Der Chor, der es nicht wissen muss

von Georg Kasch

München, 15. Juni 2008. Vielleicht war alles ganz anders. Vielleicht wurde die Demokratie nicht in Argos, sondern auf Kreta geboren, weil das Volk dem König Idomeneus nicht verzeihen konnte, dass er nach zehn Jahren ohne ihre Väter, Gatten, Brüder aus dem Trojanischen Krieg heimkehrte. Und weil es den Zusammenhang von Idomeneus' Mord an seinem Sohn und dem Versiegen der Brunnen erkannte: "den alten König verbannen, und so ein Zeitalter des Aberglaubens beenden". Revolution auf Kreta? "So war es nicht: So ist es nicht gewesen. Es ist so gewesen: ..."

Behauptet der Chor, der es nicht wissen muss. Der sucht, auslotet, Versionen einer alten, fernen Geschichte probiert – und in Roland Schimmelpfennigs Neufassung des Mythos heutige Beziehungs- und Machtstrukturen findet. Dazu bewegen sich die alltagsgewandeten Schauspieler durch das Parkett, auch durch die Logen des Münchner Cuvilliés-Theaters, setzen sich, bilden Gruppen, treten als Solisten hervor, derweil die Zuschauer auf der Bühne sitzen und auf die symmetrische Herrlichkeit blicken.

Weiß-rot-goldene Pracht

Ein alter Trick, dieser Perspektivdreh von Staatsschauspielintendant Dieter Dorn, aber ein besonderer, weil die Kulisse eine außergewöhnliche ist. Sie ist das prachtvolle Rokokointerieur des Alten Residenztheaters, 1750–55 von Francois de Cuvilliés erbaut. 1781 wurde hier Mozarts Oper "Idomeneo" uraufgeführt. Seit 1951 steht an Stelle des kriegszerstörten Alten das Neue Residenztheater, aber der gerettete Zuschauerraum konnte zum 800. Stadtjubiläum aus dem Depot gezerrt und im Apothekertrakt der Residenz wiedererrichtet werden, weil die Oper (das Nationaltheater) immer noch nicht fertig war.

München weiß sich zu feiern, und so schenkte sich die Stadt (mit kräftiger Landesunterstützung) fünf Dekaden später zum 850. Geburtstag neben einer neuen Bühnentechnik und einem wunderbar leichten Foyer eine sanfte Politur des prachtvollen Zuschauerraumes in Weiß-Rot-Gold. Die beiden zukünftigen Hauptnutzer, das Staatsschauspiel und die Staatsoper, durften den dekorativen Schatzkasten zum Jubiläumswochenende einweihen.

Menschlich-Allzumenschliches mit Fußnoten

Am Samstag dirigierte Kent Nagano vor brillantenklimpernder Prominenz Mozarts "Idomeneo", Regie ebenfalls Dieter Dorn, der auch den thematisch gebundenen Auftrag an seinen einstigen Regieassistenten Schimmelpfennig erteilt hatte. Der Erfolgsautor wiederum stöberte fleißig im Pauly und präsentiert seine Lesefrüchte als raunende Recherche des Chores, angereichert mit Fußnoten und schlaglichtartig Menschlich-Allzumenschlichem: ein machoid-stolzer Vater, das nach zehn Jahren Trennung sprachlos vereinte Paar, die glückliche Familie, die keine ist. Das hat treffenden Witz, auch Schärfe. Dazwischen plätschert und rauscht es im Kollektiv.

Nicht zum Schaden, denn wann immer man aussteigt aus dem sich zuweilen im Monotonen verheddernden Textgeflecht, kann man seinen Blick über Karyatiden und Atlanten, über vergoldete Stuckatur und Draperien schweifen lassen. Und wird des Bruchs gewahr zwischen einer absolutistischen Zeit, als der Mythos zu einer jeweils gültigen Doktrin instrumentalisiert wurde, und der heutigen, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie in demokratischer (oder auch: beliebiger) Vielstimmigkeit alle Varianten neben- und übereinander schichtet, ohne eine bevorzugen zu wollen.

Dekorative Menschenformationen

Es gibt in Schimmelpfennigs Partitur für 12 bis 16 Sprecher keine ausgearbeiteten Charaktere. Einzelne Stimmen heißen "Ein Mann, eine Frau, beide nicht jung" oder "Drei, die alles anders machen wollten", und dementsprechend lösen sich für Momente einzelne Schauspieler aus dem Ensemble, die Rollen andeuten, am prominentesten und suggestivsten die Resi-Stars Stefan Hunstein und Sibylle Canonica als Königspaar.

Visuell bleibt die Geschichte, die keine ist, abstrakt, weil sich alles zwischen den Stühlen oder auch den Pulten im Orchestergraben abspielt. Halt bieten die Szenentrennungen, von Dorn mit blendend blauen Neongeneralpausen klar geschnitten. Aber als Hörstück mit dekorativen Menschenformationen (die sich zuweilen im Ästhetischen erschöpfen) bleibt es ein mahlendes Werk. Der Letzte, der spricht, ruft seinen individuellen Anspruch in den Raum: "Das Leben. Was für ein Geschenk. ... Ich bin Idomeneus, und ich hänge am Leben, ich hänge am Leben."

Nach Revolution klingt das nicht. Kein übergeordneter Sinn bekommt das letzte Wort, keine Erlösung, sondern die individuelle, nackte, auf sich selbst geworfene Existenz. Dafür wurde Schimmelpfennig nach der nur eine gute Stunde währenden Aufführung weit mehr noch bejubelt als sein Regisseur, dem wiederum der getreue Kumpan Thomas Langhoff als Gesandter der Berliner Akademie der Künste im Schlussapplaus aus dem Nachlass von Boleslaw Barlog die einst von Karl Kraus gestiftete Tabakdose "Büchse der Pandora" überreichte.

 

Idomeneus, UA
von Roland Schimmelpfennig
Regie: Dieter Dorn, Ausstattung: Jürgen Rose, Licht: Tobias Löffler.
Mit: Ulrike Arnold, Sibylle Canonica, Anna Riedl, Anne Schäfer, Eva Schuckardt, Heide von Strombeck, Lisa Wagner, Ulrich Beseler, Stefan Hunstein, Shenja Lacher, Felix Rech, Arnulf Schumacher, Helmut Stange, Stefan Wilkening.

www.bayerischesstaatsschauspiel.de

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (17.6.) charakterisiert Reinhard J. Brembeck Schimmelpfennigs "Idomeneus" als "kleines, politisch gemeintes Nachspiel zur Oper". Die 14 Darsteller, die den Text als chorisches Volk im Zuschauerraum sprechen, während das Publikum auf der Bühne sitzt, ergreifen "tastend Besitz von einem Theater, das der Seeleninnenraum ist einer despotischen, allein auf Prunk und Repräsentation ausgerichteten Herrscherseele." Idomeneus, dessen Geschichte vermutet, dekliniert und widerrufen werde, sei dabei – dies sei das "zentrale Kalkül" des Textes – ein "Jedermann", als solcher aber dennoch "unwandelbare Chiffre für Unheil, das über ein ganzes Volk hineinbricht". Anders als Mozart kenne Schimmelpfennig "kein Erbarmen" und kehre eine "bestialische, geradezu archaische Härte hervor". Am Ende steuere er dann an Stelle einer aufgeklärten Monarchie (wie Mozart) "eine recht uniforme Demokratie" an.

Robert Braunmüller
in der Münchner Abendzeitung (online am 16.6., 20 Uhr veröffentlicht) nennt "Idomeneus" ein "lyrisches Programmheft ohne Musik", das aber "unversöhnlich" ende. Und: "Die Präsenz von Dieter Dorns Ensemble trägt die trotz chorischen Sprechens leichtfüßige Stunde. Sie wird durch Spielszenen aufgelockert, in denen sich Hunstein und Sibylle Canonica das Schweigen zwischen Idomeneus und seiner Gattin nach zehn Jahren Krieg vorstellen."

In der FAZ (17.6.) freut sich Gerhard Stadelmeier über das "erste wahre Kopfstück" von Roland Schimmelpfennig, über Figuren, die "ihr Gehirn benutzen". Und zwar, um "Fragen an ein Stück alter, ferner, märchenhaft grausamer Geschichte" zu stellen, "das sie so gut zu kennen scheinen, dass es ihnen schon wieder ('War es wirklich so?') fremd und fragwürdig wird." Trotzdem verweigere Schimmelpfennig das Drama nicht. Gerade dadurch, dass die Handlung nicht sichtbar auf der Bühne, sondern in den Kommentaren des Chores stattfinde, würden "alle Menschenmöglichkeiten" offengelassen "und deshalb buchstäblich: vorstellbar". Dieser "Idomeneus" habe "einen Zug ins Große. Und da er sich Gedanken macht – einen Zug ins Gescheite. Und da hier so wundervoll, immer pathetisch im Sinn, nie pathetisch im Ton, gesprochen wird – einen Zug ins Grundmusikalische."

Peter Michalzik
widmet sich in der Frankfurter Rundschau (17.6.) zunächst ausführlich dem Cuvilliés-Theater: "Die Geschichte der Schließungen und Eröffnungen dieses Theaters ist lang. Sie ist eine hübsche Variation auf die Themen Vergangenheitssehnsucht, Liebe zum Original, Prunksucht und den Selbstbetrug, der notwendig in allen Wiederherstellungsfantasien steckt." Auch Dieter Dorns Uraufführung des Schimmelpfennig-Stücks lasse sich als (chorisch reflektierende) Bearbeitung eines "ungeheuerlichen Stoffes" mit dieser Klammer fassen: "Diese Aufführung ist eine Paraphrase, sie weiß, dass sie eine Fußnote ist, sie lässt das Alte bestehen und schickt es doch durch vielfältige Metamorphosen. Sie weiß, dass es keinen wahren Mythos gibt, nicht mal bei Mozart, sie weiß aber auch, dass man Mozart nicht vergessen kann. Es sind merkwürdige Chimären, die das Theater erzeugt."

Claus Spahn in der Zeit (19.6.) hält wenig vom ganzen Wiedereröffnungzirkus und der Art, wie München das frisch restaurierte Theater samt seiner goldstrotzenden Kapitelle künftig als teuren Eventschauplatz vermarkten will. Umso mehr hält er von Schimmelpfennigs "Wortoratorium" und seinen fragenden, tastenden, zweifelnden Suchbewegungen in Richtung des alten Stoffes "bei gleichsam visionär geweiteten Augen". Und er feiert die "großartige Schaupielertruppe" um Sibylle Canonica und Stefan Huntstein, die den modernen "Idiomeneus" konzertant rezitierte. "So kann man einem altehrwürdigen Theater neue Kunstkraft erschließe."

 

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