Es treibt der Müll auf dem Gedankenstrom

von Steffen Becker

Karlsruhe, 22. Februar 2018. Wenn etwas noch 20 Zentimeter in uns steckt, gehört es zu unserem Körper und ist kein Problem. Liegt es dann 20 Zentimeter unter uns in der Kloschüssel, ist es Ausschuss, vor dem wir uns ekeln. Warum stört der Körper uns erst, wenn er von uns abfällt?

Körper, ihr Müll und ob sie nicht insgesamt Müll sind – das ist eine der vielen Assoziationsketten dieser Uraufführung von Thomas Köcks "Abfall der Welt". Da die Inszenierung am Staatstheater Karlsruhe Schauspiel und Tanz verbindet, ist es zugleich die dominanteste. Schauspieler und Tänzer verknoten sich untereinander, mit Fitnessbändern, in Kranschlaufen. Immer auf der Suche nach der optimalen Methode, sich weniger wie Müll zu fühlen, Erinnerungen aus sich heraus zu pressen oder Beziehungen abzuschneiden.

abfall der welt1 560 Felix Gruenschloss uKörper heißt Verschleiß: Tänzer und Schauspieler im Bühnenbild von Heike Mondschein © Felix Grünschloß

Wie Körper einem ihren Verschleiß vor Augen führen, machte indirekt auch die Verschiebung der Uraufführung um eine Woche deutlich. Grund war ein Unfall im Ensemble, so die Nachricht. Neugierig sucht man bei der Premiere nach Anzeichen – und entdeckt eine Bandage am Knie der Tänzerin Ariel Cohen. Sie erzählt von ihrem Traum vom Ballett. Ihr Mitspieler Klaus Cofalka-Adami ruft im Cowboy-Outfit und US-frenetisch "the secret of ballet is discipline and repetition to make the body disappear" ins Publikum. Cohen berichtet, dass Tanz ihren Körper zerstört, dass sie in zwei Monaten 20 Kilogramm verloren habe ("Trash") und dass der Magersucht ihre Brüste zum Opfer gefallen seien. "Teile des Textes basieren auf Teilen der Biografien der beteiligten Menschen", heißt es im Vorspann des Stücks. Im ersten Bild der Inszenierung sieht man Cohen nackt – und ihren kaum vorhandenen Busen. Eine doppelte Entblößung. Sie geht unter die Haut.

Plastikmüll im Pazifik und das Heranspülen des White Trash

Das kann man leider nicht für alle Teile des Textes behaupten. Autor Thomas Köck hat einen "vielstimmigen Monolog" geschrieben, der erst bei den Proben mit den Akteuren seine endgültige Form fand. Es inszenieren mit Marie Bues und Nicki Liszta zwei Regisseurinnen, die Beteiligte von vier Institutionen zusammenführen mussten (neben dem Theater Karlsruhe aus Stuttgart das Theater Rampe, backsteinhaus Produktion und die Akademie für darstellende Kunst). Unübersichtlich wird es auch auf der Bühne, die gestaltet wurde, bevor der Text stand. Die Verbindung der herabhängenden Terrabänder zum Thema Abfall, Sinnsuche, Körperverhältnis ist so stark wie ihre Halterung an den Stangen – vorhanden, aber sie reißen doch schnell ab.

Inhaltlich präsentiert "Abfall der Welt" die meiste Zeit einen Gedankenstrom, der intellektuell klingt, aber wenig überrascht. Ein bisschen Drogendelirium, Theater-Selbstreflexion (sollte man den Körper nicht digitalisieren und Avatare spielen lassen?), Erinnerungen, die sich verklumpen wie die Plastikinseln im Pazifik. Dazu Politik und ihre Notwendigkeit, unter Menschen permanent Ausschuss zu produzieren: damit die anderen sich vergewissern über dem Strich zu leben. Damit produziert sie wütenden "White Trash", der Trump wählt, und eine Schneise der Verwüstung. Das kann man alles nachvollziehen. Es packt einen aber nicht mehr, als wenn man es als Thesen auf der Meinungsseite einer Zeitung lesen würde. Daran vermag auch die Kunst der Darsteller nichts zu ändern, sich tänzerisch von sich zu werfen. Choreografisch ist das in den Rhythmus der Inszenierung gut eingebettet. Die Akteure setzen es so gut um, dass man den Blick ins Programmheft braucht, um sicherzugehen, wer eine Schauspiel- und wer eine Tanzausbildung hat. Die Anknüpfung an den Inhalt bleibt bei der Choreografie jedoch genauso vage wie bei der Bühne. Der Spur nach passt es, mehr aber auch nicht.

abfall der welt3 560 Felix Gruenschloss uVor den Absperrbändern des American Dream: David Krzysteczko, Britta Gemmer und Ariel Cohen © Felix Grünschloß

Berührend wird es erst wieder am Schluss. Als gescheiterter American Dream steht Klaus Cofalka-Adami vor pinken Lettern ("Fuck memories!") und würde sich gerne löschen – die Erkenntnis, dass der Traum nur Müll produziert hat; die Erinnerungen an den Untergang des Fortschrittglaubens im "rust belt" Amerikas. Alle Bilder: delete. Aber kein System kann sich selbst löschen. "Jedes System braucht etwas Übergeordnetes, etwas, das die Löschung veranlasst, überwacht", deklamiert er. Er gibt Löschbefehle, es steht ihm die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben, dass sie Fiktion sind: Das Protokoll vermerkt "file deleted". Die Erinnerungen bleiben, man vergisst nur, dass man sie hat. In seinen Cowboy-Stiefeln potenziert Cofalka-Adami die Depression dieses Moments noch. Ein passendes Ende.

 

Abfall der Welt 
von Thomas Köck
Uraufführung
Regie und Choreographie: Marie Bues, Nicki Liszta, Choreographische Assistenz: Isabelle von Gatterburg, Bühne und Kostüme: Heike Mondschein, Musik: Beste Aydin, Dramaturgie: Marlies Kink.
Mit: Barbara Behrendt, Klaus Cofalka-Adami, Sascha Tuxhorn, Ariel Cohen, Britta Gemmer, Sarah Siri Lee König, David Krzysteczko, Beste Aydin.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.karlsruhe.de
www.backsteinhausproduktion.de
www.theaterrampe.de
www.adk-bw.deadk-bw.de



Ein erfolgreiches Duo: Thomas Köcks Vorgängerarbeit "paradies spielen (abendland. ein abgesang)" ist zu den Mülheimer Theatertagen 2018 eingeladen. Uraufgeführt wurde es im Dezember 2017 in Mannheim von Marie Bues.

 

Kritikenrundschau

Reste, unverwertete oder gekürzte Passagen von Köcks hochgelobter Klima-Trilogie seien das Füllmaterial dieser jugendlichen Befindlichkeitsschau, "die so tut, als habe sie die Welt analysiert", berichtet Ralf-Carl Langhals im Mannheimer Morgen (24.2.2018). "Beim prätentiösen Restverkauf des mäßig geknüpften Textteppichs sprudelt Plastikschrott wie Datenmüll und politischer 'white trash' an die kurzflorige Oberfläche, an deren Fransen Ariel Cohen, Sascha Tuxhorn David Krzysteczko und Klaus Cofalka-Adami immerhin sprachlich zupackend ziehen. Meist sehen (und hören) wir aber nur ein 'Standbild' und den Satz 'files deleted': Datensätze gelöscht. Und so verlässt man mit (fast) leerer Festplatte das Studio des Staatstheaters, endlich!"

"Ganz schön viel Stoff, der hier verwurstet, verwertet und verhackstückt wird", findet Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (24.2.2018). Geschickt findet er den Schachzug, das Text-Patchwork von einem Produktions-Patchwork auf die Bühne bringen zu lassen: "Alle zusammen recyceln aus dem Textmaterial eine nachhaltige Performance."

In der dahinströmenden Sprach- und Themenflut werde dem Zuschauer "mangels konkreter Szenen nur wenig Halt geboten", schreibt Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (24.2.2018). Für ihre Patchwork-Umstände wirke die 80-minütige Collage allerdings beachtlich homogen.

 

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