Presseschau vom 6. Januar 2018 – Die Schweizer Wochenzeitung spürt Widersprüche in der Debatte um die Volksbühne Berlin auf

Berliner Paradoxien

Berliner Paradoxien

6. Januar 2018. In einem ausführlichen Beitrag für die Schweizer Wochenzeitung (5.1.2017) identifiziert Tobi Müller im Streit um Chris Dercons Volksbühne Berlin einige Widersprüche. "Castorfs Volksbühne verachtete die Norm. Jetzt muss seine Regentschaft für diese Norm selbst stehen. Es ist so vieles verkehrt an dieser Debatte."

So erhitzt insbesondere der Umstand die Gemüter, dass Dercon bislang kein Ensemble gebildet hat (und es Zweifel darüber gibt, ob er dieses Ziel überhaupt verfolgt). Dabei habe Castorf selbst das Ensemble, diesen "Fetischbegriff des Systems Stadttheater", längst aufgeweicht und zeitweise nur neun festangestellte Schauspieler*innen beschäftigt. Zudem stehe die Ensembleidee vielen Künstler*innen heute sogar im Weg.

Falsche Solidarität

"Martin Wuttke oder auch Milan Peschel sind Schauspieler, die an den besten Häusern für gutes Geld arbeiten, viel vor der Kamera stehen und als freie Kleinstunternehmer zu sicher verdientem Wohlstand gekommen sind." Von der Klasse der Techniker*innen und ihren Wünschen sei das Leben dieser Kleinunternehmer*innen weit entfernt. "Ihre Art des freien Arbeitens bedroht die festen Strukturen des Apparats, deren Erhaltung man im gleichen Zug und aus sicherer Position einfordert". Falsche oder verlogene Solidarität löse keine Probleme, "sie sorgt nur für eine geschlossene Abwehr für alles vermeintlich Theaterfremde."

Die Front zwischen Altmarxisten im Subventionsbetrieb und den neoliberalen Kreativnomadinnen habe weder mit der Realität noch mit den Wünschen der Kunstschaffenden viel gemein. "Mit jenen der festangestellten MitarbeiterInnen hinter der Bühne vielleicht schon."

Dercon wolle die Künstler und ihre assoziierten Kollaborateurinnen ins Zentrum setzen und erst anschliessend schauen, wie der Apparat diese Kunst herstellen könne. "Das ist die Utopie des freien Theaters, die aber im schlechtesten Fall die schlankeren Strukturen zur Folge hat, die der Neoliberalismus fordert." Es gälte, "einen flexibleren Apparat zu erfinden, der dennoch eine hochwertige und auch ausgelastete Beschäftigungslage in den Abteilungen wie Kostüm, Bühnenbild, Licht und Technik erlaubt".

Ende der Wende

Diese Erwartung habe Deron bislang nicht eingelöst. Auch gebe es große Löcher im Spielplan, zu wenig werde vor Ort produziert, zu viel als Gastspiel eingekauft. Jedoch: "Die neuen Strukturen an der Volksbühne zu verhindern, um alte wiederherzustellen, hiesse vor 1992 zurückzugehen, als Castorf anfing und die Wiedervereinigung noch eine offene Wunde war. Das notwendige Ende der Wende kann in der Volksbühne nicht ein Akt der Disziplinierung einläuten, sondern nur starke Kunst, die zu einer dichten Idee findet. Die Kunst ist schon da, die Idee aber noch nicht."

(miwo)

 

Mehr zum Thema:

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