Schnee fällt durch die Zeit

von Simone Kaempf

Berlin, 20. Januar 2018. Ob der französische Cirque Nouveau, Zirkus- und Gauklerkunst jemals auf deutschen Bühnen bahnbrechenden Erfolg hat? Man bezweifelt es auch nach diesem Abend, der eine Lanze dafür bricht. Bereits im Foyer schlagen jungen Akrobaten ihre Flic-Flacs, ein Stelzenmensch schreitet Unterkanten-knapp durch die Tür. Auf der Bühne stemmen dann Gewichtheber mit freiem Oberkörper Menschen wie Hanteln in die Luft, Jongleure werfen Bälle und mischen sich unter die Schauspieler. Das riecht nach Jahrmarktstimmung, und marktschreierisch fällt dann auch noch der Startschuss: "Entrez! Hier ist die Wahrheit zu sehen. Entrez!" Trotz dieses szenischen Eingangstors kommt keine schlüssige Gaukler-Stimmung auf, man staunt eher, wie eng der Abend erst einmal seiner Filmvorlage folgt.

Im Pariser Theatermilieu von 1835 spielt der Film von Regisseur Marcel Carné und Drehbuchautor Jacques Prévert, in einem Kosmos aus Mimen, Gauklern, Betrügern und Verehrern, die um die unerreichbare Garance buhlen, sich duellieren, in wachsender Eifersucht schließlich auch morden. Schön- und Hässlichkeiten sind ausgestellt, der ganze vergängliche Glamour der detailiert gezeigten Interieurs und Kostüme der Zeit. Der Rückzug auf das frühe 19. Jahrhundert war ein Ergebnis der Zensur, die im besetzten Paris der Jahre 1943 bis 1945 alle Bezüge zur Gegenwart verbot.

KinderdP2 560 MatthiasHorn uIlse Ritter steht im Zentrum der Inszenierung © Matthias Horn

Diese Entstehung des Films unter aberwitzigen Bedingungen ist eine ganz eigene Geschichte, die in die Inszenierung einfließt. Wie auch das Leben der Schauspielerin Arletty, die der Hauptrolle der Garance eine so unnahbare Aura verlieh. Parallel zu den Dreharbeiten verliebte sie sich in Paris in einen deutschen Flugwaffenoffizier, der sie nicht heiraten durfte, beide hielten Kontakt bis zu seinem Tod. Bei der Film-Premiere im Frühsommer 1945 fehlte sie, weil sie wegen Kollaboration in Haft saß.

Grandezza, Würde und Klasse

Dieses ganze thematische Bündel nimmt sich Regisseurin Ola Mafaalani vor, versucht die Filmhandlung nachzuerzählen, und legt gleitend andere Zeit- und Erzählebenen darüber, die von der Bespitzelung bei den Dreharbeiten erzählen. Aber auch von dem Wunsch aller Beteiligten, den besten Film zu drehen, den sie je gemacht haben. Drei Musiker sind immer mit auf der Bühne. Und die Figur der Schauspielerin Arletty (Ilse Ritter) ist hinzugefügt. Am Bühnenrand sitzt und steht sie fast die ganze Zeit, wie eine Zuhörerin und Beobachterin ihres eigenen Lebens, aber das mit einer Grandezza, Würde und Klasse. Sie ist die beste Idee und Figur des Abends. Wenn sie sich in die einmischt, ist es wie ein Eintauchen in Erinnerungen. Anhand ihrer Erzählungen öffnen sich die eigentlichen Schmerzpunkte, eine Frau, die im Alter ihr Leben kommentiert. Unsentimental, ein Monolith, picobello im Hosenanzug und doch warm und hochemotional.

KinderdP3 560 MatthiasHorn uGanz unten ist es kalt: Kathrin Wehlisch (hinten), Peter Moltzen (vorne) © Matthias Horn

Mafaalani, aufgewachsen in Bremen, arbeitet seit den 90er Jahren in den Niederlanden. Bis 2016 leitete sie das Theater in Groningen. Diese Prägung durch die Benelux-Theaterästhetik ist der Handschrift des Abends am Berliner Ensemble anzumerken: Bis zu den Brandmauern ist die Bühne offen gelegt, Schauspieler, Musiker, Akrobaten spielen gemeinsam. Wenn sie als stumme Beobachter Szenen flankieren, pumpt ihre Anwesenheit die Atmosphäre melancholisch mit auf, das gelingt sehr schön.

Den Schauspielern bleibt gefühlt viel Raum für Improvisationen inmitten des Handlungsgerüsts, und damit fangen die Probleme an. Denn etliche Szenen wirken wie Lückenfüller. Tilo Nest klettert als zur Seite gedrängter Liebhaber Lecenaire betriebsam in die Seitenloge wie zum Beobachter verdammt, die eigentliche Rolle bleibt blass. Undankbar ist es auch für Peter Moltzen: Sein Pierrot-Kostüm ist eng dem Original des Pantomimen Baptiste nachempfunden. Doch der Zauber der clownhaften Traurigkeit entfaltet sich selten, dafür wirkt sie zu nachgespielt statt die Realitäten zu spiegeln. Einfacher hat es Kathrin Wehlisch als Garance, die mit kurzem Bubikopf einen widerständigen modernen Typus spielt, Männer und Begehrlichkeit tropfen an ihr ab.

Melancholie und Memento mori

Mafaalanis "Kinder des Paradieses" will eine Herz- und Schmerzattacke sein, ein auratisch aufgelandener Spielraum über Erinnerung und die Vergänglichkeit. Durststrecken muss man in Kauf nehmen, aber im zweiten Teil zieht der Abend doch noch zum schönen Memento mori an. Wenn Ilse Ritter den Erinnerungsraum öffnet, dann entstehen auch auf der Bühne starke Bilder. Schnee rieselt zart, bis eine zentimeterdicke Schicht den Boden bedeckt. Das Resümieren über die Vergänglichkeit bekommt eine entrückte Gegenwart entgegengesetzt, die Spielweise auf der offenen Bühne füllt am Ende viel besser den Raum, die Fäden laufen zusammen. "Was vergangen ist, kann nicht mehr weh tun, denn es ist vorbei. Die Zukunft tut nicht weh, denn man weiß nicht, was kommt", sagt Ilse Ritter mit großer Klarheit in Richtung ihres jüngeren Alter Ego. Und die mit Grautönen, Schatten, hell und dunkel arbeitende Inszenierung gewinnt dann doch ihre ganz eigene melancholische Aura.

Nach niederländischem Vorbild waren mehrere Voraufführungen angesetzt, eine wurde abgesagt. Vielleicht wächst die Arbeit im work-in-progress auch noch weiter, spielen sich die Improvisationen besser ein. Da geht noch was.

 

Kinder des Paradieses
nach dem Film von Jacques Prévert und Marcel Carné
Bühnenfassung von Ola Mafaalani und Alexandra Althoff, Deutsch von Manfred Schneider
Regie: Ola Mafaalani, Musik: Eef van Breen, Bühne: André Joosten, Kostüme: Johanna Trudzinski, Choreografie: Maria Marta Colusi, Licht: Ulrich Eh, Dramaturgie / Bearbeitung: Alexandra Althoff, Textmitarbeit: Lothar Kittstein, Pantomime Training: Bernd Hahnke.
Mit: Kathrin Wehlisch, Peter Moltzen, Ilse Ritter, Felix Rech, Antonia Bill, Tilo Nest, Sascha Nathan, Martin Rentzsch, Veit Schubert, Mitja Ley, Sam Hinzmann, Liam Kinli. Musik: Eef van Breen (Blechblasmusik, Sänger, Komponist), Biliana Voutchkova (Violine), Antonis Anissegos (Tasteninstrumente), Akrobatik: Marula Bröckerhoff, Kristina Francisco, Lukas Flint, Marvin Kuster, Mitja Ley, Karlo Janke, Marc Unruh, Noah Vernaldi.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.berliner-ensemble.de

 

Kritikenrundschau

"Die absurde, so bedrohliche wie jeglicher Bedrohung ein lässiges Schnippchen schlagende Atmosphäre von Marcel Carnés Film will sich auf der Bühne nicht herstellen", so Tom Mustroph in der taz (22.1.2017). "Eine Stunde lang buchstabiert sie zunächst den Film durch", viel verschenkte Zeit, weil einige Darsteller mit ihren historischen Rollen arg fremdeln. "Im zweiten Teil steckt Mafaalani all das, was die Atmosphäre des Stoffs ausmacht, die wilden Drehbedingungen eben, in einen dumpfen Chorus." Am Ende verteidige Natjalie eine Ehe mit nur einseitiger Liebe, die andere bekennt sich zu einer Liebe, die sie nicht lebte – viel falscher können Leben kaum sein. "Und das als Quintessenz dieser Filmgeschichte? Eine Enttäuschung."

Für romantische Stimmung sorge Kunstschnee. Doch die den Film nacherzählenden Parts des Abends bleiben "eine Nacherzählung, eine blasse Kopie", schreibt Katrin Pauly in der Berliner Morgenpost (22.1.2017). Peter Moltzen trage als verliebter Pantomime Baptiste Deburau eine ziemlich exakte Nachbildung jenes weißen Pierrot-Kostüms. Kathrin Wehlisch gebe ihrer Garance immerhin eine kecke Frische. "Doch für alle gilt: Viel Figurenentwicklung ist hier nicht drin." Ein toller Coup, dass die Regisseurin die Rolle der Arletty  mit der wunderbaren Ilse Ritter besetzt habe, die mit sprachlicher Prägnanz Ruhe in das ganze Gewusel bringe und die in den Erinnerungen der Arletty Wunden aufreiße. Fazit: "Das sind die schönsten Momente des Abends, der Rest ist viel Budenzauber und wenig Magie."

 

Kommentare  
Kinder des Paradieses, Berlin: Enttäuschung
Der Abend enttäuschte jedoch auf ganzer Linie. Die Regisseurin bemühte sich krampfhaft, eine Atmosphäre von „Poesie, Magie und Schönheit“ zu schaffen, die sich aber partout nicht einstellen wollte. Stattdessen wurde das Publikum Zeuge der zähen Liebesgeschichte der Garance (Kathrin Wehlisch), die von vier Männern umworben wurde und im kitschig rieselnden Kunstschnee endet.

Die Akrobaten der „Etage“, einer Schule für darstellende und bildende Künste, durften einige Kabinettstückchen zeigen. Diese wirkten aber ebenso nur an den Rest drangeklebt wie Ilse Ritters kurze Monologe, in der sie über das Schicksal der „Arletty“ berichtete, die zum Zeitpunkt der Filmpremiere inhaftiert war, weil sie eine Affäre mit einem Wehrmachtsoffizier begonnen hatte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/01/20/kinder-des-paradieses-enttaeuschende-annaeherung-an-einen-franzoesischen-filmklassiker-am-berliner-ensemble/
Kinder des Paradieses, Berlin: Verschiebung
Da verschieben sich immer wieder die Ebenen, die Vorder- und Hintergründe. Darsteller*innen werden zu Zuschauer*innen (vor der Pause hoch oben auf den Rängen, dem sogenannten „Paradies“), denen wiederum zugeschaut werden. Bühnenszenen treten zuweilen in den Hintergrund, während wir auf die Hinterbühne blicken – das Verhältnis von Leben und Theater, Schein und (vermeintlichem) Sein verändert sich ständig, ist nicht greifbar, weil das Eine ins Andere greift. Insbesondere dann, wenn die Entstehungsgeschichte hinzu ritt. Vor der Pause geschieht das eher halbherzig, in einigen Kurzmonologen Ritters, die eher wie angepappt wirken. Später wird sie selbst zum Akteur, etwa wenn der sich abschminkende Moltzen von den schwierigen Bedingungen erzählt, dem Hunger, der gleichzeitigen Anwesenheit von Kollaborateuren und Spitzeln sowie versteckten Juden und Widerständlern. Dazu zitiert er immer wieder Garance-Sätze von der Einfachheit der Liebe, die hohl klingen und ehrlich zu gleich. Nichts ist einfach. Außer dies: Sie wollten einfach einen Film drehen, den besten. So wie die Erinnerungen aus dem Funambules unterhalten wollten, Träume erzeugen und zugleich Brot auf den Tisch bringen. Und so tränkt die Realität die Illusion – und umgekehrt, gebären Kunst und Leben einander. Die Wahrheit die Liebe, jene des Krieges, das Geflecht aus schuld und Verantwortung: Sie verknüpfen die Ebenen, prallen aufeinander, widersprechen einander, lösen sich nicht auf.

Denn der Abend liefert auch reichlich Theaterzauber. In den Spiel-im-Spiel-Passagen aber auch direkt hier im Jetzt. Da wird getanzt, fällt Konfetti, das zu Schnee wird, steht Zirzensisches zwischen realistischem Kammerspiel, Pantomime neben Pathos, Kriminalstück neben Tragödie, Farce neben Räuberpistole. Und immer wieder zoomt die Kamera hinein und heraus, wie auch die Spieler*innen hinein- und heraustreten, durch die Zeit- und Realitäts- und Theaterebenen, die sich separieren oder verschwimmen in einem Erinnerungsstrudel aus Illusion und Wirklichkeit. So wie es Sascha Nathan, der den Theaterdirektor gibt, zu Beginn sagt: „Wer sich nicht über die Wirklichkeit hinauswagt, der wird die Wahrheit nie erobern.“ Kinder des Paradieses wagt sich hinaus, über das Theater, die Wirklichkeit, die Zeiten. Die Wahrheit zu erobern, ist auch diesem Abend nicht vergönnt. Sie im Spiel, in der Illusion aufblitzen zu lassen, ihr einen Raum zu geben, welcher der einer verklärten und umso magischeren Erinnerung sein mag, schon. Eine Hommage an das Theater wie den Film gelingt Ola Mafaalani an diesem beglückenden, diesem melancholischen wie hoffnungsgetränkten Abend, der nostalgisch ist, in seiner Ästhetik bewusst altmodisch, aber eben auch eine ebenso spielerische wie komplexe Reflexion – über das Leben, die Realität von Wirklichkeit und den Schein der Illusion. Die Wahrheit ist irgendwo dazwischen, mittendrin im Spiel der Perspektiven, zwischen Nähe und Distanz, Vorder- und Hintergrund, dem Jetzt und den vielen Gesterns. Sie mögen nur kurz den Schatten verlassen, und bleiben doch für immer.


Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/01/21/die-aus-dem-schatten-treten/
Kinder des Paradieses, Berlin: Warum?
Warum dürfen Kögler und Krieger hier ihre Netz-Kritiken verkaufen? Wären die nicht besser aufgehoben in den Leserkritiken? Es sind ja ebenfalls keine Leserbeteiligungen, wie sie für die nk-Charts in einem Algorithmus zusammengefasst werden. Ist dies nicht verfälschend? Hier würden jedenfalls keinerlei Kommentare stehen ohne die beiden blogger.

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Liebe/r Grrlll,

die Rubrik "Leserkritiken" ist für Inszenierungen gedacht, zu denen es keine Nachtkritiken gibt.
Wir laden alle unsere Leser/innen ein, in den Kommentaren ihre Sicht auf die Inszenierungen zu teilen. Das schließt natürlich auch die Herren Kögler und Krieger ein.

Viele Grüße
miwo/Redaktion
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