Oradour - Im Münchner HochX untersucht Karen Breece mit Katja Bürkle und Benny Claessens Mechanismen des Gedenkens
Strafarbeit für zwei Engel
von Sabine Leucht
München, 15. Februar 2018. Wer kennt Oradour-sur-Glane? Hand aufs Herz! 1944, die Alliierten waren gerade in der Normandie gelandet ... ? Dass die Deutsch-Amerikanerin Karen Breece auch mit ihrer neuen Arbeit ein finsteres Kapitel aufschlagen würde, war zu erwarten. Sie lebt in Dachau, hat dort 2012 ein KZ-Häftlingsstück uraufgeführt, zwei Jahre später das ehemalige SS-Gelände bespielt und sich als "Nestbeschmutzerin" beschimpfen lassen.
In ihren Münchner Produktionen rückte die freie Regisseurin näher an die Gegenwart heran, collagierte ein Live-Hörspiel zur deutschen Asylpolitik und brachte zuletzt mit "Don't forget to die" fünf alte Menschen ins Gespräch über die Unausweichlichkeit des eigenen Sterbens. Das Stück mit Ursula Werner als einzigem Schauspiel-Profi ist kein Fest der Bilder, aber in seiner wohl austarierten Mischung aus individueller Freiheit und reglementierender Form, Politischem und Privatem beispielhaft. Auch den koproduzierenden Münchner Kammerspielen bescherte der zum FIND-Festival nach Berlin geladene Abend wiederholt ein volles Haus.
Basierend auf einem Massaker
Mit ihrem neuen Stück "Oradour" bleibt Breece nun im Hoch X auf der Guckkastenbühne, geht aber thematisch zurück zu ihren Wurzeln. Denn der Name des kleinen Ortes nahe Limoges markiert einen Meilenstein in der Geschichte der deutschen Mordlust: Am 10. Juni 1944 löschte die 2. SS-Panzerdivision "Das Reich" 642 Einwohner Oradours aus. Frauen und Kinder wurden in der Kirche verbrannt. Es gab sechs Überlebende. Keiner der Soldaten wurde je vor ein deutsches Gericht gestellt.
Das muss man wissen, denn der Abend selbst geizt mit historischen Details. Zwar liegt ihm ein faktenkundiger Text zugrunde, den Breece aus Gesprächen mit Zeitzeugen, Angehörigen von Opfern wie Tätern und einer Portion Fiktion gebaut hat, doch Benny Claessens und Katja Bürkle spielen mit ihm ganz ähnlich wie mit dem Ball, der zwischen ihnen auf dem grünen Flokati liegt – grün wie das Gras, das manch einer über der Vergangenheit wachsen lassen will.
Botschaften von Opfern und Tätern
Betont ungeschickt stupsen sie den Ball mit den Fußspitzen an. Von Kicken kann keine Rede sein, nicht einmal von Berührung. Wie eben vom Himmel gefallene große Kinder wirken die zwei, ganz in weiß, sie in viel zu langen Hosen, er mehr noch als sie permanent Gesten und zierliche Posen antestend, mit denen er sich sichtlich unwohl fühlt. Wie mit den Worten, die beide ausprobieren und die für extreme Gefühle stehen.
Walter Benjamins "Engel der Geschichte", der im "vom Paradiese her" wehenden Sturm auf die Katastrophen der Vergangenheit starrt, stand Pate für diese Form der Annäherung an das Erinnern. Breece hat das Benjamin-Zitat ihrem Text vorangestellt, Claessens und Bürkle sind die Engel, die nicht herankommen an die vergangenen Gräuel, die sie nicht loslassen. Sie scheinen über ihre Kopfhörer Botschaften von Opfern wie Tätern zu empfangen, die sich durch ihre widerstrebenden Lippen Gehör verschaffen.
Ein- und mehrdeutige Distanzierung
Tolle Schauspieler sind diese beiden Ehemaligen der Münchner Kammerspiele beide. Und dabei so verschieden: Bürkle bringt es zuwege, ein Hurra-Soldatenlied praktisch ohne Ton zu singen und mit dem ganzen Körper auf Abstand dazu zu gehen. Zugleich könnte sie in dieser Szene aber auch ein alter Soldat sein, der mit letzter Kraft an der Idee festhält, das wahre Opfer der Geschichte zu sein. In solchen ambivalenten Momenten spürt man, wo Breece hinwill mit ihrer Idee des Theaters als Erinnerungsraum, der dem ritualisierten Gedenken eine Alternative aufzeigt. Gerade durch die ästhetische Distanz.
Claessens dagegen hält sich die Passagen, in denen die Täter zu Wort kommen, mit Satire vom Leib und hat (zu)viel Lust am Sich-Überheben über die Soldaten, die für die Karriere auf Kinder und Frauen schossen oder Selbstanzeige betrieben, nur um danach besser schlafen zu können. So verständlich das ist, aber hier wird es auch politisch zu einfach, zu claessenshaft-putzig und privat – und albern in der Pauschalisierung des Bösen. So japst der Belgier in einem One-Man-Krächz-Kabarett mit der Stimme eines kehlkopfkrebskranken SS-lers: "Ich habe ein Abo an den Kammerspielen und beschwere mich so gerne über den Akzent von Damian Rebgetz." Ein Wink mit dem Zaunpfahl zurück in Claessens' eigene Münchner Geschichte.
Am Ende der Zeit
Weil der immer nur Annäherung bleibende Vorgang des Erinnerns und nicht das in seiner Grausamkeit sowieso unvorstellbare Zu-Erinnernde Thema ist, bleiben – folgerichtig – inhaltliche Lücken. Vermutlich sogar mehr als geplant, weil wegen des krankheitsbedingten Ausscheidens von Sebastian Mirow, dem dritten Schauspieler im Bunde, der Abend kurz vor der Premiere umgebaut werden musste.
Und dann gibt es sie am Ende aber doch noch: Die Szene, die alles miteinander verbindet, was bisher vermieden wurde: Mitgefühl und Pathos, großes Kino und etwas Geschichtsnachhilfe. Katja Bürkle steht sehr klein in einem Wald aus Mikrofonen und erzählt aus der Perspektive einer Siebenjährigen von dem Massaker – in kindlichen Bildern vom "Biest", das kam um sie zu holen, aber zugleich gebrochen durch die Erinnerung der Schon-Erwachsenen, die von Filmbildern überlagert ist und statt der eigenen Trauer den trauernden Philippe Noiret in Robert Enricos Verfilmung von 1975 vor sich sieht. Die Schreie der Verbrennenden hört sie durch seine Ohren. Wir hören die dunklen Töne von Messiaens' "Quatour pour la fin du temps" und helle Kinderstimmen aus dem Grab der Geschichte. Und da berührt er dann doch, dieser nicht ganz fertig wirkende Betroffenheitsvermeidungsabend.
Oradour
von Karen Breece
Recherche, Text und Regie: Karen Breece, Musik: Beni Brachtel, Bühne: Melinka Pixis, Kostüme: Teresa Vergho, Licht: Max Kraußmüller, Dramaturgie: Tobias Staab, Historische Beratung: Dr. Andrea Erkenbrecher, Regie- und Produktionsassistenz: Jan Termin.
Mit: Katja Bürkle, Benny Claessens.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.theater-hochx.de
www.karenbreece.com
"Wenn es eine Gerechtigkeit gäbe in der Theaterwelt, müsste diese Produktion zum Theatertreffen eingeladen werden", findet Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (17.2.2018). Der Abend sei "ungeheuer klug" und verfüge mit Bürkle und Claessens über zwei Spieler*innen, "die auf kongeniale Weise die intellektuelle Brillanz des Textes durchdringen und mit Emotionalität ausfüllen können." Breece mache "kein Dokutheater", sondern untersuche "das Erinnern an sich, den Abdruck des Geschehens." Wenn Claessens "seine Stimme zu einem Horrorpanoptikum" verzerre, sei das "sein Entsetzen, nicht Mördermimikry". "Die Vielzahl der Facetten ist überbordend, aber die Konnotationen sind extrem präzise gesetzt." Das Ganze sei aufwühlend und grandios.
Einen "Totalausfall" attestiert Mathias Hejny in der Abendzeitung (17.2.2018). "So charmant die beiden Akteure delirieren, so arrogant wirkt das fehlende Interesse am sichtbar interessierten Publikum und so dekadent ist das Kunstgedöns, dem die Opfer eines real existierenden Kriegsverbrechens postum ausgeliefert werden."
"Großartig" findet Katrin Hildebrand vom Merkur (17.2.2018) das Spiel von Bürkle und Claessens. "Mitunter ist das zum Schreien komisch, zum Schlucken bitter." Hildebrand sah "grandiose Szenen mit wundervollen Darstellern".
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gestern habe ich mich in der Premiere befunden. Ich hatte große Hoffnung auf einen großartigen Abend! Leider muss ich nun als Fazit sagen, dass Ihre Kritik sehr wohlwollend ausgefallen ist. Der Abend zieht an einem Vorbei, lässt einen kalt. Keine Bilder, kaum Stimmung ausser am Ende wie Sie es bereits beschreiben. In diesem Fall war es wohl ein Fehler mit Schauspielern wie Benny Claessens zu arbeiten. Leider hat er auch diesmal, wie in anderen Stücken auch, sein klassisches Spielrepertoire benutzt, was dazu geführt hat dass man sich auf den Text nicht einlassen konnte. Ich finde es sehr schade dass sich hier eine vielversprechende Regiesseurin nicht auf die Suche nach einer künstlerischen Form begeben hat. Der Abend ist lau. Zu lau für dieses große Thema. Er hinterlässt nichts. Vielleicht noch am einprägendsten waren die ratlosen Gesichter der Schauspieler, die zum nicht stattfinden wollenden Schlussapplaus in eine Stille traten und nicht wussten ob sie richtig oder falsch sind. Schade!