Irgendwann unsterblich sein

von Christian Rakow

Recklinghausen, 10. Juni 2008. In NRW werden gerade die Zelte aufgeschlagen. In Mülheim, am Ufer der Ruhr, siedelt noch bis Mittwoch René Pollesch mit seinem Berliner Volksbühnen-Wanderzirkus und verhandelt dort gewissermaßen saisongerecht das ebenso fußballtaugliche wie Fassbinder-kritische Motto: "Der Star ist die Mannschaft". Von weiter her, doch gleichfalls als Team-Player reisen die Akteure an, die man im Theaterzelt der Ruhrfestspiele Recklinghausen erleben kann, im Rahmen des hiesigen "Fringe Festivals".

 

16 Inszenierungen aus sieben Ländern umfasst die dreiwöchige Leistungsschau der internationalen Off-Theaterszene. Mit etwa 300 Plätzen ist das Zelt großzügig ausgelegt. Doch zeigt sich das Festival an diesem sonnigen Dienstag seinen Ansprüchen kaum gewachsen. Knapp 30 Zuschauer haben sich um 17.00 Uhr, am Beginn des Tagesprogramms eingefunden. Die Festivalmacher treten nicht in Erscheinung. Auf Informationen zu den eingeladenen Gruppen, auf Besetzungslisten oder Hintergründe zu den Produktionen muss der Besucher ebenfalls verzichten. Doch entschädigt gleich die erste Premiere für vieles.

Ringen um Ruhm

Mit "Chronicles of A Sleepless Moon" präsentiert sich die australische Gruppe The Suitcase Royale erstmals auf dem europäischen Kontinent. Als Trash-Theater sind sie angekündigt. Dabei ist ihre Darbietung in einem Heimwerker-Setting mit Buden, Miniaturgebäuden und Arbeitsplatten überaus präzise. In einer Serie wilder Short Cuts stellen die drei jungen Kerls (alle mit angeklebten Bärten und Farmer-Kluft) eine blutige Landgeschichte vor: von einem Schlachter, der seine Frau zu Wurst verarbeitet hat und nun hinter dem Newsman her ist, der von der Tat Wind gekriegt hat. Vom Doktor, einem Frankenstein-Verschnitt, der mit Hilfe des Schlachters Kühe umbringt, um mit dem Blut ein Untergrundgefährt (Subterrania) anzutreiben. Und vom Newsman, der darin die Story seines Lebens wittert und also mit auf die Untergrundexpedition geht.

Den beiden Ambitioniertesten ergeht es schlecht: Der Doktor muss sich schließlich selbst zerhacken, damit er weiter den "Untergrund kartographieren" kann. Und der Newsman, der sich mit seiner Story ("UNTERIRDISCHE KUHDIEBE TERRORISIEREN ROOGS HILL!") unsterblich zu machen hofft, wird tatsächlich auch zu Wurst verarbeitet. "Wort des Tages: Absurd!", so kommentiert sich das Drama selbst. Aber es ist mehr als das. Wir erleben eine liebevolle Country-Hommage mit Musik in "Basement Tapes"-Manier; und auch eine Verneigung vor den ernsthaft überdrehten Spielweisen der Monty Pythons.

Bis zur Selbstzerfleischung

Und überdies verhandelt das kaum einstündige Werk unter der Hand all die Hoffnungen der "Untergrund"-Theaterszene. "I keep travelling down this tunnel bound for glory." Das Ringen um Ruhm bis zur Selbstzerfleischung – welcher Off-Künstler kennt es nicht? Oder die avantgardistische Behauptung, dass die "gute Story" nicht immer alles ist – wer möchte in diesem Sinne nicht manchmal den Kopf eines toten Newsman all jenen entgegenhalten, die schräge Komik bloß unverständlich und doof finden?

Und überhaupt ist im Projekt des "Mapping the Underground" nicht auch die so mühselige Suche der Kritiker-Trüffelschweine nach unentdeckten Talenten angesprochen? Leichtfüßig, selbstbewusst und hintergründig machen sich The Suitcase Royale hier selbst zu einer solchen, stets erhofften Ausnahmeerscheinung.

Alice Schwarzer, hilf!

Mit "Teruel", einem Tanzstück der Schweizer Compagnie Interface, liegt die schwächste Arbeit des Tages auf dem attraktivsten Programmplatz um 19.00 Uhr. Inspiriert vom irgendwie erotisch-kriegerischen Zweikampf zwischen Torero und Stier verteilt ein schwarz gelockter Poet ("Ich schreibe allein – aber für alle") in Samtsakko und Bundfaltenhose Salven sexistischsten Geschwurbels über die mit Sägemehl bestreute und gern rot ausgeleuchtete Arena.

Zwei blondierte Tänzerinnen, denen  bombastische Weltmusik gehörig ihre Becken vibrieren lässt, dienen sich ihm als willige Naturwesen an. "Den Blitz des Mannes erdet die Frau", so erklingen regelmäßig Schwachstromweisheiten, während die stummen Frauen (vermutlich die Frau an sich!) hin und her gestoßen, eifersüchtig abgestellt oder genüsslich an den Brüsten betätschelt werden. Alice Schwarzer, hilf!

Mit Brecht nach England

Als um 21.00 Uhr die multinationale Gruppe New International Encounter ihre Flüchtlingsgeschichte aus dem Dritten Reich, "The End of Everything Ever", präsentiert, hat sich das bei "Teruel" kurzzeitig mit knapp 100 Besuchern angefüllte Auditorium wieder bis auf 30 Verbliebene geleert. Bedauerlich. Denn die low budget Produktion arbeitet zwar eher konventionell, bereitet die Geschichte der Juden-Verfolgung aber durchaus unangestrengt und mit weichem Humor auf.

In der Machart Brechts wird die Emigration der etwa fünfjährigen Agatha Rosenbaum nach Großbritannien erzählt. Ihre Odyssee verläuft erwartungsgemäß turbulent (und ist bisweilen etwas sehr ausführlich dargelegt): Agatha isst ihr Identifikationskärtchen, gerät dadurch in eine eigentümliche englische Gastfamilie, bevor sie nach Wales evakuiert wird, wo sie den Krieg überdauert. Dieser Plot aber – und darin entwickelt sich der Charme des Stückes – wird aus der Sicht der Fünfjährigen dargeboten, wodurch das schwarzbraune Nazideutschland ebenso grotesk verzerrt erscheint wie die Londoner Mittelstandswelt anschließend skurril und etwas weltfremd borniert.

Stiller Ausklang

Der spärliche Hausrat auf der Bühne ist multifunktional; zentral dient ein Kleiderschrank als Zugabteil oder Fahrstuhlanlage. Kindliche Fantasie regiert und wird mit osteuropäischer Gitarrenmusik untermalt. Erst am Schluss, wenn Agatha ins Nachkriegsdeutschland zurückkehrt, scheitert ihre Einbildungskraft an den bitteren Gegebenheiten. "Da sind sie!", behauptet das Mädchen vor den Trümmern ihres Wohnhauses, doch ihre Familienmitglieder treten in den Schatten zurück. "I'm sorry, it ends like this. It's only me." Nach dem furiosen Auftakt mit The Suitcase Royale ein stiller Ausklang dieses Fringe-Theatertages.


Chronicles of A Sleepless Moon
The Suitcase Royale, Australien
Trash-Theater

Teruel
Compagnie Interface
Sion, Schweiz
Tanztheater

The End of Everything Ever
NIE – New International Encounter, Großbritannien/Frankreich/Norwegen/Polen/Tschechien
Schauspiel

www.ruhrfestspiele.de

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