1968 - Die Münchner Kammerspiele erinnern an die Revolten vor 50 Jahren
Als Apo-Opas Bart noch rot war
von Michael Laages
8. Februar 2018. Der Zeitzeuge kämpft – mit sich und mit dem Theater. Erasmus Schöfer, Schriftsteller und demnächst 87 Jahre alt, war dabei im heißen Sommer vor 50 Jahren, als die Revolte neben den Studenten auch das Theater erfasste, in diesem Fall die Münchner Kammerspiele. Intendant damals: August Everding. Schöfer liest aus dem Roman vor, der von dieser Zeit erzählt; während drinnen im Saal der neuen Kammerspiele noch recht lautstark geprobt wird.
Das "Teach-in" (so amüsant historisch betitelt das Projekt-Team die jeweiligen Einführungen zum Spektakel mit dem Titel "1968") gerät ziemlich unperfekt; die Lesung über die Abenteuer von damals übernimmt Schöfers Sohn. Aber auch Ober-Kommunarde Rainer Langhans soll ja noch kommen, Klaus Theweleit auch – und dann wird ja nicht mehr geprobt.
So grenzwertig wie die Einführung ist auch der theatrale Kraftakt selbst; drunter und drüber geht’s in zweieinhalb pausenlosen Spektakel-Stunden. Was aber angemessen ist – angesichts der Aufregungen damals.
In der Revolte
Everdings Kammerspiele zeigten im Sommer 1968 (als zweites Theater) den "Viet Nam Diskurs" von Peter Weiss; Peter Stein inszenierte, und Wolfgang Neuss, der Gast aus dem Revolte-Kapitale Berlin, lud das Publikum der Premiere zur Spendensammlung, um Waffen für den Vietcong zu finanzieren. Das verbot Everdings Theaterleitung; Stein flog raus, Neuss trat nicht mehr auf. Obendrein initiierte das Ensemble in einer ganz normalen Aufführung von Peter Shaffers "Komödie im Dunkeln" einen zehnminütigen "Warnstreik" gegen die Notstandsgesetze … dies sind die gedanklich-szenischen Andock-Punkte für sieben zeitgenössische Regie- und Projekt-Teams, die jeweils etwa 20 Minuten füllen.
Eher albern geht’s los – Leonie Böhm lässt zwei junge Ensemble-Kräfte im schlabberigen Hippie-Look den alten Neuss beschwören. Mit Texten aus dessen späten Gras-Delirien umgurren und umgarnen sie ausgerechnet den Zeitzeugen Schöfer im Publikum; dessen Repliken sind allemal fitter als die eher fahrigen Neuss-Zitate. Auch "Der Mann mit der Pauke" war ja Mitte der 80er Jahre, Gras rauchend in der Berliner Matratzengruft Lohmeyerstraße 7, schon sehr weit weg von der politischen Revolte von 1968. Das Spektakel jetzt endet auch ganz fürchterlich – mit dem Pariser "Collectif Catastrophe", das eine "Alles wird gut"-Kitschhymne wie für den "Eurovision Song Contest" in den Saal lärmt; die Welt werde wunderschön und die Menschheit wieder ganz unschuldig, wenn nur endlich die Revolutionen vorbei wären und wir uns nur unseren Ängsten stellten … uff.
Kompakt und konzentriert
Aber zwischen mauem Start und lausigem Ende verheddert und entwirrt sich zugleich eine ziemlich grandiose Gedankensammlung des Theaters – vom historischen Moment ausgehend, werden die richtigen Fragen gestellt, kompakt und konzentriert. Vor allem danach, was unerledigt blieb – etwa der bis heute anhaltende europäische Kolonialismus, der im grassierenden Rassismus ja nur die offenste Fratze zeigt; das Team um Monika Gintersdorfer und Knut Klaßen beschwört diesen Themenkomplex. Die vier Frauen vom Kollektive "Henrike Iglesias" unterziehen aktuelle Positionen des Feminismus dem 68er-Faktencheck; und brechen eine Lotterie vom Zaun, in der das Publikum gute Vorsätze "gewinnen" kann. Ein bisschen wirkt das allerdings wie Bleigießen an Silvester…
Anna-Sophie Mahler hat den eigenen Vater Eugen in einem Film von Alexander Kluge entdeckt – und befragt nun Papa, inzwischen 91, zur wilden Frankfurter Zeit, als die Uni nicht mehr Goethes Namen, sondern den von Karl Marx tragen sollte. Zitate von Rudi Dutschke sind hinzu gemischt; und mit dem Gesang von Jelena Kuljić und Yuka Yanagihara zu Michael Wilhelmis Klavier wird sozusagen Rudis Himmelfahrt daraus.
Ego-Wahn neuer Generationen
Der Mexikaner Alberto Villareal erinnert dann daran, dass 1968 auch olympische Spiele stattfanden bei ihm zu Haus – und kurz zuvor das Militär demonstrierende Studenten zusammen kartätschte. Ein Panzer aus lauter weißen Luftkissen "rollt" dazu auf die Bühne; und eine junge Frau demaskiert den Ego-Wahn neuer Generationen als Anfang vom Ende der Zivilisation. Stark!
Noch stärker ist aber der Beitrag von Wojtek Klemm – mit Blick auf die Selbstverbrennung des Prager Studenten Jan Palach nach dem Sowjet-Einmarsch 1968 nimmt er den genau so tödlichen Fackel-Gang eines jungen Polen vom Herbst vorigen Jahres ins Visier, der gegen die Macht im neuen, präfaschistischen Polen protestierte. Das ist Dokument und poetische Überhöhung zugleich, zum Gesang des Münchner Knabenchors – und hier bindet sich drastisch und deutlich wie nirgends sonst der noch sehr rudimentäre Aufstand von heute an den historischen damals.
Das "Raumlabor Berlin" (das ja auch an Matthias Lilienthals Start-Projekt mit den ShabbyShabby-Wohnmodulen beteiligt war) hat das Jugendstil-Theater zur Forum-Bühne verwandelt; mit Publikum teilweise auf der Bühne und immer wieder diesen weißen Luftkissen, die vielfältig interpretierbar sind – voll mit "Wind of Change" oder doch nur heißer Luft? Im Film-Clip von 1968 liest die (damals noch sehr rothaarige) Elfriede Jelinek in John-Cage-Manier: stumm, nur mit Mundbewegungen über aufgeschlagenem Buch – da bringt das Ensemble ein frisches Erholungsbierchen herein. Sehr ulkig. Und die beteiligten Kammerspiele-Kräfte, Kuljić voran, Stefan Merki, Gro Swantje Kohlhof, Thomas Hauser und Lukas Vögler, stürzen sich neben den Kollektiven sehr animiert und mächtig mutig in dieses echte Abenteuer.
Natürlich ist das nicht wirklich eine "Besetzung" des Theaters, und ebenso natürlich bleibt der Abend weit weg von den Skandalen damals, vor 50 Jahren, als Apo-Opas Bart noch rot war. Aber beispielhaft wird eben doch das Denk-Experiment erfahrbar, das im Theater entstehen kann. Im günstigsten Fall, und aus gegebenem Anlass – "Keine Angst!" steht auf dem Spruchband, das über dem Eingang der Kammerspiele hängt. Wie Wolf Biermann einst sang: So soll es sein – so wird es sein.
1968 – Eine Besetzung der Kammerspiele
Projekt mit Regie-Beiträgen von Leonie Böhm, Gintersdorfer/Klaßen, Anna-Sophie Mahler, Wojtek Klemm, Alberto Villareal, "Henrike Iglesias" und dem "Collectif Catastrophe"
Konzept und Dramaturgie: Johanna Höhmann und Tarun Kade, Raum: Raumlabor Berlin, Licht: Christian Schweig und Stephan Mariani
Mit: Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan, Sophia Schroth, Gotta Depri, Hauke Heumann, Gadoukou la Star, Jelena Kuljić, Michael Wilhelmi, Pierre Jouan, Blandine Rinkel, Hadrian Bouvier, Arthur Navellou, Pablo Brunaud, Carol Teillard, Thomas Hauser, Lukas Vögler, Thomas Hauser, Gro Swantje Kohlhof, Stefan Merki, Yuka Yanagihara
Dauer: Zweieinhalb Stunden, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
Einen "bunten 'Kessel Aufstand'" inszenierten die Kammerspiele, um 1968 zu feiern, schreibt Bernd Noack auf Spiegel Online (9.2.2018). Über Autonomie, Denkfreiheit und Widerstandsgeist sinniere hier niemand, aber immerhin versuchten Einzelne wie Anna-Sophie Mahler oder Gintersdorfer/Klaßen "in dieser blumig-wirren Revolutions-Revue" doch noch "den Anschluss an den alten '68er' zu bekommen". Statt Sehnen nach Überschreitung, Weltveränderung oder Metamorphose bleibe "ein launischer Balanceakt zwischen Slapstick und bemühter Agitation, der eher in die Enge strebt und harmlos im Rahmen bleibt". Noacks Fazit: "Die Revolution hat ihre Enkelkinder verlassen."
Nicht alles "an dieser bisweilen amüsanten, stellenweise sogar auch klugen Szenenfolge" sei falsch, findet Eva-Elisabteh Fischer in der Süddeutschen Zeitung (10.2.2018). "Man konzentriert den Blick nicht auf Deutschland, sondern lässt, so macht man das heute, auch bei '1968' den Blick in die Welt schweifen, landet in Mexiko und Polen – und natürlich beim Postkolonialismus". So erzähle Gadoukou la Star beim Regie-Duo Gintersdorfer & Klaßen "Bedenkenswertes von den Thesen des Schriftstellers Frantz Fanon über die Verbindung von Politik und Psychoanalyse". Die vier jungen Frauen des Kollektivs Henrike Iglesias fielen hinter den Feminismus der 68er zurück, "machen aber doch Spaß".
Elfriede Jelinek spendiere mit ihren Video den einzigen wahrhaft subversiven Beitrag zu einem dramatisch-musikalischen Jubiläumsdiskurs, findet Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.2.2018). Von den sieben weiteren theatralen Statements "in maximaler Uneinheitlichkeit" lobt sie Alberto Villarreals satirische Verarbeitung des Massakers in Mexico City, Wojtek Klemms bitter-poetische Antwort auf die öffentlichen Selbstverbrennungen politischer Widerständler in Polen und Anna-Sophie Mahlers experimentalmusikalisches Psychogramm. Der Rest? "Der einfachere Weg zum wohligen Wir-Gefühl".
"Einige der Darbietungen rütteln durchaus auf, wie Wojtek Klemms Beitrag, andere amüsieren wie die satirische Einlage Henrike Iglesias. Nur: Richtig provokant ist das alles nicht", befindet Annette Walter in der taz (14.2.2018). "Der Geist der Revolte, der 1968 regierte, die Krawalle und Wortgefechte kommen einem an diesem Abend weit entfernt vor."
Die Kammerspiele versuchen "einen performativen Rundumschlag über das berühmte Schlüsseljahr", aber ein einziger Abend könne da doch nur eine eklektische Annäherung sein, so Michael Stadler im Freitag (10.3.2018). Die einzelnen Puzzlestücke sind zu Zeitreise zusammengesetzt, die weniger analytisch in die Vergangenheit eindringe, als im Dienste einer Gegenwartsanalyse steht. Von Leonie Böhm gebe es zum Einstieg eine lustige Klamotte inszenier. Ganz anderen Tonfall schlagen da Gintersdorfer/Klaßen an, wenn es Frantz Fanons antikolonialistisches Manifest zum Ausgangspunkt für Fragen des heutigen Widerstands nimmt. Und das Frauen-Kollektiv Henrike Iglesias beschäftige sich damit, dass die Emanzipation der Frauen seit 1968 ein paar weitere Schritte voran gemacht habe, "die Gleichberechtigung aber längst noch nicht erreicht sei".
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Fein, dass Herr Laages hier ein paar Bezugspunkte zu knüpfen wusste und dem ganzen Kokolores doch noch etwas positives abgewinnen konnte. Ich habe leider einen Abend gesehen, der mich in seiner Belanglosigkeit, die auf dem Schafott politischer Selbstbehauptung zum Paarungsakt gezwungen wurde, erschüttert wurde. Zwei und eine halbe Stunde Mumpitz, der mit beinahe nichts, vor allem aber mit 1968 überhaupt nichts zu tun hatte: fehlte ihm doch eine Behauptung, eine Idee, Vision, Hoffnung (außer heitschibumbeitschi und alles wird froh zum Ende) - überhaupt eine Haltung.
Die Ausnahme macht hier, wie zurecht oben beschrieben, Klemms Beitrag, der sich zwar kaum in den Ablauf des Abends fügen konnte, als einziger aber sich bekennt: zur Gegenwart und der Unmöglichkeit diese auszuhalten. Die Gegenwart nicht nur anhand schwurbeligen Diskurseses oberflächlich zu beschreiben, sondern mit Figuren eine Haltung zu beziehen. Nicht zuletzt der einzige Beitrag, dem man gutes Handwerk und ein Bewusstsein für den Ort der Aufführung anmerkte: ein Theater (keine Eventbude !)
Diesen Beitrag mit quietschbuntem Quark zu rahmen, ist dramaturgisch reinster Käse und nimmt ihm dabei die endlich gefundene Brisanz.
Henrique Eglesias' feministische Position gliederte sich ebensowenig in die Ruinen einer Struktur, formulierte das aber immerhin von Anfang an und konnte - extraterrestisch eingeflogen - zumindest eine Konsequenz entwickeln, die in Ihrer Absicht überzeugt.
Das war leider kein Wagnis.
(Es ist gewerkschaftlich problematisch, die vielen eifrigen Techniker für so viel heiße Luft durch die Gegend flitzen zu lassen.)
Ich habe Mitleid mit den Performern(?), die vor den Kamerspielen in der Kälte Texte vortragen - auf verlorenem Posten.
Noch mehr Mitleid mit den Performerinnen(?), die vor der Kasse Gäste bitten, ihre Ängste anonym auf Zettelchen zu kritzen. Die Ängste werden später von einem Conferencier (Performer? Schauspieler? Moderator?) verlesen (und anschließend verspeist?).
Wäre das nicht mal was für eine Betriebsfeier? Oder eine Butterfahrt? Ach ja, es ist Fasching!
Den 8 Teams und Elfriede Jelinek - gelingt ein sehr abwechslungsreicher, unterhaltsamer Abend mit sehr ernsten Momenten. Persönliches wird mit hochpolitischem, aktuelles - eine Selbstverbrennung in Polen 2017 oder die Feminismus-Debatte - mit historischen Geschehnissen - etwa die Vorkommnisse im Rahmen der Olympischen Spiele in Mexico - beleuchtet. Für mich sehr berührend. Ansätze der Psychotherapie - Vater-Sohn Beziehung, Rassismus, Kolonialismus, Konsumrausch und Egozentrismus. Spannend welche Themen junge Schauspieler und Regisseure aufgreifen und wie unterschiedlich diese inszeniert werden können. Manches berührend, anderes hinterlässt erstmal ein Fragezeichen. Den Mut sich selbst Freiheiten zu nehmen, auch mit der Gefahr lächerlich zu wirken, die Angst vor Veränderungen abzulegen, das sind die Botschaften in einem fulminanten musikalischem Abschluss des Abends. Großer Beifall.
Ich finde, da verkommen die Kammerspiele genau zu der Autoritätsanstalt, wofür 1968 eigentlich dagegen stünde.
Da wäre mir ja ein AfD-Stück noch lieber, wo man Tomaten auf die Bühne werfen könnte. Aber hier: Wozu sollte ich ins Theater gehen, um vorgeführt zu bekommen, was ich eh schon weiß und denke?
Ich fand diesen Abend so billig, so peinlich, so etikettiert, so langweilig, dass ich mir so erkläre, warum sie mit dem Preis heruntergegangen sind. 25 Euro auf allen Plätzen.
Gut ist: Man kann auch mal auf der Bühne sitzen und in den Zuschauerraum gucken. Wenigstens das ist eine neue Perspektive.
Nun, Sex kommt in ‚1968‘ überhaupt nicht vor. Weder Twiggy, noch Hippie, noch die Beatles, noch ein Dutschke-Attentat. ‚1968‘ kommt eigentlich überhaupt nicht vor. Dabei wäre 1968 - gäbe es ein Stück dazu - wunderbar geeignet, Anspruch, Programm, Scheitern und Vereinnahmung einer Idee in einer theatralischen Offenbarung zu realisieren, die zeigt und nicht proklamiert. Ich fürchte, es fehlen die Autoren. Wo soll man so was einkaufen? Also bedient man sich am Marktangebot. Konsumismus überall. Deshalb, finde ich, ist ‚1968‘ völlig mißlungen. Es regt zu nichts an, es regt nicht mal auf. Brav geht der Gast nach Hause. Viel Beifall.