Kommt Pop von Populismus?

von Sascha Westphal

Oberhausen, 12. Januar 2018. Das Stück beginnt schon im Foyer. Zwischen dem wartenden Publikum schlendern Menschen in nicht selten offenen Bademänteln hin und her. In dem gar nicht so geräumigen Bereich zwischen der Garderobe des Oberhausener Theaters und den Saaltüren haben sich einige Badegäste auf weißen Handtüchern niedergelassen, um die nun die Zuschauerinnen und Zuschauer herumgehen müssen.

Wir sind das Volk

Es gibt zwar kein Bad im Foyer und keinen Pool, aber die Botschaft ist auch so offensichtlich: Es geht aufwärts in dem hier namenlos bleibenden Kurbad. Man kann sich vor Gästen kaum retten. Später im Saal wird der Bürgermeister Peter Stockmann sogar von internationalem Renommee fabulieren und eine goldene Zukunft heraufbeschwören, solange nur die Querulanten und Zweifler nicht zu Wort kommen.

Ein Volksfeind1 560 Ant Palmer uDie Stockmann-Brüder: Jürgen Sarkiss und Clemens Dönicke © Ant Palmer

In den meisten Theatern würde dieser Anfang vor dem Anfang bemüht und zumindest ein wenig lächerlich wirken. Aber in Oberhausen, wo Florian Fiedler seit Beginn dieser Spielzeit konsequent auf einen möglichst direkten Dialog mit dem Publikum setzt, fügen sich die Badegäste perfekt ins Bild ein. Fiedlers Inszenierung, die diesem Vorspiel vor dem Theater(saal) folgt, hat dadurch etwas von einer sozialen Plastik. Jeder ist beteiligt, die Spielerinnen und Spieler ebenso wie die Zuschauerinnen und Zuschauer. Dazu passt dann auch Maria-Alice Bahras langer, mitten durch den Saal und über die gesamte Bühne führender Holzsteg. Jeder ist hier Teil des Volkes, das den Badearzt Dr. Thomas Stockmann zu einem Feind erklärt und das dafür von dem Idealisten verachtet wird.

Prekäre, postfaktische Welt

Oberhausen ist schon die dritte Station von Florian Fiedlers Inszenierung dieses durchaus heiklen Stücks. Ursprünglich hatte er sie vor gut zehn Jahren am Schauspiel Frankfurt entwickelt. Von dort aus ist sie mit ihm weiter ans Staatsschauspiel Hannover gewandert. Nun hat Fiedler sie noch einmal für seine neue Wirkungsstätte überarbeitet und dabei zumindest in der Besetzung einen deutlich anderen Akzent gesetzt. Ibsens Stück ist das Porträt einer Männergesellschaft, in der Frauen nur als liebende Gattinnen oder als leicht naive Töchter vorkommen. Mit diesem nicht mehr zeitgemäßen Geschlechterbild bricht Fiedler konsequent.

Die zentralen Figuren, die Brüder Stockmann, sind zwar weiterhin Männer, aber sie bewegen sich in einer dezidiert weiblichen Welt. Hovstad und Billing sind nun zwei extrem junge, von Banafshe Hourmazdi und Emilia Reichenbach gespielte Redakteurinnen, die von unten kommen und mit einem extrem kühlen Gespür für Macht ihre Haltungen den gerade aktuellen Verhältnissen anpassen. Und man kann es ihnen nicht einmal übelnehmen. In Banafshe Hourmazdis und Emilia Reichenbachs Spiel schwingt immer eine nur mühsam unterdrückte Verzweiflung mit. Beide wissen genau, wie prekär ihre Situation in einer post-faktischen Welt ist, in der die Männer mit allen Mitteln ihre eigene Macht verteidigen.

Ein Volksfeind2 560 Ant Palmer uLet's Dance: Banafshe Hourmazdi und Susanne Burkhard (im Hintergrund: Clemens Dönicke, Emilia Reichenbach, Martin Engelbach, Peter Engelhardt) © Ant Palmer

Im Vergleich dazu haben es Anna Polkes Gerbereibesitzerin Frau Kill und die immer nach Mäßigung rufende Buchdruckerin Aslaksen, die bei Lise Wolle durchaus Rückgrat hat, aber keinerlei Skrupel kennt, deutlich einfacher. Ihre Position ist zumindest materiell gefestigt. Aber auch sie müssen fortwährend um ihren Ruf und ihre Stellung kämpfen. Aus Ibsens beinahe stereotyper Abrechnung mit den Stützen der bürgerlichen Gesellschaft wird durch diese Verschiebung ein subtiler Kommentar zu den gesellschaftlichen Machtverhältnissen im 21. Jahrhundert.

Naiver Idealismus

Aber nicht nur den Nebenfiguren gewinnt Fiedler neue Aspekte ab. Auch die beiden Brüder passen nicht ins übliche "Volksfeind"-Schema. Jürgen Sarkiss spielt den skrupellosen Technokraten Peter Stockmann, für den Geld mehr als Gesundheit und Wahrheit zählt, als gemäßigten Demagogen. Seine Argumente mögen zynisch und kalt sein. So gelassen und klar, wie er sie vorträgt, kann man sich ihnen kaum verschließen, zumal Clemens Dönickes Badearzt zunächst viel zu jungenhaft aufgekratzt wirkt. Diesem offensichtlich im Innern Teenager gebliebenen Fanatiker will wohl kaum jemand das Schicksal einer ganzen Stadt in die Hände legen. Die Wahrheit ist eben das eine, ihre Präsentation das andere. Und am Ende ist letzteres entscheidender.

Der große Coup der Inszenierung ist dann die von Thomas Stockmann einberufene Versammlung, in der das Publikum zur "kompakten Majorität" wird, die für ihren Wohlstand alle Bedenken opfert. Clemens Dönicke hält zwar auch bei Fiedler seine Brandrede gegen die Mehrheit, aber ergänzt sie noch durch eine Paraphrase von Edwin Abbott Abbotts Parabel Flächenland, die bei Dönicke von den Stockmann-Kindern ersonnen wurde. Hier steht kein Eiferer auf der Bühne, der sich in faschistoiden Ideen einer unmündigen Mehrheit verliert. Dieser Stockmann ist eher ein melancholischer Träumer, über den die Welt zwangsläufig hinweggehen wird und der das in seinem Innersten auch weiß. Und wie sie über ihn hinweggeht.

Medien und Macht

Kaum hat der Arzt die Bühne verlassen, kommen seine Gegenspieler zurück, aber nicht um weiter im Text zu gehen. Sie verwandeln die Inszenierung stattdessen in ein Rockkonzert mit Sarkiss' Bürgermeister als verführerischem Frontman, für den die beiden Redakteurinnen und die Buchdruckerin bereitwillig den Background-Chor geben. Treffender lässt sich das Verhältnis von Macht und Medien kaum darstellen. Und wer dabei noch an die 90er Jahre und das innige Verhältnis von Politikern wie Gerhard Schröder, Tony Blair und Bill Clinton zu den Popstars jener Jahre denkt, liegt sicher nicht ganz falsch. Wenn schließlich zum Abschluss dieses kleinen Ablenkungsspektakels Let Me Entertain You erklingt, weiß jeder: Pop ist auch nur ein anderes Wort für Populismus.

 

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen, in der Übersetzung von Heiner Gimmler
Regie: Florian Fiedler, Bühne: Maria-Alice Bahra, Musik: Martin Engelbach, Peter Engelhardt / Frank Wulff, Dramaturgie: Sibylle Baschung / Meike Sasse.
Mit: Clemens Dönicke, Susanne Burkhard, Daniel Rothaug, Anna Polke, Jürgen Sarkiss, Banafshe Hourmazdi, Emilia Reichenbach, Lise Wolle, Patrick O. Beck, Martin Engelbach, Peter Engelhardt
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.theater-oberhausen.de

 

Kritikenrundschau

Honke Rambow schreibt auf ruhbarone.de (13.1.2018): Florian Fiedler stelle sich "klar auf die Seite des Aufklärers Thomas Stockmann", dem allerdings völlig das Verständnis für die gesellschaftlichen Zusammenhänge und die Schärfe fehle, um zum Gegenspieler seines Bruders zu werden. Die Gesänge verhinderten zunächst die "Entwicklung der Figuren", Fiedler versuche, mit den Songs eine Kommentarebene einzuziehen, opfere dafür aber "viel an nachvollziehbarer Psychologie". Das ästhetische Konzept der Inszenierung sei ihre "Disparatheit". Klassische psychologische Rollengestaltungeben, neben einem "grimassierenden Clownsduo", "Pantomimennummern" oder "parodistischer Schreckschraubigkeit". Letztlich interessiere Fiedler der Kulminationspunkt in der großen Bürgerversammlung. Hier werde es "richtig politisch und appellhaft", aber der Moment der Verunsicherung des Publikums werde allzu schnell zurückgenommen.

Ibsens "Volksfeind" sei in Oberhausen "auf eine sehr packende Art und Weise aktualisiert worden", sagt Stefan Keim im Gespräch für die Sendung "Mosaik" auf WDR 3 (13.1.2018). Als seltenen Glücksmoment des Stadttheaters hebt der Kritiker das zentrale Rockkonzert hervor, eine "Manipulation der abgefeimtesten und opulentesten Art", in der sichtbar werde, "wie wir alle vom Entertainment an der Nase rumgeführt werden". Mit diesem Abend habe Oberhausen nach anfänglichen Startschwierigkeiten der neuen Intendanz nun "wirklich geliefert, und ich hab die große Hoffnung, dass es jetzt richtig losgeht", sagt Keim.

Als des Berliner Theatertreffens würdig bewertet Klaus Stübler in den Ruhr Nachrichten (14.1.2018) Fiedlers "Volksfeind". Hervorhebenswert findet er am Oberhausener Update der Inszenierung aus dem Jahr 2007 nicht nur den Genderaspekt, sondern auch die Gleichrangigkeit der Gebrüder Stockmann: Clemens Dönicke spiele einen "ruhig-nachdenklichen Badearzt, dem man seine grundehrliche Haltung abnimmt, ihn aber auch als Träumer abtun könnte". Jürgen Sarkiss als Bruder Peter im Amt des Bürgermeisters gebe den "coolen, subtilen Demagogen ab, der es versteht, die Leute für dumm zu verkaufen".

Stockmann als Whistleblower, die Presse als Fähnchen im Wind: um die Gefährdung der Demokratie drehe sich auch dieser Abend, wie schon Fielders Oberhausener Auftakt-Inszenierung "Die Schimmelmanns", schreibt Ralph Wilms in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (15.1.2018). Wilms lobt den "Screwball-Appeal wuchtig platzierter verbaler Schlagabtausche", der diesen dieser "Volksfeind" in seinen besten Momenten auszeichne. Gar nicht komödiantisch karikierend agiere allerdings Jürgen Sarkiss als Peter Stockmann: "Mit Gaga-Säulengrafiken wendet er die Stimmung gegen seinen Bruder – und ein Mini-Konzert manipuliert die Stimmung im Publikum: Während Sarkiss, Wolle und Co. zu 'Suspicious Minds' abrocken, wird ganz en passant die schöne Wohnung des guten Doktors zerlegt: Progrom-Musik." Einziger Kritikpunkt an der "druckvollen Inszenierung": sie zeige "zwar die Eitelkeit, aber nicht die Hybris des Doktors", so Wilms. "Dazu mag man Clemens Dönicke viel zu sehr als lieben Loser."

 

Kommentare  
Volksfeind, Oberhausen: lohnt
Ich stimme dem oben genannten Bericht absolut zu. Ein guter kurzweiliger Abend. Ein Besuch der sich lohnt.
Volksfeind, Oberhausen: wie bleibt mensch integer?
absolut sehenswerte inszenierung - ein spannender unterhaltsamer abend - der auch bezüglich kommunaler verhältnissein verwaltung, politik parallelen in der realen wirklichkeit oberhausens bereit hält - demokratische mehrheiten - manipulationsmasse -
wie bleibt mensch integer angesichts einer
gesellschaft, die sich immer weiter entsolidarisiert.........
Volksfeind, Oberhausen: vielleicht
Keine Ahnung. Vielleicht, indem er nicht jede Gelegenheit, die Medien ihm im üblichen medialen Rahmen bieten, nutzt, um seine gesellschaftspolitisch gutmeinenden Meinungen direkt zu äußern???
Volksfeind, Oberhausen: Frage
#3 Merkste selber, ne?
Volksfeind, Oberhausen: Fragen
#4: Möglicherweise. Möglicherweise ist aber auch die Frage bedenkenswert: Welches ist der ÜBLICHE Rahmen? Wie geht INDIREKT?
Volksfeind, Oberhausen: heißer Kandidat
Ich möchte mich Klaus Stüblers Kritik in den "Ruhr Nachrichten" anschließen: Diese Inszenierung ist ein heißer Kandidat für das Theatertreffen 2018.
Ein Volksfeind, Oberhausen: fragwürdiger Begriff
Im Ernst, Sascha Westphal? Pop ist auch nur ein anderes Wort für Populismus? Ich würde mir etwas mehr gedankliche Genauigkeit von den Nachtkritikern wunschen. Solche Floskeln sind gefährlich. Klar wissen wir nicht erst seit den Nazis, dass große und unterhaltsame Spektakel ein gutes Mittel für Demagogen und Populisten sind, die Massen mitzureißen und politisch zu verführen. Brot und Spiele. Aber das macht das Populäre nicht an sich schuldig und populistisch. Oder würden sie auch sagen: Islam ist nur ein anderes Wort für Islamismus? Und was wäre die Altrnative, ein elitärer Kulturbegriff? Da begeben sie sich für eine schmissigen Titel- und Schlusszeile in gefährliches Fahrwasser. Man könnte mit gleicher Münze Fiedler vorwerfen, dass er das effekthascherische Popkonzert clever benutzt, um seine Inszenierung massentauglich zu machen. Um Missverständnissen vorzubeugen: ich fand es einen sehr unterhaltsamen, sehr gut gemachten und gespielten Abend. Es fehlte aber für mich jede politische Schärfe. Um die spannende Frage im Stück, dass Weltbeglückungskonzepte auch totalitäre Elemente beinhalten, hat sich Fiedler mit Popmusik und Power drumrum gedrückt. Schade, aber das sagt nichts über die Popmusik.
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