Zerbrochen und verbunden

von Tim Schomacker

Hannover, 20. Januar 2018. Ein sehr gleichmäßiges Raster aus weißen Drehstühlen auf schwarzem Bühnengrund. So geordnet geht es selten zu im Kopf des neunjährigen Oskar Schell. Vom Zuschauerraum aus sehen wir diese Ordnung (die nicht mehr ist als eine ersehnte Vorstellung), bloß für einen kurzen, späten Moment zu Beginn des zweiten Teils. Gleich wird sie wieder verwischt, Richtung Realität in Unordnung gebracht werden.

Den längeren ersten Teil von Mina Salehpours Inszenierung haben wir selber auf den Stühlen gesessen, mitten im Raster, das wir, während wir uns dem Spielgeschehen folgend, jeder und jede für sich nach hier hin oder dorthin gedreht haben, selber waren. Zu Gast in einer Familiengeschichte, die sich am 11. September 2001 kristallisiert. Der Anschlag, der Einsturz der Twin Towers als Kaleidoskop, dessen zerbrochenes Bild Generationen mit einander verbindet ebenso wie die Alte und die altgewordene Neue Welt.

Angedeuteter Sturz

Am Ende des ersten Teils sackt der gesamte Bühnenboden ab, auf dem wir auf unseren Drehstühlen sitzen. Vergleichbar sanft ratternd hinunter in die funktionale Theaterunterwelt. In der wir nichts zu suchen haben, normalerweise. Es ist der Moment, an dem im Stück jener Turm des World Trade Center, in dem Oskars Vater Thomas zufällig am 9. September 2001 einen Termin hatte, in sich zusammensackt. In die Abwärts-Bewegung gibt Regisseurin Mina Salehpour so genau die richtige Dosis Distanz: Andeutung.

extrem laut 560a KatrinRibbe uSehnsucht nach Ordnung unter der Topffrisur: Daniel Nerlich als Oskar  © Katrin Ribbe

Nach Alles ist erleuchtet adaptiert sie auch den zweiten Roman Jonathan Safran Foers: "Extrem laut und unglaublich nah" gehört – wie etwa Don DeLillos Falling Man – zu den großen literarischen Auseinandersetzungen mit der Wunde, die 9/11 gerissen hat. Erzählt weitgehend durch die sehr eigensinnige Brille des neunjährigen Oskar Schell, der eh schon Schwierigkeiten hat, diese ganze disparate Welt in seinem Kopf zu ordnen. Was ihm nach dem Tod des Vaters umso weniger gelingt. Und umso mehr zugleich. Findet er doch am Ende seiner Trauer-Reise, die ihn durch alle fünf New Yorker Bezirke führt, seinen Großvater.

Die fünf letzten Nachrichten

In grauem Kurzhosen-Anzug, mit überblonder Topffrisur und eine kleine Schütteldose für nervöse Übersprünge stets zur Hand, gibt Daniel Nerlich die Schlüssel-Figur Oskar mit faszinierend steifer Nervigkeit. Oskar ist der notgedrungen unzuverlässige Erzähler – er ist neun und hat auch so schon ein ganzes Fuder "Issues" zu bewältigen – und zugleich kristallklarer Hardcore-Realist.

Nur weil Vater tot ist, müsse sie ja nicht unlogisch agieren und argumentieren, hält er seiner Mutter einmal vor. Was diese beruhigt – einen leeren Sarg zu beerdigen, um wenigstens ein Ritual zu haben –, beunruhigt den Sohn umso mehr. Nicht nur, weil er sich vorstellt, dass halb Manhattan die sterblichen Überreste des Vaters täglich ein – und wieder ausatmet. Vor allem, weil das leere Zeichen seine kleine Überlebens-Schuld umso schmerzhafter macht: Er hat der Mutter die fünf letzten Nachrichten des Vaters auf dem Anrufaufzeichner vorenthalten, konnte ihr nie erzählen, dass er beim letzten Anruf neben dem Telefon stand, heimgeschickt von der Schule, und unfähig war, abzuheben. Hätte nix geändert – und alles.

Im Sog

Das schmale Ensemble findet beeindruckend passende Ton- und Sprechlagen. Mit diesen gelingt es Salehpour, uns in ein raumgreifendes Hör-Spiel aus verschränkten (Buch- und vor allem Brief-)Erzählungen zu versenken. In diesem umfassenden Sog greift die melancholisch-präzis-seltsame Struktur von Foers Roman auch live auf der Bühne.

Oskar findet im (erzählten) Ankleide-Separee des (erinnerten) Vaters eine (erzählte) blaue Vase, die (nacherzählt) in Scherben geht. Aus diesen Erzählscherben klaubt Oskar einen Schlüssel in einem Umschlag, die beide so echt sind, wie sie auf dem Theater nur echt sein können. Auf dem Umschlag steht Black. Eine Farbe? Ein Name?

extrem laut 560 KatrinRibbe uDas Publikum alsRaster fürden Auftritt von Sandro Tajouri und Daniel Nerlich  © Katrin Ribbe

Oskar beginnt, systematisch alle New Yorker Blacks zu besuchen und zu befragen. Es entsteht ein eigenartiger Katalog verschiedenster Begegnungen und Biographien, Symbol für die nach 9/11 viel beschworene standhafte Vielfalt des Big Apple. Ziemlich kitschig eigentlich, aber trotzdem rührend. Dass Beatrice Freys Grandma und Katja Gaudards Mom, die Oskar hier beim Nacherzählen ausgewählter Black-Begegnungen helfen, zum sachten Funk-Pattern Sonnenbrillen tragen und betont unauffällig ums Publikum schleichen müssen wie in einer Agentenschmonzette, sei dem Abend verziehen.

Überzeugende Alte

Denn Salehpours "Extrem laut und unglaublich nah" überzeugt vor allem in der Inszenierung der biographischen Briefe der Alten. Thomas Neumann gibt dem sprachverlorenen Großvater, der in der Bombardierung Dresdens erste Frau und erste Schwangerschaft verlor, und dem nach und nach die Wörter abhandenkommen am rettenden Neue Welt-Ufer, eine arhytmisch verzagte leise kraftvolle Stimme. Und Frey erzählt Grandmas Lebensbrief an den Enkel – in dem es darum geht, dass sie in New Yorks zu Oskars Oma wurde anstelle ihrer Schwester Anna in Dresden – in gekonntem, der Schwere der Wunden und Entbehrungen nicht Paroli bietendem Schein-Plauderton.

Es ist eigentlich schade, dass sich für viele Rätsel – im Buch wie auf der Bühne – eine Erklärung findet. Enkel findet Opa. Enkel findet Schlüsselbesitzer. Und Stephen Hawking beantwortet Oskars Brief auch noch. Ein wenig weniger Klärung hätte gut getan. Macht andererseits die Folie Dresden – 9/11 umso historischer.

 

Extrem laut und unglaublich nah
nach dem Roman von Jonathan Safran Foer, in einer Fassung von Lars-Ole Walburg
Regie: Mina Salehpour, Bühne: Andrea Wagner, Kostüme: Maria Anderski, Musik: Sandro Tajouri, Tom Schneider, Dramaturgie: Lars-Ole Walburg.
Mit: Beatrice Frey, Katja Gaudard, Daniel Nerlich, Thomas Neumann, Sandro Tajouri, Tom Schneider.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-hannover.de

 

Kritikenrundschau

Etwas Distanz zur nicht unproblematischen Vorlage hätte der Inszenierung gut getan, schreibt Ronald Meyer-Arlt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (22.1.2018). Räumlich ganz nah komme das Geschehen den Zuschauer*innen und viel Zeit lasse man sich für Foers Geschichte, die an Günter Grass’ "Blechtrommel" und Jugenddetektivromane erinnere, so Meyer-Arlt. Erzählt werde "in der typischen Spotlightdramaturgie, mit der man gemeinhin Romane auf Bühnen bringt": Licht und Musik grenzten die kurzen Szenen voneinander ab. Verfasst habe die Theaterversion ungewöhnlicherweise der Intendant Lars-Ole Walburg – "wie ein Geheimpapier" halte das Theater die Textfassung unter Verschluss. Mit drei Stunden sei der Abend zu lang für diejenigen, die "einen gewissen Kitschverdacht gegen Foers rührseligen und stets gekonnt auf den Effekt hin konstruierten Roman hegen". Andererseits spiele Daniel Nerlich den Oskar und Thomas Neumann den Großvater – es sei "ein Vergnügen", ihnen dabei zuzusehen.

Mit "ebenso großer Eindringlichkeit wie Leichtigkeit" entfalte die Regisseurin Foers Stoff, schreibt Stefan Gohlisch in der Neuen Presse (22.1.2018). Der Bühnenturm des Schauspielhauses verwandle sich in New Yorks Hochhausschluchten, die Musik klinge nach Großstadt und Seelenpein, "einsame, traurige Menschen kreisen umeinander, alle miteinander verwoben und doch meilenweit voneinander entfernt", so Gohlisch. "Wie mit wenigen Mitteln Salehpour Blick und Aufmerksamkeit lenkt, wie die Schauspieler das ganze Panoptikum der Großstadt auslegen, ist ganz große Kunst."

Vergessen werde man als Besucher*in diesen Abend nicht, auch wenn er ein paar Schwächen habe, notiert Jörg Worat für die Mediengruppe Kreiszeitung (22.1.2018). Im ersten Teil sitze das Publikum auf der Bühne und Mina Salehpour schicke ihre Schauspieler*innen auf Reisen: "Mal stehen sie am Rand, mal turnen sie in luftiger Höhe umher, mal wandern sie quer durch das Publikum, welches sich wiederum direkt vor der Pause in zwei Teile aufsplittet, denn plötzlich errichten Bühnenarbeiter in Windeseile Absperrgitter, und der gesamte Mittelblock senkt sich in die Tiefe herab." Leer seien diese Plätze, als die Bühne wieder hochfahre – angesichts des Themas 11. September "eine angemessene Analogie und weit mehr als nur ein Effekt", so Worat. Der zweite Teil des Abends allerdings sei "leicht überbreit angelegt", was auch am Text liege; den Darstellern jedoch sehe und höre man nach wie vor gerne zu.

 

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