Zu oll / zu doll

von Kai Bremer

Münster, 22. Dezember 2017. Es ist noch keine vierzehn Tage her, als hier der bisher letzte Kommentar in der vehement geführten Debatte um Stefan Ottenis Shakespeare-Inszenierung "Die Fremden / Der Kaufmann von Venedig" am Theater Münster erschien. In ihr ging es immerhin um den Antisemitismus in Shakespeares Drama und um nicht weniger als die Frage, ob zumindest einige Szenen der Inszenierung unreflektiert eine antisemitische Bildästhetik pflegen. Gestern nun kam am selben Haus mit Max Frischs "Andorra" (und zum Teil denselben Schauspielern) ein Stück zur Aufführung, das sich dem Thema Antisemitismus ganz eindeutig stellt.

Wie eindeutig das bei Frisch der Fall ist, das stellt Regisseurin Laura Linnenbaum gleich von Beginn an aus. Sie lässt die Figuren nämlich erst einmal sich im Bühnenvordergrund zusammenfinden und mit einer Suhrkamp-Ausgabe in der Hand den Text durchgehen, um zu zählen, wie oft das Wort "Jud" fällt. Und weil es beim Umblättern der Seiten immer wieder lustig staubt, ist gleich klar, dass Linnenbaum keine Scheu hat, mit vordergründig frecher Symbolik ("Mal gucken, ob das nicht längst ein oller Klassiker ohne Gegenwart ist") Frischs Parabel zu bebildern.

Vereindeutigung der Bilder

Dass es sich um eine solche handelt, signalisiert umgehend die Ausstattung. Zwar nähern sich die Kostüme (David Gonter) der Mode der frühen 1960er Jahre an. Die bleich geschminkten Gesichter der Schauspieler lassen jedoch nicht daran zweifeln, dass hier was Abstraktes geboten wird. Diesen Eindruck unterstützt entschieden die Bühne, deren Boden Gonter als ein nach hinten leicht ansteigendes Dreieck gestaltet hat. Es ist mit weißen Kieselsteinen ausgelegt, so dass es bei jedem Schritt knirscht, als ginge dort nicht ein einzelner Mensch, sondern als marschierte ein halbes Bataillon. Eingerahmt ist das Dreieck mit geweißten Sperrholzplatten. Das nimmt zunächst klug auf, dass in "Andorra" zu Beginn die Häuser fleißig geweißelt werden.

Andorra1 560 OliverBerg uGruppenbild in Andorra: Garry Fischmann, Gerhard Mohr, Natalja Joselewitsch, Jonas Riemer,
Christoph Rinke, Ilja Harjes, Christian Bo Salle, Bálint Tóth © Oliver Berg

Als zuletzt das an sich schon fragile Sozialgefüge der Stadt ins Wanken gerät, wackeln die weißen Wände bedeutungsvoll und geben den Blick ins Schwarz des Bühnenhintergrunds frei. Diese Holzhammersymbolik ist deswegen besonders ärgerlich, weil durch die Bühne an sich die exemplarische Handlung elegant konzentriert wird. Aber statt darauf zu vertrauen, werden die Bilder immer wieder vereindeutigt. So kommt der Verdacht auf, dass die Bildsprache dieser Aufführung nach der Debatte um Ottenis Shakespeare-Inszenierung partout keinen Anlass zum Widerspruch geben sollte.

Wie heute antisemitisch geschwiegen wird

Erhärtet wird er dadurch, dass Linnenbaum Frisch nicht nur im Programmheft und mittels einer Einspielung gegen Ende zu Wort kommen, sondern zudem als Figur (mit sanftem Schwyzerdütsch: Bernward Bitter) die Inszenierung rahmen lässt – ganz so, als benötige dieses nun wahrlich nicht missverständliche Stück die Autorität der Auslegung durch den Autor. Die Regisseurin nimmt all diese Vereindeutigungen zwar mit leichtem Augenzwinkern vor. Das ändert aber nichts daran, dass die so intelligenten wie vorsichtigen Text-Striche, die sie setzt, und vor allem die überzeugenden Positionierungen der Schauspieler auf der Bühne, die wiederholt für eindrucksvolle Szenen und Schattenspiele auf den weißen Sperrholzwänden sorgen, den Eindruck nähren, dass "Andorra" vielleicht doch im Endeffekt ein etwas angestaubtes Repertoirestück ist, dem kaum mehr abgewonnen werden kann als die an sich banale Erkenntnis, dass Antisemitismus diskursiv generiert wird.

Gleichwohl hat der Abend ungemein starke Seiten. Linnenbaum lässt die Andorraner im Handlungsverlauf nie das Wort "Jud", das sie eingangs im Dramentext gezählt haben, aussprechen. Das tut schließlich nur der vermeintliche Jude Andri (Garry Fischmann), kurz bevor er getötet wird. Die Inszenierung entlarvt so das antisemitische Sprechen der Gegenwart, das durch Verschweigen von vermeintlich diskreditierten Begriffen versucht, sich nicht angreifbar zu machen. Und führt zudem en passant vor, dass ihr sensibler Umgang mit dem Text diesem viel angemessener ist als ihre symbolische Bildsprache.

Andorra
von Max Frisch
Regie: Laura Linnenbaum, Bühne, Kostüme: David Gonter, Musik: Lothar Müller, Dramaturgie: Barbara Bily.
Mit: Regine Andratschke, Bernward Bitter, Frank-Peter Dettmann, Garry Fischmann, Ilja Harjes, Claudia Hübschmann, Natalia Joselewitsch, Gerhard Mohr, Jonas Riemer, Christoph Rinke, Christian Bo Salle, Bálint Tóth.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theater-muenster.com

 

Kritikenrundschau

"Andri ist mit Garry Fischmann auf den Punkt besetzt. Ein ängstlicher Rebell, der irgendwo zwischen Shylock und James Dean seinem Ende zusteuert," schreibt Arndt Zinkant von der Westfälischen Zeitung (27.12.2017). Die Inszenierung punkte "mit ästhetischer Stringenz und pendelt überzeugend zwischen Kälte und Sarkasmus." (...) "Und der Antisemitismus? Max Frisch wurde durchaus zu Recht vorgeworfen, dessen ureigenes Wesen zu verwässern. So liest am Ende jeder aus 'Andorra', was ihm beliebt. Jene, die eben noch vor dem Brandenburger Tor Israel-Fahnen verbrannten, dürften sich jedenfalls kaum gemeint fühlen."

Kommentare  
Andorra, Münster: Stück verdreht
" Die Inszenierung entlarvt so das antisemitische Sprechen der Gegenwart, das durch Verschweigen von vermeintlich diskreditierten Begriffen versucht, sich nicht angreifbar zu machen."

für mich liest sich diese kritik wie eine völlige verdrehung des max frisch stückes, denn dieses zeigt doch gerade den irrwitz der diskredierung von juden durch verlogene vorurteile, die beharrlich alles nur erdenklich negative ihm zuschreiben und damit durchkommen und den antisemitismus befeuern >>> durch lügen und falsche unterstellungen.

frischs fazit: sie hätten SCHWEIGEN sollen und nicht den hysterisch gelenkten antisemitischen mob mit befeuern helfen!
Andorra, Münster: Frage der Zuschreibung
"Verdreht" erscheint mir nicht so sehr diese Kritik, wie das fast einmütig gefeierte Stück von Max Frisch. So wie in Lessings nicht weniger unkritisierbarem "Nathan" Recha eine Christin sein muss, damit es zu der mit wenigen Ausnahmen (Solter, Peymann) als Happy End inszenierten Auflösung kommen kann, so darf Andri kein Jude sein, damit die Konstruktion von Antisemitismus als Zuschreibung funktioniert. Max Frisch argumentiert ja in seinem Stück damit, dass die Verfolgung und Ermordung Andris auf dem Irrtum beruhten, dass er Jude sei. Wenn er denn tatsächlich Jude wäre, wenn er tatsächlich „fremd und wurzellos“ wäre – wäre seine Ermordung dann gerechtfertigt? Diese Frage ist, nicht nur in Bezug auf Juden, von brennender Aktualität.
Andorra, Münster: Empörungsfolklore
#2
lieber thomas rothschild, es fällt mir sehr schwer, ihre frage zu beantworten, weil sie sich weit unter den allgemein ziviliserten selbstverständnis befindet, welches ich keinesfall ihnen, sondern einem abgründigen niveau der kommunikation - selbst bei rennomierten profis - kaum noch ertrage und heftig ablehne. ich nenne es Empörungsfolklore, die erzwingt, jegliche Selbstverständlichkeit äußern zu müssen.(fragen sie MICH ernsthaft, ob ich eine ermordung gerechtfertigt finde ? ich glaub es nicht).

vielleicht verstehen sie mich besser, wenn ich ihnen einen ganz aktuellen artikel zum thema von daniela dahn dazu verlinke:

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1074245.antisemitismus-gesinnungshatz-gefaehrdet-soziale-bewegungen.html
Andorra, Münster: klarsichtige Einlassung
#2: Ja, so ist es. Und diese Frage ist seit ungefähr schon 20 Jahren brennende Aktualität. Ich würde sagen, sogar seit 30, wenn man die Ehemalige (DDR) noch mit in Betracht zieht... Danke für die, den politischen Umgang mit Antisemitismus betreffende, klarsichtige Einlassung.
Andorra, Münster: Altmänner-Weisheiten
Herr Rothschild weist durchaus zu Recht auf die fragwürdige Konstruktion von Max Frischs Stück hin. Frisch war zu der Zeit als das Stück schrieb auch noch frauenfeindlichen Konzeptionen verpflichtet. So beschreibt in seinem Aufsatz über die Schauspieler*innen (1948) - zu gleichen Zeit wie der Prosatext "Der andorrianische Jude" entstanden ist (der Vorlage für das Theaterstück war), folgendes: “Das Widermännliche: das scheinbar Uneigene des Weibes, das sich formen lässt von jedem, der da kommt, das Widerstandslose, Uferlose, Weiche und Willige, das die Formen, die der Mann ihm gibt, im Grunde niemals ernst nimmt und immer fähig ist, sich anders formen zu lassen: das ist, was der Mann als das Hurenhafte bezeichnet, ein Grundzug weiblichen Wesens, das Weiblich-Eigene, dem er niemand beikommt. Man könnte es auch das Schauspielerische nennen. Das Spiel der Verwandlung, das Spiel der Verkleidung. Der Mann, der sich in Kostüme hüllt, hat er nicht immer einen Stich ins Verkehrte, ins Weibische, ins Widermännliche.” (Aus “Über die Schauspieler”, Max Frisch)
Diese widerwärtigen Altmänner-Weisheiten schrieb ein damals 38-jähriger Mann. Wer auch nur bisschen die Psychologie des Antisemitismus kennt, weiss, dass Frauenfeindlichkeit Hand in Hand geht mit Antisemitismus - und die Gedankenbilder dieses Textes über die "SchauspielerIn" sind sehr nah an antisemitischen Konstruktionen über "Juden".
Andorra, Münster: zur Quellenlage
Wer was wie nennt: "Was ich indes heftig ablehne, ist eine Empörungsfolklore, die erzwingt, derlei Selbstverständlichkeiten äußern zu müssen." Heike-Melba Fendel im "Freitag" 51/2017
Andorra, Münster: Feindlichkeit
Alle Feindlichkeit geht Hand in Hand mit anderen Feindlichkeiten.
Andorra, Münster: Empörung
es wundert nicht, von einer aktuellen empörungswelle fast "natürlich" zu einer ANDEREN überzugehen: vom antisemitismus zum sexismus.

und ja, ich nenne dies, wie auch heike-melba fendel,
"empörungsfolklore", weil eine tiefe und umfassende beschäftigung mit den themen nicht stattfindet.

http://www.taz.de/Heike-Melba-Fendel-ueber-metoo/!5469981/

das thema antisemitismus im jahr 2017 verdient eine verantwortungsvollere und umfassendere diskussion, darauf wollte ich anhand der besprochenen inszenierung von kai bremer eingehen und nicht eine grundsatzdebatte über max frisch führen.

ps. wenn heiner müller bemerkte, dass eine diskussion/ein gespräch keine gemeinsame ernsthafte inhaltliche grundlage findet, so sagte er freundlich "sie werden schon recht haben".
Andorra, Münster: denkmüd
Max Frisch, der so verächtlich (und vor allem dümmlich) über SchauspielerInnen und Schauspieler sprach und 1939 die "Schweizer Bühnen für Schweizer" einforderte und bis 1945 mit Nazisdeutschland symphatisierte, wurde von bundesrepublikanischen Bühnen immer noch als Teil eines linken Diskurses gesehen (wie auch sein im Kern antisemitisches "Andorra"-Stück). Wieso sollte Hinterfragung dieses Autoren nun hier nicht in den Diskurs hineingehören? Wieso sollte das nun "Empörungsfolklore" sein (was für ein hässliches Wort!). Was Thomas Rothschild da als Argument bringt (Was, wenn Andri denn tatsächlich Jude wäre, wenn er tatsächlich „fremd und wurzellos“– wäre seine Ermordung dann gerechtfertigt?) bringt die Problematik des Stücks auf den Punkt. Und die Frage ist nun, ob die Inszenierung in Münster diese Kernproblematik reflektiert oder nicht. Aber nun allen vorzuwerfen, sie würden nicht in die Tiefe vordingen wollen, nur weil man nicht bereit ist, die Zusammenhänge von Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus in Frischs Denken zu erkennen, ist schon etwas denkmüd.
Andorra, Münster: Wann und wo sympathisierte Max Frisch mit den NS?
Lieber Samuel Schwarz,
könnten Sie denn meinem in die Tage gekommenen Gedächtnis auf die Sprünge helfen: Wann und wo genau habe ich mit Nazideutschland sympathisiert? Gibt es da Belege? Ich kann mich wirklich nicht erinnern, ich wäre Ihnen recht dankbar.
Andorra, Münster: bitte Quellen nennen für Frischs Sympathie mit den NS
@Samuel Schwarz:

Wie kommen Sie zu dem Schluss, das frisch bis 1945 mit Nazideutschland sympathisierte? Befrage ich google komme ich zu keiner Quelle, die mir dazu etwas sagen könnte. Haben Sie Zugriff auf andere Quellen und können diese Aussage belegen?
Andorra, Münster: Denk- und erinnerungsunfähig
lieber @ max frisch,

zu andorra:

nur Hans Weigel machte schon sehr früh auf eine Unstimmigkeit aufmerksam:

"Wenn Andorra nicht Andorra ist, wenn Menschen Andrí, Barblín, Fedrí heißen, wenn der Nachbarstaat jeder faschistische Staat von Mussolini über Hitler zu Perón sein könnte, müsste statt Jud gleichfalls eine verallgemeinernde, gleichnishafte Chiffre stehen.
Max Frischs "Andorra" wird – als Modell über die Entstehung eines Außenseiters – auch heute noch gespielt."

http://www.deutschlandfunk.de/welterfolg-des-nachkriegstheaters.871.de.html?dram:article_id=127505

>>> damit zeigte er seine kluge voraussicht, die im jahr 1961 jedoch kaum einer nachvollziehen konnte, doch heute sehen wir, die "unstimmigkeit" wurde nicht (öffentlich) diskutiert - deshalb sind wir wohl 2017 mal wieder dran, dies zu tun.

leider sind nur noch wenige menschen zu sachlich-inhaltlichen diskussionen befähigt (wie hans weigel) - stell dir vor: sie personalisieren - also verunmöglichen jede diskussion zu einem sachthema, was du ja mit "andorra" - leider z.t. mißverständlich - erreichen wolltest - doch zu spät

„Eigentlich handelt das Stück gar nicht von Antisemitismus“, meinte Frisch, als ich mich vor einigen Monaten mit ihm in Rom darüber unterhielt. „Der Antisemitismus ist nur ein Beispiel.“

Frisch läßt Andri, den Jüngling, von dem alle glauben, er sei ein Jude, zu Beginn des Stückes sagen: „Ich bin nicht anders. Ich will nicht anders sein!“
Vergebens. Er lernt einzusehen, daß man nicht ist, was man ist, sondern das, was die anderen in einem sehen.
Und gleich darauf folgendes: „Du sollst dir kein Bildnis machen, heißt es von Gott. Es dürfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht erfaßbar ist. Es ist eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlaß wieder begehen ...“ "

http://www.zeit.de/1961/45/mitschuldige-sind-ueberall

seit dem beginn der 90er jahre hat sich die welt rasant in vielerlei hinsicht verändert und die technisch mögliche "künstliche intelligenz" feiert sich selbst. leider ist dabei nicht zu übersehen, dass die "menschliche intelligenz" damit nicht mithalten kann und auch keine starke "lobby" für sich - aus rein menschlichen gründen der vielfalt - entwickelt hat. eine gravierende folge davon ist die zunehmende denk- und erinnerungsUNfähigkeit, welche den kontext und deine ergänzungen gar nicht mehr ernst/wahrnimmt.

^^ ich höre gern der plauderei "alter männer" zu und weiß:
"dass es Kunst gibt, heißt bereits, dass sie sich durch Phantasie von den Diktaten der dominanten Realitäten abhebt und ein Stück weit tatsächlich von ihnen befreit. Sie bewegt sich, wie man mit Heiner Müller sagen könnte, jenseits von Hoffnung und Verzweiflung. Ihre Heiterkeit indiziert ihre Kontingenzoffenheit, das Wissen um ein indefinites Morgen, von dem niemand sagen kann, welche Gestalt es annehmen wird."
Andorra, Münster: Lese- und Denk-Tipp
Liebe Fragesteller, ich empfehle die Forschungen von Charles Linsmayer...u.a: http://www.linsmayer.ch/autoren/F/FrischMax.html

Und ich rate zum Benutzen des eigenen Verstands, denn Frischs mysogine und auch zum Teil fremdenfeindliche Haltung erschliesst sich auch aus der Lektüre seiner Texte.
Andorra, Münster: Belege für Sympathie
Nicht umsonst schreibt Linsmayer schwammig von meiner verständnisbereiten oder mindestens ambivalenten Haltung, dies ist sicher nicht bedeutungsgleich mit Sympathie für Nazideutschland. Ich finde auch die von Linsmayer angegebene Briefstelle als Beleg für meine vermeintliche Sympathie denkbar schwach, denn Goebbels' Rhetorik widerlich zu finden, dürfte gemeinhin nicht als Sympathiekundgebung gelten. Sonderbar, dass Sie Linsmayers dann folgenden Hinweis offenkundig unwichtig finden: "Dann aber, zwischen Sommer 1944 und Herbst 1945 geht eine tiefgreifende Wandlung in ihm vor. Zum einen hat er in dieser Zeit mit dem Stückeschreiben begonnen ist in intensiven Kontakt mit dem Schauspielhaus Zürich und mit dessen aus lauter überzeugten Hitlergegnern bestehendem Ensemble getreten, zum andern aber ist er während des Grenzdienstes mit Flüchtlingen aus Deutschland in Kontakt gekommen und hat die unglaublichen Zeitungsberichte über die Konzentrationslager aus erster Hand bestätigt bekommen, was einen förmlichen Schock in ihm auslöst." Vielleicht ist es nicht besonders schön, dass ich mich an damals nicht mehr recht erinnere, aber Belege für eine bis 1945 andauernde Sympathie kann ich da keine finden."

Der gute Rat, den Sie schließlich erteilen, wirkt im Zusammenhang mit dem polyperspektivischen Charakter von literarischen Texten seltsam. Meinen Sie, es gibt immer nur eine gut begründete Deutung? Er wirkt auch derart unbescheiden, das er sein Ziel wohl sehr verfehlen wird.
Andorra, Münster: ohne Kontext
Selbst wenn man Frisch, eine "mysogine und auch zum Teil fremdenfeindliche Haltung" unterstellt, ergibt sich daraus noch lange nicht der Schluss, dass er Sympathie mit der NS-Ideologie gepflegt hätte. Aus Ihrer angegeben Quelle, Herr Schwarz, geht dies im übrigen auch nicht hervor. Mal davon abgesehen, ergibt sich für mich aus seinem literarischen Schaffen ebenfalls keine (zumindest nicht dem Stand der gesellschaftlichen Reflektion dieser Themen) keine außerordentlich "zum Teil fremdenfeindliche Haltung" hervor. Außer aber ich verzichte darauf seine benutzte Sprache im Kontext der Benutzung von Sprache in seiner Zeit einzuordnen. Andernfalls wäre es ein Leichtes so gut wie jeden Autor, der bis in die 60er hineingewirkt hat, derartiges zu unterstellen. (Was ja auch nicht ganz falsch ist, aber eben nur unter der Außerachtlassung der Entwicklung von Sprache und Kritik in ihrer jeweiligen Zeit).
Andorra, Münster: Texte sagen alles
Also meine Herren, ich muss sie doch bitten. Die Auszüge aus dem der Nazi-Ideologie verpflichteten Roman „Jürg Reinhardt“ sagen doch alles. ZITAT: Und wenn das Buch, von Robert Faesi wärmstens empfohlen, bei der DVA, die auch das Werk des Schweizer Nazis Jakob Schaffner betreut, zur Herausgabe angenommen wird, so muss es nicht zuletzt jene Lücken stopfen helfen, die durch das Schreib- und Publikationsverbot für «linke», «entartete» bzw. «nichtarische» Autoren in den Verlagsprogrammen entstanden sind. Im übrigen entspricht«Jürg Reinhart» auch in Sachen Rassenpolitik durchaus den deutschen Anforderungen, hebt sich die arische deutsche Herrschaft auf Schloss Solitudo doch nur allzu vorteilhaft ab von dem balkanischen Menschenschlag mit seinen «dunklen, verschlagenen, faulen, ungezogenen, animalischen und fetthändigen Slawen» und Subjekten wie dem «schmierigen Jüdlein mit Dreckhals» auf dem Istanbuler Bazar“ ZITATENDE. Dazu passt, dass Frisch mit nationalistischen und sublim antisemitischen Argumenten 1939 Ferdinand Rieser vertrieb. Wenn dann Mäxchen 1945 - nach den Siegen der Allierten auf dem Schlachfeld - von seinem bürgerlichem Dionysos-Trip abfiel und die Eeden von Goebbels abzulehnen begann, ist das eher ein Beweis für seinen Opportunismus.
Andorra, Münster: irreführend
Lieber Samuel Schwarz,
ihr Kommentar ist irreführend formuliert. Sie schreiben, "die Auszüge" aus Frischs Roman "Jürg Reinhart" sagten doch alles. Dann folgt ein langes, unausgewiesenes Zitat, das nicht etwa einen solchen alles sagenden Romanauszug darstellt, sondern eine Textkopie von der Website Charles Linsmayers, die wiederum nur wenige Worte Originaltext aus dem Frisch-Roman enthält. Dazu die Selbsterklärung von Charles Linsmayer (Zitat auf derselben Website): "Falls Sie an eigenwilligen Porträts zu Autorinnen und Autoren aus der ganzen Welt und insbesondere aus der viersprachigen Schweiz des Zeitraums 1890 bis 2000 interessiert sind, finden Sie hier eine Fülle biographischer Artikel dazu."
Andorra, Münster: gefährliches Halbwissen
Welche Auszüge aus "Jürg Reinhardt" meinen Sie denn? Das, was Linsmayer da zitiert, stammt zumindest nicht aus Frisch´s Roman... ich vermute, dass da aus Sekundärliteratur zitiert wird. Der von Ihnen verlinkte Aufsatz weist seine Quellenangabe leider nur sehr unübersichtlich und am Ende aus... da lassen sogar so manche Wikipedia-Artikel mehr wissenschaftliche Sorgsamkeitspflicht walten. Was das für ""sublim antisemitische Argumente" seien, mit denen er gegen Ferdinand Rieser argitierte, geht auch nicht aus dem Text hervor - es wird lediglich behauptet, dass es so sei, ohne dafür einen Beweis anzuführen.

Alles in Allem möchte ich nicht sagen, dass Frisch ein Heiliger sei, den man nicht kritisieren dürfe... aber zu einer differenzierten Auseinandersetzung gehört mehr als die Deligitimierung von Frischs Gesamtwerk durch die - nach wie vor - nicht belegte Behauptung, dass er NS-Sympathisant gewesen sei.
Andorra, Münster: verbissene Gegenwehr
Erstaunlich, mit welch verbissener Gegenwehr man hier zu tun hat, wenn man einen Säulenheiligen des bundesrepublikanischen Stadttheaters zu kritisieren wagt - und auf seine wissenschaftlich längst belegte Vergangenheit hinweist. Max Frischs feindliche Haltung zum jüdischen und homosexuellen Schauspielhaus-Intendanten Ferdinand Rieser ist zudem längstens hinreichend belegt. Das noch irgendwie relativieren zu wollen, erscheint mir schon fast geschichtsklitternd. Sein Aufsatz im "Zürcher Student" von 1938 war ein nationalistisches Pamphlet gegen Rieser.
Die zitierten Zitate selber stammen aus dem Roman Jürg Reinhardt. Wen sie noch mehr lesen wollen über Max Frisch sexistischen und antisemitischen frühen Texte wie eben dieses Machwerk "Jürg Reinhardt", empfehle ich sehr das Buch REINHEIT ALS DIFFERENZ
http://www.chronos-verlag.ch/php/book_latest-new.php?book=978-3-0340-1364-2&type=Kurztext
Andorra, Münster: noch eine Buchempfehlung
Wer hier Vorwürfe von "gefährlichem Halbwissen" bezüglich längst belegten Fakten verbreitet, missachtet einfach den Forschungsstand, ignoriert wissentlich und wohl auch willentlich Hintergründe. Und das wieso? Weil hier sehr hässliche Wörter wie "Empörungsfolklore" (erst recht in dem Zusammenhang) legitimiert werden sollen? Weil hier nicht akzeptiert werden kann, dass auf Rührungs-Effekt montierte "Dramatik" wie jener von Max Frisch auf die Reproduktion von Klischees und Stereotypen angewiesen ist, damit sie das bürgerliche Zuschauer*innen-herz berühren kann?
Weil das deutsche Stadttheater die rassistischen Stereotypen evtl doch mehr verinnerlicht hat in seiner Struktur als es seine Verteidiger*innen zuzugeben wagen? Aber eben: Dem Vorwurf bezüglich Halbwissen muss man doch dezidiert widersprechen.
Ebenfalls sehr zu empfehlen, ist natürlich das sorgfältig recherchierte Buch "Stürmische Jahre" von Eveline Hasler zu der Phase des Schauspielhaus Zürich, Zitat aus dem unten verlinkten Artikel: "Hasler rundete ihre Lesung ab, indem sie auf die Rolle des Schriftstellerverbands in der damaligen Zeit aufmerksam machte. «Der Verband war ge­gen­über Rieser feindlich eingestellt und verlangte, er solle mehr Werke von Schweizer Dramatikern spielen lassen», erklärte sie. «Auch Max Frisch tat sich damals ge­gen­über dem jüdischen Theaterdirektor mit antisemitischen Äusserungen hervor. Dies, lange bevor er ‹Andorra› verfasst hatte», sagte Hasler weiter. Die damalige Stimmung war ein «Wald von Aggressionen»."


https://www.zsz.ch/meilen/standard/drei-familien-in-einer-dunklen-zeit/story/29224542
Andorra, Münster: Einbildung
Meine erste "Begegnung" mit Max Frisch: Ein Fersehinterview mit einem ziemlich eingebildet wirkenden Mann, der offenbar vor allem dafür berühmt geworden ist, dass er Preise, die man ihm verehren wollte, ablehnte, verehrt zu bekommen... Das war der Anlass für mich, mal selber nachzuschauen, ob die Preise, die er abgelehnt hatte, verdient hatten, von ihm als Autor seiner Werke abgelehnt zu werden und ich las also zunächst: Andorra. Dann alles was irgendwie Dramatik war. Dann Gantenbein und Homo Faber - nein: Ich versuchte, Gantenbein und Homo Faber zu lesen, allein es hat mich beinahe zu Tode gelangweilt, deshalb brach ich das Lesen jeweils vorzeitig ab. Das machte mich mir verdächtig der sexistischen (würde man heute sagen) Voreingenommenheit gegen eingebildet wirkende Autoren, die Romane darüber schreiben, wie sie gerne von sehr viel jüngeren Frauen geliebt werden wollen, die sie sogar dann unwiderstehlich finden, wenn sie ohne es zu wissen ihre eigenen Töchter und obwohl sie selber emotionalgeistig so eher behindert sind - Und so prüfte ich, ob ich unrecht hatte beim Lesen seiner Tagebücher. Ich fand, dass er sich mitunter selbst sehr überschätzt hatte, insbesondere, was seine Wirkung auf Brecht und seinen Kreis betraf. Und dass er mitunter auch sehr gute genaue Beobachtungen gemacht hatte. Seine Methode des Selbst-Interwievs habe ich dann geklaut und mehrfach erfolgreich zu meiner Selbstberuhigung eingesetzt in den frühen Neunziger Jahren. Er hat im Zusammenhang mit Ingeborg Bachmann, die weitaus klüger als er zu Literatur und Poetik schreiben konnte - abgesehen davon, dass sie wirklich Lyrik schreiben konnte! - einmal etwas sehr Hässliches über Frauen gesagt. Sinngemäß etwa, dass es ihm auf den Sack ginge, dass Frauen, die Sachen leisten, die wissenschaftlich undoder ästhetisch wirklich sehr bemerkenswert sind, diese ihm scheinbar widerliche Angewohnheit hätten, immer wie aus dem Nichts, also eher so Geschichtszusammenhangs-los, auftauchen würden. - Das scheint mir in jeder Hinsicht schon immer und bis zu seinem Ende sein Problem gewesen zu sein nicht nur mit Frauen, sondern mit Menschen allgemein... :Bevor er den Menschen ins Holozän zurückschreiben konnte, hatte er den Menschen für sich schon fertig. - Gut so. - An Dürrenmatt kam er nie heran. Weder als Dramatiker noch als kritischer Denker. Bis heute finde ich "Andorra" besser als "Biedermann und die Brandstifter", bin aber inzwischen zu eingebildet, um das zu dramaturgisch undoder anders theaterfachlich zu begründen.
Andorra, Münster: an den Autor
lieber @max frisch

vielleicht erinnerst du dich ja noch an die zeit am züricher theater von rieser, in welcher du an deine jüdische freundin zahlreiche briefe geschrieben hast? in den gesprächen mit thomas mann habt ihr oft über die möglichkeit diskutiert, dort ein migrantentheater für exilanten am leben zu halten und konntet lange beide nicht die zweifel zwischen "toleranz und konsequenz" ausräumen.

aus heutiger sicht sind diese damaligen zweifel nicht für alle zu verstehen - manchmal bieten sie auch die grundlage für neue werke, so als hätten diese damit einen anspruch JENSEITS aller zweifel DICH zweifelsfrei in ein bild zu passen - ist das nicht die pure ironie zu deinem haupthema: "du sollst kein bild dir machen" ?

ich habe die bücher von eveline hasler nicht gelesen - jedoch viel über die 30er jahre und auch alle bücher von dir. wie schon gesagt: ich interessiere mich nicht für folklore, auch nicht für "munkel-folklore" ...

"Wenn sie im Collageverfahren historische Zeugnisse stehenlässt, ohne sie in den eigenen Text einzuschmelzen, wirkt ihr Buch besonders überzeugend. Eingestreute Bemerkungen wie «die Leute munkelten», «raunte man», «hiess es» unterstreichen zum andern die Unüberprüfbarkeit von kolportierten Berichten, etwa über die Eheleute Rieser. Solches liest sich dann wie ein chorähnlicher Kommentar, der Distanz markiert."

https://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/die-dreissger-jahre-am-zuercher-schauspielhaus-1.18609722
Andorra, Münster: Vorschlag für Stemann
Lieber Max, was mich durchaus immer stark an deinem "Jürg Reinhardt" schockiert hat, ist die Ähnlichkeit des Plots mit dem (heute) "Vorbehaltsfilm" genannten Nazi-Propagandastreifen "Ich klage an" (mit der gleichen kitischig propagandistischen "Schönheits"-Konzeption, die unübersehbar ins Politische-rasssistische rüberkippt. Eine andere Frage: Ob die neorechte NZZ das richtige Blatt ist, um Eveline Haslers Werk zu würdigen (und ob Beatrice von Matt die richtige ist, über den Fall zu schreiben -sie hätte 50 Jahre selber Zeit dafür gehabt und es nicht gemacht- ist nochmals eine andere Frage. Wenn das Schauspielhaus Zürich unter Nicolas Stemann einen ästhetischen Coup landen will, dann soll doch Philipp Ruch mit seinem immersiven Ästhetizismus-Ansatz "Jürg Reinhardt" umsetzen, als erste Schauspielpremiere 2019. Ein Werk - garantiert voller Schönheit. Das würde dir sicher gefallen. Und im Zuschauersaal sitzt die ganze neu-ermannte Republik und raucht Pfeife. Dir zu Ehren. Die zu Füssen.
Andorra, Münster: Rieser / Wälterlin
Lieber Samuel, du kritisierst hier Kommentare, welche dir "gefährliches Halbwissen" vorwerfen, und dem kann ich soweit zustimmen: "gefährlich" ist dein Halb- oder Dreiviertelwissen nicht. Ich will auch nicht behaupten, dass ich so viel mehr wüsste als du. Aber ich denke, dass du deinen eignen Anliegen durch schiere Schludrigkeit gepaart mit einem großspurigen Tonfall häufig schadest. Was ich mit Schludrigkeit meine? Unter "#19" erwähnst du den Zürcher Intendanten Ferdinand Rieser, dessen Verdienste von dem jungen Max Frisch ebenso verkannt wurden, wie von einem großen Teil der Zürcher Gesellschaft. Du schreibst, Rieser sei jüdisch und homosexuell gewesen. Im nächsten Kommentar (#20) erwähnst du das laut deinen Worten sorgfältig recherchierte Buch "Stürmische Jahre" von Evelyn Hasler, das in romanhaft fiktionalisierter Form die Geschichte der Ära Rieser nacherzählt. Um es kurz zu machen: nichts in dem Buch legt nahe, dass Ferdinand Rieser homosexuell war. Und auf der Seite schwulengeschichte.ch äußert sich Ernst Ostertag über die Zeit der Ära Wälterlin am Schauspielhaus: "Und diese Entwicklung prägten Homosexuelle an entscheidenden Stellen mit. In der Ära Rieser war dies nicht der Fall." Es entsteht daher der Eindruck, als wüsstest du über das Buch von Frau Hasler nicht mehr, als du im Internet darüber gelesen (und hier gleich verlinkt) hast. Und als ob Ferdinand Rieser auch nur deshalb homosexuell genannt wird, weil es dir gerade in deine Argumentation passt.
Andorra, Münster: Dank
Lieber Rüdeger,
Das stimmt. Ich habe eine Übersprungsassoziation gemacht - und in dem Punkt Rieser/Wälterlin verschmolzen zu einer Person. Rieser wurde von der Frontisten der damaligen Zeit wegen seiner „Rasse“ und seiner unschweizerischen Spielplans attackiert und nicht wegen seines „Schwulseins“. Das war falsche Vermischung mit der Geschichte von Oskar älterlin. Danke für den Hinweis.
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