Ein roter Lastwagen türkischer Bauart

von Steffen Kopetzky

Türkei, 2008. Meine erste Station war Istanbul, und so wundersam es mir jetzt gerade ist, dass ich mir unter dieser Traummetropole meiner Kindheit nun tatsächlich etwas vorstellen kann, so selbstverständlich normal war meine Ankunft. Noch war der Flughafenbus nicht abgefahren, da rief mich Sabo an und fragte wo ich sei. Ich sagte, im Bus, und er meinte dann nur noch, dass er mich abholen werde, und legte auf.

Es fahren hunderttausend Busse auf den Straßen Istanbuls, aber es gibt nur eine Buslinie vom Flughafen zum Taksim-Platz (wohin fast jeder ausländische Reisende muss...) und die funktioniert zuverlässig wie eine Glashütte Uhr, so dass mich Sabo gut dreißig Minuten später tatsächlich entdeckte, als ich gerade mein Gepäck bekam. Er warf sich meinen Kleidersack über die Schulter und machte eine winkende Kopfbewegung.

Ich murmelte etwas von Hotelreservierung und dass ich noch mal schnell den Namen nachschauen wolle, es müsse aber ganz in der Nähe sein. Sabo starrte mich schnaufend an und erwiderte, dass ich aufs Hotel sch... solle und wir jetzt ohne weitere Umstände nach Hause gingen. Ich wagte es, noch einmal zu protestieren, aber er fletschte grinsend seine nagelneuen Zähne und teilte mir ein für allemal mit, dass ich in Punkt meiner Istanbuler Logis nichts zu melden habe, so lange er, Sabo, in diesem fürchterlichen Moloch über einen funktionierenden Hausschlüssel verfüge.

Wiener G'schichten in Istanbul

So kam ich im feuchtwarmwindigen Istanbul (der weit geöffneten Schatzkammer aller türkischen Künste) nicht nur in den Genuss einer interessanten Inszenierung von "Draußen vor der Tür", sondern durchlebte selber das vollkommene Gegenteil dessen, was der arme Beckmann mitmacht – war ich doch von Freunden in ihr wunderbares, einstmals von Armeniern erbautes Haus eingeladen, und stets stand kurze Zeit nach meiner Rückkehr aus der Stadt ein dampfendes Essen auf dem Küchentisch.

Sabo, dem Sohn eines ehemals reichen kurdischen Bäckereibesitzers, ist von seinem Philosophiestudium in Wien (wo die Familie Jahrzehnte verbrachte) nicht nur eine tiefe Abneigung gegen die österreichische Hauptstadt, sondern auch ein astreines Wienerisch geblieben, in welchem er mir unter anderem den geschäftlichen Niedergang seines Vaters schilderte.

Allgemein hätte der Vater viele Fehler gemacht, aber der endgültige Zusammenbruch wäre in den frühen achtziger Jahren durch ein Spekulationsgeschäft mit Käse gekommen, von denen sich viele türkische Geschäftsleute in Wien ein Bombengeschäft versprochen hätten. Sein Vater hatte einen ganzen Sattelschlepper im Rennen – doch blieb der irgendwo auf der Strecke für ein paar Tage liegen, und da er kein Kühlsystem besaß, war die Ladung bei Ankunft kein Käse mehr, und der Vater nicht nur sowieso schon ruiniert, sondern auch noch – da man 17 Tonnen verdorbenen Feta schwerlich über den Gully entsorgen kann – mit einer gesalzenen Rechnung der Stadtwerke konfrontiert.

Sabos Wiener G'schichten waren – obwohl von Untergang und Verfall berichtend – herrlich komisch. Seit er seine Prinzessin gefunden und geheiratet hat, ist er mit dem Schicksal versöhnt, zehrt von einem letzten Appartementhaus auf der asiatischen Seite und träumt davon, nach Vancouver zu gehen, oder so. Jedenfalls in den Westen.

Carving-Ski in Erzurum

Ich hingegen brach nach jenen zwei Tagen in Istanbul in den Osten auf. In Erzurum, zweieinhalb Flugstunden entfernt, gab es keine Flughafenshops, man ging zu Fuß über das Rollfeld, und neben mir bekam ein junger Kerl, der sich voller Begeisterung, aus dem Flugzeug draußen zu sein, sofort eine Zigarette angezündet hatte, von einem herbeigesprungenen Flughafenmitarbeiter eine richtige Abreibung.

Das einzige Hotel, das man über Internet in Erzurum finden konnte, war dann von erfreulicher Behaglichkeit und lag am Rande eines ausgedehnten Skigebiets. Ich war völlig verblüfft, von meinem Zimmer aus auf einen Lift zu blicken, und da es in der Universitätsstadt Erzurum, das auf einer zweitausend Meter hohen Ebene liegt, nichts anderes gab, das ich hätte besuchen können – keine Ausstellung, kein Konzert, nichts als eben das Staatstheater, das ja am Abend spielte – verbrachte ich meine Zeit tagsüber mit der Erkundung der direkt hinter dem Hotel liegenden Pisten und war selbst ganz und gar überrascht, mich nach einer zwanzigjährigen Ski-Abstinenz auf zwei Brettern wiederzufinden und festzustellen, dass all die Wunderdinge, die man sich vom Carving-Ski erzählt, wirklich zutreffen.

Noch überraschter war ich allerdings, als ich die vorzügliche Produktion des "Kreidekreis" von Brecht sah – ja, wieder ein deutsches Stück, noch einer unserer modernen Klassiker. Ganz und gar unklassisch aber folgte das Publikum dem Text, den es offenbar nicht kannte, und die Begeisterung über die finale Entscheidung des Richters, war so groß, dass der Saal spontan vor Erleichterung applaudierte, das war wirklich stark – das ganze Ensemble war gut, aber am stärksten war der vorzügliche Darsteller des Azdak, der den Richter in beide Richtungen offenhielt, und trotz seiner glaubhaften Urigkeit auch immer eine dunkle, willkürliche Seite zeigte.

Busreise mit Schreckensbildern

Von Erzurum bei Tage sah ich neben Flughafen und Busbahnhof eigentlich nur ein paar ausgemergelte Straßen, als ich schon in dem Expressbus saß, der mich zwei Tage später nach Trabzon, ans Schwarze Meer bringen sollte. Ein ehrgeiziger Terminplan wollte mich am selben Abend noch im dortigen Staatstheater haben. Wir fuhren mit halbstündiger Verspätung los, doch dann, kaum dass wir aus Erzurum draußen waren, hielt der Bus schon wieder auf einem improvisierten Parkplatz, der von ein paar armseligen Bauernhöfen und einem Restaurant umgeben war.

Wie sich herausstellte, warteten wir auf den mittelalten Mann, der ganz vorne hingekauert auf dem Mittelgang gesessen hatte, offenbar ein mitbeförderter Verwandter, denn als er von irgendwelchen Erledigungen zurück war, wurde er vom Fahrer, einem etwa fünfzigjährigen, schnurrbärtigen Mann mit einem eigentlich liebenswert großväterlichen Grundzug in seinem Gesicht zusammengebrüllt. Dann gab er Vollgas, und es ging weiter durch schneebedeckte Einöden.

Neben mir saßen zwei junge Männer, die sich Videos auf einem Sony-Notebook ansahen. Ich lehnte mich ein wenig über den Gang, und zu meinem Schrecken handelte es sich um Aufnahmen massakrierter Menschen, alter Leute, Frauen und Kinder, die glasig aufgedunsen und schrecklich verstümmelt über einen Abhang verstreut waren. Immer wieder zoomte die Kamera auf Details, immer wieder öffnete der eine der beiden neue Dateien, und kommentierte sie mit entspannter Stimme.

Viel zu lange starrte ich hin, immer noch sehe ich die Bilder deutlich vor mir, dann riss ich mich endlich los. Ich wagte es nicht, nachzufragen, sondern heftete meinen Blick auf die gut sichtbare Digitalanzeige, die wechselnd Uhrzeit und Außentemperatur angab. Es wurde immer später und kälter. Die Straße, die auf der Ebene von Erzurum vierspurig begonnen hatte, halbierte sich, hatte irgendwann einen dichten Schneebelag, fing sanft an zu steigen, machte eine Kurve und war zu einem Gebirgspass geworden.

Liegengebliebener Sattelschlepper im Schnee

Den ersten auf der Gegenfahrbahn in den Graben gerutschten Lastwagen fand ich irgendwie kurios, aber dann kam noch einer, diesmal auf unserer Seite, der Busfahrer wich aus, hinter der nächsten Kurve standen drei Personenwagen auf der Mitte der Fahrbahn, der Busfahrer, offenbar fest entschlossen, die durch seinen Verwandten vergeudete Zeit wieder hereinzuholen, riss abermals das Steuer herum und überholte schwungvoll, wobei er soweit rechts fuhr wie der aufgetürmte Schnee es zuließ.

Wir kamen noch hundert Meter weiter, bis an die Quelle der Probleme – ein liegengebliebener Sattelschlepper ohne Schneeketten. Rechts hatte ihn vor uns ein anderer Bus zu überholen versucht und war ebenfalls liegengeblieben. So wie auch wir dann für die nächsten vier Stunden. Ich zeigte Nerven, zumal es fürchterlich war, mit anzusehen, wie unbeholfen sich der Fahrer anstellte, wie er immer wieder die Reifen durchdrehen ließ, wie er einen Moment wartete, um es dann neuerlich zu versuchen.

Die gefühlte Wende bei der Sache kam für mich mit dem Entschluss, meine Thermostiefel anzuziehen und nach draußen zu gehen, um mich mit anderen Reisenden, die draußen standen, um nicht drinnen sitzen zu müssen, über die Sache zu unterhalten. Selbst zu sehen, wie tief das Fahrzeug im Schnee saß, hatte etwas Erleichterndes – ich ließ einfach jeden Gedanken an das Stück fahren, und widmete mich dem Schneefall und der einbrechenden Nacht, der blaulichtdurchleuchteten Geschäftigkeit um uns herum, und schließlich jenem paradoxen Moment, als auch noch das letzte andere Fahrzeug weitergefahren war, nur wir nicht.

Käseplatte und J&B in Trabzon

Schließlich kamen wir doch noch in Fahrt, und weit nach 22 Uhr waren wir in Trabzon, wo es exakt zehn Grad warm war und regnete. Es war herrlich, den Bus zu verlassen, und vom Direktor des Theaters persönlich abgeholt zu werden. Sein Schädel war komplett kahl geschorenen, und dazu trug er einen schwarzen Ledermantel. Er hatte seit Stunden an dem Busbahnhof auf mich gewartet, und seine Erleichterung, mich endlich zu sehen, war so groß, dass er mich drückte wie einen alten Freund, was seiner auf den ersten Blick martialischen Erscheinung einen deutlichen weichen Zug verlieh.

Im Hotel bestellten wir eine Flasche Wein und eine Käseplatte, die ich zu meinem Entsetzen fast vollständig aufaß, ich bekam die Videoaufzeichnung des versäumten Stücks, und dann fuhren wir in seine Intendantenvilla und tranken noch eine halbe J&B. Murat erzählte mir von seiner Beförderung zum Direktor in Trabzon, wo er doch so gerne Schauspieler in Ankara geblieben wäre. Aber das türkische Staatstheater ist in solchen Dingen rigoros und stellt sein Personal nach eigenen Bedürfnissen auf.

Danach machte ich einen kleinen nächtlichen Spaziergang durch die Fußgängerzone, die mir gut gefiel, altes Pflaster, das der Regen auf Hochglanz poliert hatte. Drei Stunden Schlaf, und dann brachte mich Murat, der wie alle türkischen Theaterleute, die ich getroffen habe, ein bekennender Langschläfer ist, kreidebleich, aber äußerst nett, auch noch zum Flughafen, der direkt am Wasser liegt.

Warmer Regen in Antalya

So konnte ich auf den hundert Metern von dem winzigen Flugsteig zur Boeing wenigstens einen Blick auf das Schwarze Meer werfen. Während des Flugs dann schlief ich, landete um elf Uhr leicht benommen in Antalya, wo es etwa fünfzehn Grad warm und fast ganz leer von Touristen war, nur einer mit Krückstock sagte unten am Hafen laut und deutlich "Sch..." als es leicht anfing zu nieseln. Aus dem Niesel entwickelte sich ein Gewitter, dessen warmer Regen die Straßen binnen Minuten überflutete und eine herrliche Musik auf das Dach des Taxis trommelte. Wie viel süßer ein heftiges mediterranes Unwetter sich doch anfühlte, als ein ostanatolischer Schneesturm!

Das Stück, das ich an diesem Abend in Antalya sah, handelte von einem liegengebliebenen Lastwagen. Seine Besatzung, ein Fahrer und drei Mitfahrer, kommen aus allen Teilen der Türkei, und während das Fahrzeug stillsteht, erklären sie, wer sie sind und woher sie kommen, sie begegnen zurückgebliebenen Dörflern und schön langsam geht alles den Bach runter. Nicht länger dort zu sein, wo man eigentlich herkommt, und wo anders hin zu wollen, als man ist, vielleicht zurück in die Heimat, vielleicht aber auch in die große Stadt, darin scheint sich dieses ungeheuer dynamische, in Bewegung befindliche Land wiederzuerkennen. Es war ein sehr schönes Stück, von dessen wesentlicher Kulisse, einem großen roten Lastwagen türkischer Bauart ich mir gut vorstellen konnte, ihn bis nach Bonn fahren zu lassen und dort irgendwo zu parken.

 

Der Schriftsteller und Dramatiker Steffen Kopetzky, der die Biennale Bonn gemeinsam mit dem Intendanten Klaus Weise zum dritten Mal kuratiert hat, wurde 1971 in Pfaffenhofen geboren, wo er seit kurzem auch wieder lebt. Sein vierter Roman, "Der letzte Dieb", erscheint im September bei Luchterhand.

Hier geht es zu einem Interview mit Steffen Kopetzky in der taz anlässlich der Indien-Biennale vor zwei Jahren.

 


Das Programm der diesjährigen Biennale finden Sie unter www.biennale-bonn.de.