Seelchen im Elfenbeinturm

von Martin Krumbholz

Mülheim an der Ruhr, 26. Januar 2018. Man wird zugeben müssen, das Original ist schöner. Heiner Müller macht sich aus großer Literatur einen kleinen Spaß. Der Briefroman "Gefährliche Liebschaften" von Chaderlos de Laclos ist nicht nur ein erhabenes stilistisches Meisterwerk; nicht nur ein höchst originelles Dokument aus der Zeit des Ancien Regime; es ist auch ein Buch, das Einblicke in die Abgründe des Menschlichen eröffnet und sich keineswegs in der (natürlich berüchtigten) Frivolität erschöpft. Müllers Bearbeitung, eingedampft auf zwanzig Seiten, begnügt sich (fast) mit einer einzigen zusätzlichen Pointe, die in der Maskerade besteht: Die Protagonisten tauschen ständig ihre Rollen. So wird der Geschlechterdiskurs angeheizt.

Altväterliche Zoten statt Temperament und Leidenschaft

Die Geschichte ist bekannt: Die Marquise de Merteuil und der Vicomte de Valmont beleben ihre erschlaffte Paarbeziehung durch eine Art Wette: Valmont versucht die fromme und verheiratete Madame de Tourvel zu verführen (und nebenbei, aber das ist eine zu leichte Übung, die jungfräuliche Nichte der Marquise, Cécile Volanges). Alles endet in Chaos und Tod, aber es war die einzige Möglichkeit, eine alte Liebe über die Zeit zu retten. Aus dieser Konstellation schlägt der Autor des 18. Jahrhunderts eminentes Kapital. Und paradoxerweise wirkt das Buch von 1782 beim Wiederlesen frischer, temperamentvoller und vor allem aussagekräftiger als der Theatertext von 1980, dessen Zoten und Blasphemien heute schon seltsam verbraucht und altväterlich erscheinen. Und zwar gerade in einem historischen Moment, da die Geschlechterdebatte Fahrt aufgenommen hat wie selten zuvor.

Quartett3 560 Grittner uLodernde Leidenschaft, brisante Briefe: Jubril Sulaimon in "Quartett" © Grittner

Nun weiß Roberto Ciulli, dieser große Magier des spätbürgerlichen Theaters, mit seinen fast 84 Jahren natürlich sehr gut, dass der Diskurs seit Müllers Zeiten weitergegangen ist. Dieser Umstand lässt sich schwerlich ignorieren. Ciulli besetzt also die Rolle des Valmont mit einem Afrikaner, Jubril Sulaimon stammt aus Nigeria, und nennt im Programmheft-Interview die Beziehung Europas zu Afrika eine "fürchterliche Liebe". Kolonialismus als ein zusätzlich geöffnetes Fenster – oder ist es nur ein angelehntes? Provenienz und Hautfarbe des Hauptdarstellers machen ja noch kein neues Stück. Der Verfremdungseffekt, der sich durch gewisse Sprachunebenheiten einstellt, ist kein Schaden, aber er hebt den Text allein auf kein anderes Niveau.

Kein Wüstling, nirgends

Je länger man nun in den delikat beleuchteten Raum hinein- und die beiden Schauspieler, Petra von der Beek und Jubril Sulaimon, anschaut, desto dringender stellt sich die Frage: Was für ein Diskurs wird hier eigentlich geführt? Hat er überhaupt etwas mit 2018 zu tun? Ja, der weit geöffnete Raum ist wunderschön – es handelt sich um den ehemaligen Ballsaal eines Kurhauses, rechts große Fenster, hinten eine Apsis (Orchestermuschel), auf dem Boden verstreute Briefbögen (oder Notenblättern), gestaltet von Ciulli und Elisabeth Strauß. Und ja, die Spieler tragen Müllers metaphernreiche Sätze superb vor; sie agieren nicht im engeren Sinn körperlich, aber sie wandeln, kriechen, werfen sich in Pose, tauschen die Perücken, machen sich an, schweigen. Kostbare Musik wird immer wieder eingespielt, einmal sogar von der Vinylplatte (Maria Callas mit einer Puccini-Arie).

Quartett1 560 Grittner uDem Fetisch Frauenschuh huldigen Petra von der Beek und Jubril Sulaimon © Grittner

Ist das große Kunst? Oder ein Schwelgen in Manierismen? Vor der ersten Verwandlung vollzieht Sulaimon so etwas wie ein magisches Ritual. Danach trägt die Marquise eine schwarze Maske und Valmont eine weiße. Den männlichen Part spielt Petra von der Beek ganz empathisch und zart, nicht sozusagen zweischneidig und somit gefährlich, sondern beinahe anziehend. Der "Wüstling" könnte keine schlechtere Konjunktur haben als heute; in Mülheim umgeht man das Problem, indem man ihn gar nicht erst auftreten lässt. Hier sind keine Teufel zu sehen, sondern Seelen, fast möchte man sagen: Seelchen. Aber das Verhältnis von Verführung und Gewalt buchstabiert sich in diesen Tagen anders als noch zu Müllers Zeiten, brutaler, krasser und auf jeden Fall weniger kostbar. Und darin liegt das ganz große Problem dieser so fein gestrickten Aufführung.

Es ist ein schönes Bild, wenn Valmont wie tot daliegt und die Marquise ihn mit vielen Damenschuhen bedeckt. Es ist dagegen ein zu starkes Bild, wenn – in Anspielung auf den Suizid von Müllers Ehefrau Inge – ein Gasherd auf die Bühne geschoben und tatsächlich angeschlossen wird. Diese Geste oder Metapher passt nicht zum Übrigen, sie sprengt den Rahmen. "Quartett" in Mülheim ist ein Abend im Elfenbeinturm. Kein ganz verlorener Abend, aber auch entschieden keiner mit einer irgend erhellenden Perspektive.

 

Quartett
von Heiner Müller
Regie: Roberto Ciulli, Raum: Roberto Ciulli / Elisabeth Strauß, Dramaturgie: Helmut Schäfer, Kostüme: Elisabeth Strauß, Licht: Jochen Jahncke, Regiemitarbeit: Dijana Brnic
Mit: Petra von der Beek, Jubril Sulaimon
Dauer: 95 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de

 

Kritikenrundschau

"Roberto Ciulli erhöht das Konfliktpotenzial, indem er den Vicomte mit dem nigerianischen Schauspieler Jubril Sulaimon besetzt: Da scheint es dann plötzlich auch um Ausbeutung und kulturelle Dominanz, um Abziehbilder und einen Konflikt der Kontinente zu gehen", schreibt Jens Dirksen in der Neuen Ruhr Zeitung (28.1.2018). Aber eigentlich verdopple diese Besetzung nur noch einmal das Verstellungs-Spiel im Spiel. "Wenn das Spiel von Jurbil Sulaimon und Petra von der Beek eleganter, subtiler, ja leichtfertiger wäre, würde es mehr überzeugen: Als Reaktion auf 'das Nichts in unserer Seele, das nach Futter kräht' und als Motivation für das tödliche Ende." Es bleibe bei einem grandiosen Theatertext zu luziden Bildern und geschickt eingesetzter Musik vom Band.

"Ciulli versucht nicht, Heiner Müller zu aktualisieren", bemerkt Klaus Stübler von den Ruhr Nachrichten (30.1.2018). Für ihn sei 'Quartett' ein zeitloses, stilisiertes Spiel. "Petra von der Beek und Jubril Sulaimon agieren vornehm und entzerren Müllers komprimiert-kraftvollen, bildreichen Text, indem sie ihn durch Pausen gegliedert im hohen, klassischen Ton deklamieren." Stübler schließt: "Ein Heiner Müller, fast zu schön, um wahr zu sein."

 

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