Fantastisch!

von Wolfgang Behrens

23. Januar 2018. Wer kennt das nicht? Die Saaltüren werden geschlossen, das Licht im Zuschauerraum erlischt, der Vorhang öffnet sich, die Temperatur beginnt merklich zu steigen (weil das Theater seine Stammklientel auf Wärmelevel halten muss), noch merklicher wird die Luft dicker – und plötzlich wird der Kopf schwer. Man ist gewillt, ihn oben zu halten – Konzentration! Konzentration! – was hat der Schauspieler da vorne noch eben gesagt? "Das Leben nennt der Derwisch eine Reise" – ach ja, kenne ich, das ist …, jaja, ich bin voll dabei, wie war das, das hat doch auch der … – doch da!, ein Zucken durch den gesamten Oberkörper, und schon schnellt der längst niedergesunkene Kopf von der Brust zurück in die Höhe. Sekundenschlaf. Mitten in der Aufführung weggenickt. Peinlich!

"Wie viele sind schon tot?"

Ein guter Freund von mir – der übrigens, wie zu zeigen sein wird, nicht ohne Grund Dramaturg geworden ist – war legendär für seinen Theater- und Konzertschlaf. Im wildesten Schlachtenlärm einer Schostakowitsch-Sinfonie habe ich ihn ebenso wecken müssen wie bei der lautesten Schleef-Schreierei. In Alban Bergs "Lulu" an der Berliner Staatsoper schreckte er einmal nach ausgiebigem Schlummer hoch und fragte, mit spontan erneuertem Interesse am Handlungsablauf, seinen Sitznachbarn über mehrere Reihen vernehmlich: "Wie viele sind schon tot?" Nach eigener Aussage war seine Lieblingsoper damals "Palestrina" von Hans Pfitzner, weil er im ersten Akt eine halbe Stunde schlafen konnte, ohne dass sich in der Musik oder an der Bühnensituation irgendetwas Wesentliches geändert hätte: weiterhin René Kollo als Palestrina im Pfitzner'schen Orchestergewoge beim Versuch, etwas zu komponieren.

17 Kolumne behrens k 3PIch vermute stark, dass so ziemlich jeder regelmäßige Theatergänger schon Opfer des Theaterschlafs geworden ist (natürlich mit Ausnahme meines Ex-Kollegen, des Kritikers Martin Pesl, der kürzlich auf Deutschlandradio zu Protokoll gab, nie im Theater einzunicken). Als ich noch ein Zuschauer war, war mir der Theaterschlaf allerdings schrecklich unangenehm. Gleich bei meiner allerersten Robert-Wilson-Inszenierung – "König Lear" mit Marianne Hoppe am Schauspiel Frankfurt – wurde ich von ihm ereilt. Vielleicht war das ja nicht einmal zufällig, doch ich empfand sofort nagende Schuldgefühle der Aufführung gegenüber, glaubte, ihr nicht vollumfänglich gerecht geworden, an ihrer Ästhetik gescheitert zu sein – und kaufte mir, um die Schlafscharte auszuwetzen, prompt eine Karte für die nächste Vorstellung. In der ich dann zwar wieder entschlummerte, aber an anderer Stelle, so dass ich heute mit vollem Recht sagen darf: Ich habe Wilsons "Lear" gesehen. Ganz.

Was für eine Befreiung

Heikel wurde der Theaterschlaf freilich erst für den Kritiker, der ich später noch werden sollte. Vom Theater heute-Gründer und großen Theaterwissenschaftler und -kritiker Henning Rischbieter wird berichtet, dass er mitunter ganze Aufführungen hindurch mit geschlossenen Augen vor sich hin gedämmert habe, um hinterher präziseste Meinungen wohlargumentiert zum Besten zu geben. Es muss sich um eine Art wahrnehmungspermeables Kritiker-Wachkoma gehandelt haben. Fantastisch! Mir war diese Fähigkeit leider nicht gegeben, weswegen ich immer wieder erlittene Aufmerksamkeitsausfälle kaschieren musste. Ich habe die Löcher in den Aufführungen entweder verschwiegen (eine leichte Übung) oder induktiv erschlossen (etwas schwieriger) oder aber durch betont beiläufige Gesprächsführung aus den Aussagen meiner Begleiter*innen zu füllen versucht (sehr schwer, vor allem, wenn man nicht auffliegen wollte).

Ein Kollege aus der nachtkritik-Redaktion hat in einer Rezension einmal süffisant vermerkt, dass ein damaliger (und nicht lange dort verweilender) Volksbühnen-Dramaturg über weite Teile einer Castorf-Premiere Hintergrundgeräusche im Schnarchmodus beigesteuert habe. Seinerzeit werde ich mich wohl darüber belustigt haben. Heute, da ich selbst ein Dramaturg bin, lache ich nicht mehr. Ich weiß nun, dass der Theaterschlaf ein Vorrecht der Dramaturgen ist. Sie haben sich durch mehrere Endproben gekämpft, sie sehen die Aufführung bei der Premiere vielleicht zum fünften Mal in Folge. Ändern können sie nun eh nichts mehr, die Spannung fällt ab, eine Kritik müssen sie auch nicht schreiben. Und verpassen tun sie nichts, denn sie kennen die Inszenierung mittlerweile aus dem Eff-eff.

Was für eine Befreiung! Im Beruf des Dramaturgen bin ich gleichsam angekommen: Endlich kann ich ohne Gewissensbisse den Kopf nach vorne sacken lassen. Und vom Thron des Dramaturgen herab darf ich sie nun bestätigen, die alte Weisheit: Der Theaterschlaf ist der entspannendste. Und zu meinem alten Dramaturgenfreund winke ich hinüber: Dich Schlafgeweihten grüße ich!

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit dieser Spielzeit Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

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Kommentare  
Kolumne Behrens: Freude
Es hat mir (einem Durchschnittstheaterbesucher) Freude bereitet zwischen den "highly sophisticated" und "absolutly intellectual" gestalteten Kritiken und Postings ein so empirischen Beitrag zu lesen.
Kolumne Behrens: Lanzenbrechen
Danke für's Lanzenbrechen!!
Ich bin als Dramaturgin in den Endproben zu "Der nackte Wahnsinn" eingeschlafen. Alle aus dem Team waren eingeschnappt. Vielleicht haben sie es persönlich genommen. Wegen der Pointen und so. Aber was hätte ich machen sollen!? Abendproben, danach Kantine, danach kleines Kind zuhause, noch dazu krank -die Nächte kann man sich vorstellen - irgendwann braucht auch eine Dramaturgin mal eine Viertelstunde Schlaf!
Kolumne Behrens: aus Regiesicht
Der Herr Behrens kann ja so froh sein, dass er "nur" Dramaturg und kein Regisseur geworden ist! Als RegisseurIn kann man auch 10 mal und öfter die Inszenierung sehen - da schläft man nie!, sondern hat permanent Herzrasen vor Anspannung, ob auch ja alles auch ohne Händchenhalten klappt wie verabredet und eingeprobt. Erst recht, wenn zur Verbredung Improvisationen des Schauspiel-Ensembles gehören... ! - da ist man dann froh über Sekunden-Beruhigung, wenn was einwandfrei klappt. Weil man dann kurz nicht mehr so angestrengt schauspielern muss und für alle anderen 100 % überzeugend so tun, als sei man die Ruhe selbst-
Kolumne Behrens: ich bin gemeint
Es hilft ja nichts: Ich gestehe, dass ich mit jenem Kollegen gemeint bin, der "süffisant", wie Wolfgang schreibt, von einem schnarchenden Dramaturgen berichtet habe. Es ist mir dieses mein Niederschreiben und auch die besprochene Inszenierung wie das Schnarchen noch lange nachgegangen, und inzwischen habe ich den Verdacht, dass ich dies nimmer werde vergessen können. Allerdings war es keine Castorf-Premiere, sondern diejenige von "Faust 2" von und mit Silvia Rieger aus dem Jahr 2008. Und es war für mich eine Inszenierung, wie ich eben nachlas, "die in handwerklicher Hinsicht in beinahe keinem Belang den Ansprüchen genügt". Womöglich habe ich sie deshalb nicht vergessen, oder aber, weil sie von einer geheimen, von mir unbegriffenen Qualität war, ich weiß es nicht.

Hier jedenfalls ist der fragliche Text noch immer nachzulesen:
https://www.berliner-zeitung.de/-faust-2--an-der-volksbuehne--silvia-rieger-erleidet-schiffbruch-mit-goethe-schnarchen-oder-gehen-15831246
Kolumne Behrens: im Duett
Wir wurden informiert über das Lachen, dann über das Schlafen des Dramaturgen. Macht die Folge 3 dann das Pupsen des Dramaturgen zum Thema, vielleicht sogar im Duett mit Herrn Pilz?
Kolumne Behrens: Erschöpfung nach der Anstrengung
Das macht nichts, Herr Pilz. Warum sollen Leute, die wie verrückt sich jahrelang für ein Theater ins Zeug gelegt haben, nicht auch in ihm wegschnarchen dürfen??? Ich kenne das aus Erzählungen von z.B. Bauleuten, die nach dem Krieg die Staatsoper unter den Linden wieder aufgebaut hatten in sensationell kurzer Zeit. Und mit kaum was im Magen. Sie bekamen von den damalig Kulturoberen für die geleistete Akkordarbeit zum Dank Premierenkarten für die Einweihungspremiere verehrt - und sie haben dann mehrheitlich vor Erschöpfung schon so zeitig kollektiv geschnarcht, dass sie nicht einmal mehr mitbekamen, wann die Overtüre endete und das Spektakel begann - Das ist der Grund dafür, weshalb ich trotz zufällig zahlreich absolvierter Opernbesuche erst sehr spät in meinem Leben, ungefähr mit acht Jahren, durch Zufall erfahren habe, was eine Overtüre ist. Bis dahin dachte ich immer, wenn ich das Wort vernahm, es würde sich um eine neue Marmeladensorte handeln, die mir auf immer verwehrt bleiben würde - Ernst jetzt!
Kolumne Behrens: Idee
@5 Bräsologe
Das ist doch eine interessante Anregung - auf die Idee, dramaturgische Flatulenzen zum Thema zu machen, bin ich noch nicht gekommen. Ich möchte Ihnen aber Ihre Idee nicht wegnehmen - wie wäre es mit einer Gastkolumne?
Kolumne Behrens: Weiterträumen
Nichts Schöneres, als das Bühnengeschehen in eigenen wilden Träumen weiterzuspinnen! Dann vielleicht kurz aufwachen, abgleichen wo man ist und was passiert, und weiterträumen, quasi als Co-Autor. Als bekennender Schläfer habe ich mir Scham und Scheu abgewöhnt, jedenfalls gegenüber den Umsitzenden und jedenfalls bei den "Lange-Weilern" wie Castorf und Castellucci, Marthaler und eigentlich immer im Tanztheater.
Schlimm nur, wenn man müde und beruflich da ist, als Kritiker oder Dramaturg. Peinlich auf den Proben. Peinlich, wenn man vom eigenen lauten Schnarchen und Schnappatmen erwacht. Oder wenn man in der ersten Reihe sitzt, die Schauspieler face to face und trotzdem fallen die Augen zu. Oder eine Kamera filmt ins Publikum und man sieht sich, gerade erwachend, in Großaufnahme selbst auf der Leinwand.
Meine Lebens- und Medienfrage lautet: Warum schlafe ich in jeder zweiten Theaterinszenierung ein, aber wirklich nie, nie, nie im Kino?! Dabei beginnen die Vorstellungen da viel später, sind die Sessel bequemer. Sind Theaterschauspieler im Grunde Gutenachtgeschichtenerzähler? Sandmännchen und -frauchen? Wenn Theaterstühle so bequem wären wie Kinosessel - würde überhaupt jemand wach bleiben? Den Seinen gibt der Herr: Schlaf!
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