Und Gerhard Stadelmaier tobt

von Falk Schreiber

3. Januar 2018. Das erste Mal fiel mir Gerhard Stadelmaier Mitte der Neunziger im Frankfurter Schauspielhaus auf. Die Premiere auf der kleinen Kammerbühne war ausverkauft und aus irgendwelchen Gründen war die Kartenreservierung für den FAZ-Kritiker verlorengegangen. Für die Pressesprecherin war das eine mittlere Katastrophe: Der Fehler lag augenscheinlich bei ihr, der Saal war voll, und Stadelmaier hatte keinen Platz. Zumal dieser sich auch noch anschickte, eine Szene zu machen: Er baute sich drohend vor dem Pressetisch auf, ein breiter, wuchtiger Mann, der sich seiner beeindruckenden Physis vollkommen bewusst war, "Ich bin Gerhard Stadelmaier!" grollte er mehrfach, "Wissen Sie, wen Sie hier vor sich haben?" Panisch versuchte die Pressesprecherin, einen Platz zu organisieren, am Ende verzichtete der Dramaturg, und der Kritiker kam auf dessen Platz zu sitzen, immer noch wütend. Am Montag erschien in der FAZ ein Verriss des Abends.

Ich weiß nicht mehr, um welches Stück es sich gehandelt hatte, nicht, wer die Hauptrolle spielte und auch nicht, wer inszenierte. Ich weiß aber noch, dass ich lange Zeit Witze über diesen Auftritt machte. "Ich bin Falk Schreiber!", deklamierte ich affektiert, "Wissen Sie, wen Sie hier vor sich haben?", Gelächter. Nie wollte ich so werden wie Stadelmaier, ein Großkritiker, der überzeugt ist von der eigenen Autorität, nie wollte ich erwarten, dass jeder, mit dem ich es zu tun habe, sofort erstarrt, sobald mein Name fällt.

Autorität in der Redaktion

Natürlich war ich damals auf eine jugendliche Weise arrogant. Denn Stadelmaier und eine Handvoll anderer Großkritiker hatten Autorität, weil sie tatsächlich mehr kannten als der durchschnittliche Theatergänger, als ich. Ihre Redaktionen ermöglichten ihnen nicht zuletzt durch großzügig bemessene Reiseetats, jede Inszenierung zu sehen, die sie sehen wollten, was auf lange Sicht den ästhetischen Horizont weitete. Ich, der ich regelmäßig die Bühnen im Rhein-Main-Gebiet abklapperte und einmal im Jahr zum Theatertreffen nach Berlin fuhr, hatte diesen Horizont naturgemäß nicht.

In ihrer Festrede zu zehn Jahren nachtkritik.de stellte die Schriftstellerin Annett Gröschner fest, dass der Erfolg von nachtkritik als Theater-Leitmedium zeitgleich mit dem Verschwinden des Großkritikers stattfand: "Dass Kritiker, und ich gendere hier mit Absicht nicht, von ihrem Hochsitz steigen mussten, um sich partizipativen Kommunikationsformen zu stellen, dazu hat auch Nachtkritik beigetragen." Gröschner hat recht, und sie hat gleichzeitig unrecht – Figuren wie Gerhard Stadelmaier sind tatsächlich von der Bildfläche verschwunden. 2015 ging Stadelmaier in den Ruhestand, Henning Rischbieter von Theater heute starb 2013, C. Bernd Sucher beendete seinen Exklusivvertrag mit der Süddeutschen Zeitung 2005, Peter Iden verließ die Frankfurter Rundschau 2000 (wobei diese ganzen Kritiker in kaum einer Weise miteinander vergleichbar sind, nur in ihrer nicht zu hinterfragenden Autorität). Und vielleicht kamen da wirklich wenig Großkritiker nach, mag sein. Und, wer weiß, vielleicht hat das auch damit zu tun, dass die Redaktionen die Reiseetats auf nahezu Null eindampften. Vielleicht, aber nicht ausschließlich.

Veränderte Öffentlichkeit

Etwas ist ins Rutschen geraten, das Standing von Kritikern wie Stadelmaier ist nicht mehr unantastbar – und wem der (nicht nur ästhetische) Konservatismus dieser Kritiker ohnehin gegen den Strich ging, der musste sich eigentlich freuen über diesen Autoritätsverlust. Aber Vorsicht: Auch wenn deren Urteile häufig apodiktisch daherkamen und so einen Theaterdiskurs verfestigten, der einem seltsam gestrig vorkam, so schufen sie doch eine Öffentlichkeit fürs Theater.

Spiralblockaffaere1Gerhard Stadelmaiers Text "Angriff auf einen Kritiker" löste 2006 im Zuge der "Spiralblockaffäre"
eine wochenlange Feuilletondebatte über das Selbstverständnis der Theaterkritik aus
© Screenshot FAZ

Wenn ein Kritiker heute in einer Vollredaktion ein Theaterthema anbietet, das nicht Burgtheater heißt, dann ist die Reaktion der theaterfernen Ressortleitung meist Stirnrunzeln. Theater war präsenter in den Redaktionen, als Stadelmaier, Sucher, Iden noch schrieben, zumal sie eben nicht nur ins Burgtheater, das Deutsche Schauspielhaus und die Schaubühne schauten, sondern von Zeit zu Zeit auch an kleinere Häuser. Dass sie diese Häuser mit zunehmendem Alter fast durchgängig verrissen, steht auf einem anderen Blatt – Fakt ist, dass sie eine Sichtbarkeit fürs Theater schufen.

Diese Sichtbarkeit ist verlorengegangen, im Großen wie auch im Kleinen. Für die Hamburger Tanzszene war es eine Katastrophe, als Klaus Witzeling, Tanzkritiker beim Hamburger Abendblatt, 2013 überraschend starb. Nicht weil Witzeling übertrieben positiv über den Tanz geurteilt hätte, sondern weil Witzeling überhaupt einen Blick auf die Szene hatte und zudem die Autorität besaß, deren Relevanz in der Redaktion durchzusetzen.

Pluralisierter Diskurs heute 

Eine andere Frage ist, ob Gröschners Beobachtung des verschwundenen Großkritikers und dem parallelen Aufstieg der nachtkritik.de tatsächlich haltbar ist. Sicher, der Diskurs über Theater wurde pluralisiert, und die Arbeit von nachtkritik.de hat einen nicht zu unterschätzenden Anteil an dieser Pluralisierung. Es ist unmöglich, eine Kritikermeinung absolut zu setzen, wenn eine Inszenierung von mehreren Medien teils kontrovers beurteilt wird – und die Münchner Kammerspiele, das Hamburger Thalia oder das Berliner Ensemble sind immer im Blick mehrerer Medien, darunter nachtkritik.de.

 Tweet von FAZ-Redakteur Patrick Bahners: Ausriss der Theaterkritik-Seite, die es von 1970 bis
1974 in der FAZ gab

Aber wie ist das auf dem platten Land? In Kassel, in Saarbrücken, in Ingolstadt? Das Stadttheater Ingolstadt weiß, dass Anja Witzkes Stimme im Donaukurier nicht eine von vielen ist, sondern meist die einzige – Ingolstadt ist ein sogenannter Einzeitungskreis, eine Großstadt, in der nur eine einzige Tageszeitung erscheint und in der deren Kritikerin weiterhin den öffentlichen Diskurs über ein Stück prägt. Vielleicht ist der Großkritiker gar nicht tot, vielleicht hat er sich nur zurückgezogen in eine Sphäre, in der er nicht mehr so deutlich wahrgenommen wird wie früher.

Schwindendes Gefühl der Unfehlbarkeit

Gerhard Stadelmaier schimpfte einst über das Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaften: "Die größte Unglücksschmiede des deutschen Theaters" habe sich in der mittelhessischen Provinz etabliert. Was angesichts der längst sichtbaren Qualität von Gießener Absolventen wie Rimini Protokoll, Hans-Werner Kroesinger oder She She Pop mehr haltloses Gemotze war als ernsthafter Diskussionsbeitrag. Das ist nämlich die Gefahr, wenn man sich zu sicher fühlt in seiner eigenen Autorität: dass man zur lächerlichen Figur wird, wo das eigene Falschliegen offensichtlich ist.

Und vielleicht versteckt sich hier die Veränderung, die Gröschner in ihrer nachtkritik-Festrede spürte. Vielleicht ist der Großkritiker nicht verschwunden, aber dafür das Stadelmaier'sche Gefühl der eigenen Unfehlbarkeit. Vielleicht ist die Autorität des Kritikers brüchiger geworden. Vielleicht ist auch nur die Angst gewachsen, sich lächerlich zu machen. Darüber kann man sich natürlich freuen, andererseits: Wenn ich das nächste Mal einer Redaktion ein abwegiges Thema anbiete, die Antwort lautet "Das interessiert doch niemanden!" und ich nicht das Selbstbewusstsein habe, zu sagen "Solange es mich interessiert, ist das Thema relevant!", dann denke ich daran, wie Stadelmaier im Foyer des Frankfurter Schauspielhauses tobte.

schreiber falk kleinFalk Schreiber, Jahrgang 1972, ist seit 2001 Theater- und Kunstredakteur bei kulturnews und umagazine.de, lebt in Hamburg. Schreibt regelmäßig für Theater heute, Hamburger Abendblatt und nachtkritik.de. Mitbegründer des Bloggerkollektivs Les Flâneurs, von 2013 bis 2015 Jurymitglied der Hamburger Kulturbehörde im Förderbereich Tanz.

 

Mehr lesen? Alles über Theaterkritik auf nachtkritik.de im entsprechenden Lexikoneintrag.

 

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