Mutter, freu dich! Ein neuer Sohn kommt dir hinzu!" Seine Krone, sein Goldlorbeer ist ihm da längst vom Haupt gefallen. Sein Kostüm wird er, dessen Welt in einen fundamentalen Taumel geraten ist, ablegen wie seine Privilegien, den Goldmantel, den Fellkragen.

Schlaflos im Blattgold

Die Herrschenden beschäftigen zurzeit die deutschen Bühnen. Sie heißen etwa Caligula und Richard, Ödipus und Trump. Am Staatstheater Mainz hat sich jetzt Marcus Lobbes mit Ödipus befasst – und zwar mit dem "Oedipus" des Seneca, der wesentlich seltener gespielten Bearbeitung des Mythos nach Sophokles. Zuletzt hat Lobbes unter anderem Mike Daiseys "Trump" am Schauspielhaus Dortmund inszeniert. In Mainz arbeitet der ausgebildete Opernsänger und Regisseur zum ersten Mal, und er macht aus "Oedipus" ein strenges, stilles, abgründiges Kammerspiel. Stärker noch als bei Sophokles wirkt bei Seneca grausam und unbeirrbar das Schicksal, dem sich der oder die Einzelne nur ausliefern kann, sich ihm hingeben. Widerstand ist zwecklos.

Oedipus1 560 Andreas Etter uNächtliche Problem-Gespräche, die unsichtbaren Kräfte sind längst spürbar: Leonie-Schulz als Iokaste und Daniel-Friedl als Ödipus in Marcus Lobbes' Inszenierung © Andreas Etter

So liegt Oedipus, König von Theben, anfangs mit seiner Frau Iokaste im Bett. Schlaflos hockt er da im gestreiften Pyjama, sanft legt sie ihre Hand auf seinen Rücken. Vor seinen leibhaftigen Feinden fürchtet er sich nicht, wohl aber vor dem unsichtbaren Feind, der die Thebaner hinfort rafft: die Pest. Mit der Verletzlichkeit eines großen Jungen klagt und jammert Daniel Friedl.

Und noch eine zweite unsichtbare Kraft bedroht Oedipus: hatte ihn das Orakel von Delphi doch geweissagt, dass er seinen Vater töten würde und seine Mutter heiraten. Ein schlechter Scherz! Iokaste (Leoni Schulz) und ihr Mann krümmen sich vor Lachen.

Erkennen statt Verdrängen

In seiner Inszenierung betreibt Lobbes gewissermaßen einen historischen Remix, der griechische Stoff wird mit römisch inspiriertem Kostüm ausgekleidet und in einem barock anmutenden Saal arrangiert. Als gelte es, die Historizität zu betonen und Bezüge zur Gegenwart einstweilen elegant links liegen zu lassen. Der Chor, das Gemeinwesen, das Oedipus gegenübersteht, besteht allerdings nur aus zwei Männern, Vincent Doddema und Denis Larisch: Die Öffentlichkeit ist geschrumpft, der Held, er kämpft allein.

Oedipus3 560 Andreas Etter uDie Krone glänzt, noch, das letzte Aufflackern der Macht betont Marcus Lobbes © Andreas Etter

Weil das Drama in der griechischen (und hier auch in der römischen) Tragödie stets jenseits der Bühne stattfindet, bringen die Boten ihre Berichte in die Schlafkammer des Königs. Friedls Oedipus ist einer, der stur seinem Weg folgt, wenn es gilt, den Kriminalfall des Mordes an König Laios zu lösen und damit die Pest-Ursache zu finden, der aber in kindliche Freudensprünge ausbricht, wenn er glaubt, seinem Schicksal ein Schnippchen geschlagen zu haben. Und Klaus Köhler gibt seinen Gegenspieler Kreon als einen, der stumm und hart ist vor Verzweiflung über das, was er weiß. Wie ohnehin die Figuren um Oedipus vom Zögern gezeichnet sind, vom Hinhalten und Aushalten, vom Aufschub und Verdrängen – und den König anflehen, von seinem Erkenntnisdrang zu lassen.

Drei Museumsführer

So schafft Lobbes ein strenges Kammerspiel, unterlegt von einem abgründigen Witz, der aus ungreifbarer Ferne kommt. Aus der Stille. Aus der gewissen Absurdität des Glanzes, den die Goldschimmerkostüme verbreiten. Denn sie leuchtet, die Macht. Es ist ein letztes Aufflackern, eine große Geste, bevor alles wird, was es längst ist: Geschichte. Dann werden die Schuhüberzieher übergezogen, und drei Museumsführer in Anzügen verwandeln die Schlafkammer des Königs in eine Touristenattraktion und seine Selbstbestrafung in eine Legende aus alten Tagen.

Für einen Moment wird Oedipus denken, dass er mit seiner brutalen Selbstblendung siegreich Rache genommen hat an sich selbst, dass er nun frei ist. Ein blinder Herrscher, seinen Banden entbunden, dem Schicksal entwichen. Dann aber tötet sich Iokaste mit seinem Schwert, und sein Schuldkonto ist wieder in den Miesen. Wie hatte Kreon gesagt? "Es wohnt sich heit’rer in der niederen Hütte." Welch eigensinniger und schöner, grausamer, ferner und naher Theaterabend.

Oedipus
von Seneca, Deutsch von Alois Swoboda
Regie und Bühne: Marcus Lobbes, Kostüme: Miriam Grimm, Licht: Frederik Wollek, Dramaturgie: Rebecca Reuter.
Mit: Daniel Freidl, Leoni Schulz, Klaus Köhler, Armin Dillenberger, Antonia Labs, Denis Larisch, Vincent Doddema.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-mainz.de

 

Kritikenrundschau

Marcus Hladek schreibt in der Frankfurter Neuen Presse (18.12.2017): "Lobbes’ Regie und Bühnenbild und die Figurenanlage in den Kostümen Miriam Grimms gefallen und überzeugen." Die Regie lasse sich "zeitlich und in Sachen Herrscher-Milieu" auf ein Interieur der Macht" ein und nehme "das Klassische und Hohe" erst einmal ernst. Es handele sich um "eine stark visuelle", "hochinteressante" Inszenierung", die aber zusehends "ins Spiel mit Klischees" treibe, so dass am Ende der Kritiker unschlüssig bleibt, "ob Seneca hier dem Bühnenleben wiedergewonnen wurde oder nicht".

Das Stück haben seinen "Praxistest" nicht bestanden, urteilt dagegen Jens Frederiksen im Wiesbadener Kurier (18.12.2017). Warum eigentlich Seneca, fragt der Kritiker, Sophokles sei doch immer in Ordnung gewesen und der Römer tendiere noch ausgeprägter zum "Monologischen" und strapaziere mit "dick aufgetragener Bildersprache die Geduld". Lobbes und die Seinen seien mit "enormem szenischen Aufwand um eine redliche Antwort bemüht". Wir blickten, ausstattungsmäßig, aus dem Fin de Siècle auf die Zeit des barocken Absolutismus, der sich mit der römischen Wortoper des Ödipus-Mythos tröste. Und, lohne das? Zunächst: trotz kluger szenischer Einfäller, der "Tonfall" der Schauspierler*innen stimme nicht, der Text wirke "aufgeblasen und deplatziert". Die "überbordenden Textmengen" seien "ohne jeden Gedanken an Spielbarkeit" und "dramatische Notwendigkeit" aufgehäuft. "Man" möge da nicht zuhören.

 

 

 

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