Was soll unsere Kunst?

von Esther Slevogt

Budapest, Dezember 2017. Das Bäumchen ist zart und zweifelhafter Abstammung: die "robinia pseudoacacia". Das ist ihr botanischer Name und heißt zu Deutsch etwa "Akazie, die eigentlich eine Robinie ist". In Ungarn ist der Baum ein sogenanntes "Hungaricum", also, laut offizieller Definition "eine spezielle, einzigartige, unverwechselbare, nur für Ungarn typische Sache, die durch Ungarn auch in der Welt bekannt ist".

Nationales Symbol: ein eingewanderter Baum

Ein fragiler, kaum einen Meter hoher Setzling dieser Spezies steckt im satten Erdreich, das auf einer Bühnenschräge aufgeschüttet ist, auf der sich noch allerlei anderes Grün sowie fünf Performer*innen befinden, die u.a. durch grüne Latzhosen und deftiges Schuhwerk als Gärtner identifizierbar sind. Bald beginnen sie zu sprechen, tanzen und singen. Einer von ihnen produziert auf einer langen Holzflöte arkadische Flötenklänge. Als Tonkonserve durchdringen schrill martialische Märsche und anderes dokumentarisches Tonmaterial die Szene, darunter auch krause nationalistische Parolen. Auf einer Videowand sehen wir dazu – mal mehr, mal weniger passend – bekannte Politiker*innen der seit 2010 regierenden FIDESZ-Partei.

Wie sie eine Pseudo-Akazie pflanzen zum Beispiel: nicht nur ein ungarisches Nationalsymbol, sondern auch Protagonistin von "Hungarian Acacia", der listigsten, witzigsten, poetischsten und politisch pointiertesten Produktion der 4. Ausgabe von Dunapart, dem Showcase der Freien Szene in Budapest, zu dem vom 29. November bis 2. Dezember Journalist*innen und Kurator*innen aus ganz Europa, den USA und Kanada eingeladen und auch zahlreich gekommen waren. In gewisser Weise ist ja auch das ungarische freie Theater eine spezielle, einzigartige, unverwechselbare, nur für Ungarn typische Sache, durch die Ungarn auch in der Welt bekannt ist.

Dunapart4 HungarianAcacia 560 KrisztinaCsanyi uHungarian Acacia: Angéla Eke, Katalin Homonnai, Kristóf Kelemen, Márton Kristóf und Bence György Pálinkás © Krisztina Csanyi

Wie die ungarische Akazie eben, der das gleichnamige Stück gewidmet ist, das nun in einem Haus in unmittelbarer Nachbarschaft der Budapester Universität der Schönen Künste aufgeführt wird. Angeblich handelt es sich um das einstige Atelier des legendären ungarischen Historienmalers Árpád Feszty. Dessen wohl an dieser Stelle im Jahr 1894 entstandenes, knapp 1800 Quadratmeter großes kriegerisches Gemälde über die Landnahme der Magyaren durch die vom Fürsten Árpád geeinten magyarischen Stämme im 10. Jahrhundert ist als bildgewordener ungarischer Gründungsmythos eine Attraktion im Nationalen Historischen Gedenkpark Ópusztaszer. Der Schauplatz ist also gut gewählt.

Dunapart4 HungarianAcacia1 560 KrisztinaCsanyi uDie Beschwörung der ungarischen Akazie: Katalin Homonnai   © Krisztina Csan
Das knapp anderthalbstündige "post-faktische Dokumentarstück", wie die Macher ihr Werk im Untertitel nennen, ist das Ergebnis der Zusammenarbeit eines jungen Bildenden Künstlers (Bence György Pálinkás) und eines jungen Autors und Regisseurs (Kristóf Kelemen): eine Mischung aus Multimedia-Performance, Poetry-Slam, Installation, Dokumentartheater und postdramatischem Historienstück.

Sinistre Manöver

Wie hier die Gattungsgrenzen verschwimmen, hat ebenso System wie die Verwischung der Grenzen zwischen echtem und erfundenem historischen Material. Im Gegensatz zu aktuellen Protagonisten populistischer Politik, die selbst auch gern mit dieser Methode arbeiten und damit eher benebelnde (bei manchen auch aufputschende) Wirkungen erzeugen, erreicht das Kollektiv um Kelemen & Pálinkás das Gegenteil: Sinistre geschichts- und identitätspolitische Manöver werden als solche transparent gemacht – mit beinahe zärtlichem Spott und subversiver Komik.

"Hungarian Acacia" entwickelt seinen hintergründigen szenischen Kommentar zur Lage der ungarischen Nation aus einer ökologischen EU-Groteske: 2014 wurde die Akazie in Ungarn von der Umweltkommission der EU als "Invasive Alien Species" identifiziert. Bei solcherlei "eingedrungenen fremden Arten" handelt es sich den ökologischen Richtlinien der EU zufolge um Tiere oder Pflanzen, die in eine Umgebung transferiert wurden, in die sie nicht gehören und sich dort nun schädlich auf das ökologische Gleichgewicht auswirken. Auf der von der Kommission veröffentlichten Liste der zu bekämpfenden und auszurottenden "Invasive Alien Species" stand auch die ungarische Akazie, die gar keine ungarische, sondern eine amerikanische Akazie ist und sich erst im 18. Jahrhundert in Ungarn ausgebreitet hat. Wo sie sich seitdem zu einem veritablen Wirtschaftsfaktor entwickelte: 10 Prozent des in der EU produzierten Akazienhonigs stammen aus Ungarn. So verursachte die Indizierung des nützlichen wie nationalstolzbildenden Baums als "Invasive Alien Species" einen Aufschrei in Ungarn und hysterische Aktionen, den Ruf des Baumes als nationales Symbol im Bewusstsein der Bevölkerung noch tiefer zu verankern.

Abgründe ungarischer Gegenwartspolitik

Dabei könnte doch die ungarische Regierung dieses eine Mal mit der von ihr sonst so bekämpften EU auf einer Linie sein. Denn seit dem Sieg der FIDESZ-Partei im Jahr 2010 verfolgt sie schließlich großräumig genau das Ziel: alle unungarischen Triebe und Umtriebe massiv zu bekämpfen, das Land einzumauern, um es vollkommen gegen Invasive Alien Species abzuschirmen, solche, die hierher aus Kriegsgebieten flüchteten zu Beispiel. Dafür ist die Regierung sogar bereit, gegen geltendes EU-Recht zu verstoßen. Eigene Minderheiten wie die Roma werden ausgegrenzt, die Arbeit international finanzierter Einrichtungen wie der Central European University in Budapest unmöglich gemacht.

Aus diesen Widersprüchen (und dem Paradox, dass eine eingewanderte Spezies im xenophoben Ungarn zum Nationalsymbol werden konnte) schlagen Kelemen, Pálinkás und ihre Performer*innen ihr Kapital. Mit naivem Grundton werden erst einmal die ohnehin schon absurden verwaltungstechnischen Grundlagen des Plots referiert, um sich dann in immer absurdere Höhen (und vor allem Abgründe) ungarischer Gegenwartspolitik hineinzuschrauben. Chorisches Sprechen wechselt mit furiosen Monologen ab, scheinbar dokumentarische Videobilder aktueller Protagonist*innen der ungarischen Politik werden mit falscher Tonspur und unterschiedlichsten abstrusen Statements zum Thema unterlegt. Das Ganze ist mit hohem musikalischen Gespür für Rhythmus und Atmosphäre gebaut und auch ein Lehrstück über den Umstand, dass nationalistische Geschichtskonstruktion stets nur tendenziöse und postfaktische Behauptung ist.

Schockierende Geschichten beim Gemüseschnippeln

Themen aus der widersprüchlichen ungarischen Gegenwart lagen vielen Produktionen der 4. Dunapark-Ausgabe zugrunde, für das eine Jury aus Kritiker*innen und Kurartor*innen im Zweijahres-Rhythmus jeweils einen repräsentativen Querschnitt aus dem freien Theaterschaffen in Budapest auswählt.

Zu den bemerkenswertesten Produktionen gehörte die Stückentwicklung "Long live Regina!", ein dokumentarischer Theaterabend, den die Anthropologin Kata Horváth angestoßen hat. Ihr Forschungsschwerpunkt sind Roma in Ungarn und deren Instrumentalisierung im politischen Diskurs der Populisten. Über den Zeitraum von fast einem Jahr hinweg entstand ein Theaterabend, in dem acht unterschiedliche Frauen aus der Roma-Community auf der Bühne von demütigenden Diskriminierungserfahrungen erzählen, die von schlechten Arbeits- und Wohnverhältnissen bis hin zu Zwangssterilisierung im Zuge unfreiwilliger Kaiserschnittgeburten reichen.

Dunapart4 LonliveRegina 560 GabriellaCsoszo uLandnahme in Sachen Selbstrepräsentation: "Long live Regina!" ©  Gabriella Csoszo

Angesiedelt haben die Stückentwicklerinnen, darunter Regisseurin Edit Romankovics und Dramaturgin Eszter Gyulay, den Abend in einer weiträumigen Wohnküche, in der die Frauen (Rita Horváth, Zsanett Horváth, Vali Kállai, Noémi Lakatos, Ilona Orgon, Anita Rácz und Judit Suha) eine Mahlzeit zubereiten: zum Geburtstag von "Regina", die niemals konkret in Erscheinung tritt, aber so etwas wie eine Gestalt zwischen Muttergottes und matriarchalischer Gottheit zu sein scheint. Während die Frauen Gemüse schnippeln, in Töpfen rühren oder um zwei große Küchentische herumsitzen, füllt sich der Theaterraum mit Kochgerüchen und den Erzählungen der Frauen, die von Depraviertheit, Entrechtung, Entmündigung und institutioneller Gewalterfahrung handeln. Im Hintergrund singt eine voluminöse Frau (Renáta Báder) im weißen Kleid schwermütige Lieder, die die oft schockierenden Erzählungen der Frauen rahmen oder phrasieren.

Die einzige professionelle Schauspielerin auf der Bühne ist Lilla Sárosdi, einst Star des Krétakör-Theaters (und als Mascha in der legendären "Möwe"-Inszenierung ihres Mannes, des Krétakör-Gründers Árpard Schilling, von 2006 längst eines Sitzes im Theaterolymp sicher). Sárosdis intensive Bühnenpräsenz nutzt die Inszenierung als Kunstgriff, um für die scheuen, fast beiläufigen Erzählungen der anderen Frauen einen Gravitationspunkt zu schaffen. Zunächst scheinen die Frauen nur zu ihr, dieser Vertreterin der Mainstreamgesellschaft zu sprechen. Erst nach und nach wenden sie sich spürbar auch an ein Publikum, fassen wirklich Fuß auf der Bühne. Am Ende ist Sárosdi an den Rand des Geschehens gerückt. Als professionelle Schauspielerin hat sie bereits Stimme und Ort im öffentlichen Diskurs. Beides müssen sich die anderen Frauen mit ihren Erzählungen erst erkämpfen. Auf diese Weise macht dieser gut einstündige Abend auch eine Art Landnahme in Sachen Selbstrepräsentation erfahrbar.

Wessen Obdachlose*r siegt?

Einen anderen Weg der Erfahrungsproduktion beim Publikum geht "Adressless", eine Arbeit der Gruppe Stereo Akt, die ihre Geschichten stets in eine besonders luzide Art des Mitmachtheaters packt. Das Stück handelt von den katastrophalen wie aussichtslosen Lebensumständen von Obdachlosen in Ungarn, deren Zahl in immer schwindelndere Höhen treibt. Dabei ist bemerkenswert, wie Stereo Akt bei den Zuschauern Empathie mit denen erzeugt, denen die Gesellschaft in der Regel mit Wegsehen begegnet. Die drei Spieler – der Schauspieler Zola Szabó, die junge Schauspielerin Mária Köszegi und der in Ungarn bekannte Obdachlosen-Aktivist Gyula Balog, die jeweils drei Obdachlosen-Schicksalen Gestalt geben – werden auf drei Zuschauergruppen aufgeteilt. Mit kleinen Spielaufgaben treten die Zuschauergruppen gegeneinander an: Sie müssen dauernd Entscheidungen treffen, "ihre*n" Obdachlose*n einigermaßen gesund durch den Winter bringen.

Dunapart4 Addressless 560 StereoAkt Dunapart4 uIn eigener Sache: der Obdachlosenaktivist Gyula Balog als einziger Laienspieler in "Addressless"
@ Stereo Akt / Dunapart 4

Es siegt die Gruppe, deren Obdachlose*r am Ende des Winters noch die höchste Lebenserwartung und das meisten Geld hat. Auf diesem Weg erfährt man als Publikum ziemlich hautnah von der existenziellen Not, wohnungslos zu sein. Und zwar ohne falsche Sentimentalität oder Einfühlung. Es sind knallharte Fakten, auf deren Grundlage die Zuschauer in der jeweiligen Runde zu entscheiden haben: Soll man im Oktober noch auf der Straße schlafen, um das erbettelte Geld im Winter fürs Asyl aufzuheben? Erzählt man dem Verwandten, den man zufällig auf der Straße trifft, von seiner Wohnungslosigkeit? Jede Entscheidung, die die Gruppe über "ihre*n" jeweiligen Wohnungslose*n fällt, kostet ihn / sie Lebenszeitpunkte. Ein Spiel, das niemand gewinnen kann. Am Ende hat dieses simple wie erstaunliche Stück erreicht, dass man so leicht keinen Obdachlosen sogar aus dem eigenen Hausflur mehr vertreiben würde.

Aus den Fugen geratene Welt

Für die Katastrophe, die der Verlust der Wohnung für einen Menschen bedeutet, hat Kornél Mundruczó in seinem Stück "Imitation of Life" ein stupendes Bild gefunden. Eben noch sehen wir die Schauspielerin Lili Monori als Lörinc Ruszó, eine Roma-Frau, in ihrer heruntergekommenen Wohnung stehen, aus der sie von einem Inkasso-Hai nun vertrieben wird, da sie schon lange weder Miete noch Strom mehr zahlen kann. Plötzlich beginnt diese Wohnung sich in quälender Langsamkeit und wie von einem unbegreiflichen Mechanismus angetrieben fast eine viertel Stunde lang einmal um die eigene Achse zu drehen. Stück für Stück rutscht das ohnehin marode Mobiliar wie auf einem enormen sinkenden Schiff von einer Ecke in die andere, zerschellt dort krachend, bevor die Möbeltrümmer mit der nächsten Drehung weiter abstützen. Mit jedem Neigungsgrad, mit dem das hohe Zimmer mehr auf den Kopf gestellt wird, beginnen auch Gegenstände aus Schränken und Regalen herauszufallen und zu zerbersten. Bügeleisen und Lampen baumeln bald an ihren Kabel in der Luft. Der Soundeffekt zerbrechender Gegenstände wird noch durch Unmengen, aus allen Ecken rieselnder trockener Nudeln und unterschiedlicher Hülsenfrüchte verstärkt. Ein Theaterbild, das sich auch als Bild für unsere aus den Fugen geratene Welt ins Gedächtnis frisst.

Gefährlich wird's erst außerhalb der Blase

Mundruczós ansonsten eher leises Stück, das Fragen zu Identität und Heimat in einem zunehmend extremistischen und feindlichen Umfeld an zwei Einzelschicksalen aus der Roma-Community verhandelt, ist eine internationale Koproduktion und war schon in vielen europäischen Ländern zu sehen. Denn auch das ist eine Realität freien Theaters in Ungarn: Viele ihrer renommiertesten Gruppen können schon seit Jahren nur überleben, indem sie ihre Projekte als internationale Koproduktionen realisieren.

Dunapart4 trafo 560 Trafo uDas Trafó House of Contemporary Arts, ein Kraftzentrum von Budapests Freier Szene @ Trafó

Als Dunapart 2008 als Plattform für zeitgenössische Darstellende Kunst auf Initiative des Kunsthauses Trafó (einem Kraftzentrum der Freien Szene) in Budapest gegründet wurde, war das noch anders. Die Nullerjahre in Budapest, das waren die Jahre, in denen Árpád Schilling und sein Krétakör Theater mit ihrem eigenwilligen Mix aus Brecht und Stanislawski auch europaweit Furore machten; Jahre, in denen der ehemalige Krétakör-Schauspieler Viktor Bodó sich schließlich mit einer Companie selbstständig machte und mit seinem ebenso körpersprachlichen wie abstrakten Bildertheater auch jenseits von Ungarn bekannt wurde. In diesem Jahr ist er mit einer Version von Gogols "Tagebuch eines Wahnsinnigen" bei Dunapart am Start, ein in seiner schrillen Künstlichkeit fast expressionistisch angestaubter Abend. Einige amerikanische Gäste entdeckten in Gogols in den Wahn abstürzenden Charakter (von Tamás Keresztes mit schwindelig machendem Furor dargestellt) freilich auch Züge ihres ihres twitternden Präsidenten wieder. "We felt quite Hungarian the last year", frotzelt eine Kuratorin von der amerikanischen Westküste.

In einem Land vor unserer Zeit

Damals, als Dunapart ins Leben gerufen wurde, waren die freien Theater Budapests ein kulturelles Aushängeschild des Landes, in dem der Eiserne Vorhang 1989 zuerst geöffnet worden war. Dann siegte 2010 die FIDESZ-Partei, Orbán wurde Ministerpräsident und es gab einen erdrutschartigen kulturpolitischen Kurswechsel. Theater und Museumsleitungen wurden mit regierungsnahem Personal neu besetzt, Budapests berühmter freier Szene radikal die Mittel gekürzt und selbst bereits bewilligte Förderungen eine Weile nicht mehr ausgezahlt. Der bekannte Leiter des Kunsthauses Tráfo Györgi Szabó wurde geschasst. Inzwischen lenkt er das Haus wieder. 2012 konnte Dunapart gar nicht stattfinden. Stattdessen gab es einen Hungarian Showcase, aus internationalen Fördermitteln finanziert, gegen den Ungarns offizielle Kulturpolitik demonstrativ Stellung bezog: Dies sei keine repräsentative Auswahl zeitgenössischen ungarischen Theaterschaffens. Im Gegenteil.

Dunapart4 juranyiInkubatorHouse 560 JuranyiHouse uKunstinkubator: Das Juranyi Inkubator House stellt Bühnen, Probenräume und Produktionsbüros zur Verfügung. @ Juranyi House

In diesem Jahr nun steht das Ministerium für Human Resources, dessen Minister Zóltan Balog Ungarns oberster Kulturpolitiker ist, als Hauptförderer auf der Dunapart-Webseite. Die FIDESZ-Politikerin Judit Hammerstein, bis 2014 stellvertretende Kulturstaatssekretärin und seitdem Präsidentin des Ballassi-Instituts (einer Einrichtung zur Kulturvermittlung ähnlich dem deutschen Goethe-Institut), ist als Schirmherrin genannt. Mit dem Jurányi Inkubator House wurde 2012, also im Annus Horribilis der Freien Szene in Budapest, ein ehemaliges großes Schulgebäude in ein staatlich finanziertes Haus für die Freie Szene umgewandelt, mit Probenräumen, Produktionsbüros und Bühnen für freie Gruppen, auch mit westeuropäisch sozialisiertem Blick betrachtet eine ziemlich einmalige Einrichtung. Der freie Geist, der hier herrscht, springt Besucher schon unmittelbar bei Betreten des Haus an. Doch berichten Theatermacher*innen am Rande des Festivals auch von diffusem Druck und starken Kämpfen gegen die Scheren in den eigenen Köpfen. Solange man in der eigenen Blase produziere, würde man in Ruhe gelassen. Erst wenn man versuche, aus dieser Blase heraus zu wirken, würde man als Gefahr wahrgenommen und bekämpft, sagt ein Theatermacher.

Ein Land für alle?

Als Gefährdung wird auch eine neue Regelung empfunden, die besonders erfolgreichen Produktionen mit hohen Auslastungszahlen extra Zuwendungen aus Wirtschaftsgeldern verspricht – Erfolgsprämien also, die es in Zukunft noch schwerer machen würden, Sperriges, Avantgardistisches und Randständiges zur produzieren, dem erst mal kein Zulauf der Zuschauermassen garantiert werden kann. Teil des komplizierten Bildes ist auch, das Árpad Schilling, der vor zwei Jahren seine Theaterarbeit in Ungarn komplett eingestellt hat, um von der staatlichen Politik und ihren Anfeindungen unabhängig zu sein, im Herbst von Szilárd Németh, dem stellvertretenden Vorsitzenden des nationalen Sicherheitsausschusses, als Verräter und nationales Sicherheitsrisiko eingestuft wurde. Auch der einstige Produktionsleiter des Krétakör-Theaters, der Schauspieler, Regisseur und Aktivist Márton Gulyás wurde zum Staatsfeind erklärt. Begründung: Aus dem Ausland finanzierte Organisationen beabsichtigten die Störung der inneren Ordnung Ungarns. Schilling, Gulyás und der Bürgerrechtler Gábor Vágó als dritter im Bunde hätten hier als "Anstifter" fungiert. Gulyás, dessen Sinn für Gerechtigkeit offenbar ebenso groß ist wie sein Sinn für Humor, zeigte sich darauf selbst an. Wenn er ein nationales Sicherheitsrisiko sei, müssten das die gut arbeitenden Strafverfolgungsbehörden seines Landes schließlich zuverlässig feststellen können.

Dunapart4 560 Podium sle uDas Podium "Context and Environment of Hungarian Theatre Making" mit Tamás Jaszay (Kritiker), Réka Szabó (Choreografin), Beáta Barda (Künstlerische Leitung Trafó) und Eszter Kálmán (Choreografin). © sle

Bereits im Frühjahr war Gulyás verhaftet worden, weil er Farbbeutel auf den Präsidentenpalast geworfen hatte – im Rahmen von Protesten gegen ein neues Hochschulgesetz. Es schränkt die Befugnisse von Universitäten mit Hauptsitz außerhalb der EU stark ein, ungarische Abschlüsse zu verleihen – was das Aus für die bekannte Central European University in Budapest bedeuten würde. Ihr Finanzier, der amerikanisch-ungarische Investor und Philanthrop George Soros, der als Jude den Holocaust in Budapest im Versteck überlebte, ist als Inbegriff des ausländischen Verschwörers gegen ungarische Interessen Hassfigur und Projektionsfläche rechter Stimmungsmache im Land. Im September gründete Gulyás die außerparlamentarische Bewegung "Ein Land für alle" (Közös Ország Mozgalom) mit dem Ziel, ein gerechteres Wahlsystem zu befördern und das gespaltene Land zu vereinen. Acht Parteien haben sich inzwischen dieser Bewegung angeschlossen, darunter sogar die rechtsextreme Jobbik-Partei. Das nächste Mal wird in Ungarn im April 2018 gewählt. "Viele Menschen in Ungarn sind gegen die Orbán-Regierung", sagt eine ungarische Kritikerin. "Aber es herrscht große Apathie. Ich glaube nicht, dass diese Bewegung es schafft, bis zu den Wahlen eine effektive Opposition zu organisieren."

Tschechow als Grundgefühl eines Landes

Die herrschende Apathie ist auch der Grundton des Abends "Chekhov", den Tamás Ördög inszeniert hat. Er ist Teil einer neuen Gruppe, die sich den Namen Dollardaddy’s gegeben hat und die seit einiger Zeit mit ungewöhnlichen Überschreibungen klassischer Werke von sich reden machten. Der Name Dollardaddy’s klingt wie eine ironische Reaktion auf verschiedentliche Regierungsversuche, in Ungarn die Handlungsfreiheit von Organisationen, die auch ausländische Gelder erhalten, im Namen der nationalen Souveränität einzuschränken. Nicht nur die Central European University, auch international koproduzierende Theatertruppen waren in der Vergangenheit gelegentlich solchen Angriffen ausgesetzt. Der Abend "Chekhov" nun verschmilzt die Stücke "Drei Schwestern", "Kirschgarten", "Ivanow" und "Die Möwe" zu einem Tableau der Apathie. Was soll unsere Kunst? Was soll uns das Leben, wie wir es bisher lebten? Wohin sollen wir?

Dunapart4 Chekhov 560 Dollardaddys Dunapart4 u"Chekhov": Anikó Für und Lilla Sárosdi (im Hintergrund: Emöke Kiss-Végh und Tamás Ördög) 
© Dollardaddy's / Dunapart 4

Die Figuren und Texte oszillieren: Die bekannte Schauspielerin Anikó Für ist die aus der Welt fallende Kirschgartenbesitzerin Ranjewskaja ebenso wie die exzentrische Schauspielerin Arkadina aus "Die Möwe"; die drei Schwestern Olga, Irina und Mascha verwandeln sich auch in andere desorientierte Töchterfiguren aus den Tschechow-Stücken. Gespielt wird auf einer nackten Bühne. Das Publikum sitzt auf vier Podien drum herum.

Ende im Nirgendwo

Man schaut lauter weinerlichen und fragilen Figuren zu, wie sie klagen, von Veränderungen träumen, die sie selbst nicht ins Werk zu setzen im Stande sind. Regisseur Tamas Ördög (der selbst auch als Trigorin-hafter Frauenmanipulator auf der Bühne steht) lässt sie am langen Arm ihrer ziellosen Erwartungen vertrocknen. Die bedrohliche Figur des Neuen ist ja von Tschechow selbst am prägnantesten in der Figur des Lopachin gefasst: Das ist der einstige Leibeigene auf dem Gut der Ranjewskaja, der nun zu Geld und Macht gekommen, die Liegenschaft übernehmen und den Kirschgarten abholzen wird. Bei Dollardaddy’s spielt Lilla Sárosdi diese Figur, die sie mit der zynischen wie vulgären Wucht der Verlierer ausstattet, die nun am längeren Hebel sitzen und Rache am einstigen Establishment nehmen, das inzwischen wehr- und waffenlos, aber in seinem Selbstmitleid auch lächerlich ist. Ihr schillerndes Chanel-artiges Kostüm ist mit schrillen Glitzer-Kirschen benäht. Auf hohen Hacken schreitet sie wie ein verletztes Schlachtross durch die Szene und schleudert den anderen Spielern die alten Texte um die Ohren, als kämen sie direkt aus der Gegenwart. Am Ende werden nicht nur die Figuren des Stücks aus dem Kirschgarten vertrieben. Wir alle müssen das Theater verlassen. Die letzte Szene mit den kurzen ratlosen Schlussmonologen der Spieler*innen spielt hinter den Sitzreihen im Nirgendwo – in einem Zwischenraum, der nicht Bühne und nicht Zuschauerraum ist: sondern ein diffuses Dazwischen, wo über das, was wird, erst noch entschieden werden muss.

 

Dunapart
Platform of Hungarian Contemporary Performing Arts
29. November bis 2. Dezember 2017

www.dunapart.net

 

Offenlegung: Esther Slevogt war auf Einladung von Dunapart in Budapest. Reise- und Übernachtungskosten wurden übernommen.

Weitere Berichte über das Theater in Ungarn sind über das Lexikon erreichbar.