"Etwas Unvernunft, bitte!"

von Willibald Spatz

Augsburg, 23. Februar 2018. Stillstand ist ätzend, Stillstand ist kaum auszuhalten, aber immerhin gut zu bebildern, zumindest in Christian von Treskows Inszenierung vom "Untergang des Egoisten Johann Fatzer". Dabei geht das Stück zunächst recht munter los: Vier Herren, darunter auch der Fatzer, steigen während des Ersten Weltkriegs aus ihrem Panzer und gehen nach Hause. Alle vier gemeinsam zu einem von ihnen nach Mühlheim an der Ruhr. Schließlich ist praktisch jede Minute entweder mit dem Ende des Kriegs oder ihrer Hinrichtung oder dem Ausbruch irgendeiner Revolution zu rechnen. Es passiert aber: nichts, zumindest nichts davon. Stattdessen sind die vier unfreiwillig in einer Warteschleife gelandet, in der sie sich wieder mit so alltäglichen Dingen wie der Beschaffung von Nahrungsmitteln und Affären mit zu Hause zurückgelassenen Frauen befassen müssen.

Wenn nicht einer mal aufsteht ...

Brecht hat nach ungefähr 500 Seiten aufgehört zu schreiben, weil er nicht weiterkam. Gerade damit, dass er das Stück als Fragment liegen ließ, hat er seinen Figuren und der Sache an sich einen unschätzbaren Dienst erwiesen: Es passiert wirklich nichts, wenn nicht einmal einer aufsteht und eine Revolution veranstaltet.

fatzer 560 c jan pieter fuhr uWie wäre das verlorene Leben noch zu retten?  Anatol Käbisch, Kai Windhövel, Gerald Fiedler, Ute Fiedler, Sebastian Müller-Stahl. © Jan Pieter Fuhr

Die Augsburger Version von Sabeth Braun ist im Vergleich zu Heiner Müllers berühmter 60-seitiger Fassung aus den Neunzehnsiebziger Jahren komprimierter. Kurz vor Ende wird Fatzer von seinen Kameraden hingerichtet, wie es ja der Stücktitel schon andeutet. Da hat Kai Windhövel, der in Augsburg den Fatzer spielt, seinen stärksten Moment: Gefesselt auf einen Stuhl bettelt er um sein Leben, freilich vergeblich. In diesem Moment gelingt so etwas wie die Darstellung eines denkbaren Menschen.

Der Ton der Inszenierung

Zuvor musste man über anderthalb Stunden einem Ringen des Regisseurs und seines Ensembles um eine passende Form für den sperrigen Text zuschauen. Chorpassagen werden frontal ins Publikum abgeladen. Wenn die Frauen auf die Bühne kommen, müssen sie torkeln und sich selbst begrapschen, so dass sie bereits Karikaturen sind, bevor überhaupt ein Wort von ihnen gesprochen ist. Die Männer wiederum brüllen sich meistens an wie Ochsen.

Fatzer ist mehrere Tage unterwegs, um Fleisch zu besorgen. Als ihn seine Freunde wegen der Erfolglosigkeit seiner Aktionen zur Rede stellen, schreit er: "Wollt ihr Fleisch haben oder kämpfen?" Woraufhin die anderen blökend Fleisch fordern. Ein Soldat mit Megaphon – als ob es das noch gebraucht hätte – tritt auf und plärrt vom Erfolg der eigenen Truppen, was Büsching zum lautstarken Ausflippen bringt. Er schmeißt den Mit-Deserteur Koch mit den Worten "Ich scheiß auf deine Vernunft" um. Einfach so. Das ist halt der Ton der Inszenierung.

fatzer 560a c jan pieter fuhr uFatzers Untergang: Klaus Müller, Linda Elsner, Sebastian Müller-Stahl und Kai Windhövel als Fatzer
© Jan Pieter Fuhr

Wobei im Bühnenbild von Oliver Kostecka durchaus immer wieder beeindruckende Bilder entstehen. Wir blicken in einen kahlen Raum, in dessen Mitte eine Rinne verläuft. Hier fahren oder gehen Personen comichaft auf halber Höhe vorbei. An der Rückwand sind rote Buchstaben aufgebaut. Diese kann man drehen und manchmal entstehen dabei scrabble-gleich auch echte Wörter wie LOVER, manchmal steht aber nur so etwas NIUOE da. Wenn allerdings dazwischen Menschen stehen und darüber Bilder von Skeletten oder zerschossenen Städten projiziert werden, entstehen berührende Momente.

Brecht ohne Sockel

Als vor einem Jahr Patrick Wengenroth die Leitung des Brechtfestivals übernommen hat, begann alles sehr verheißungsvoll. Seine eigene Brechtrevue sowie eine Reihe weiterer Produktionen holten Brecht von seinem hohen Sockel und konnten beweisen, dass man mit ihm und seinen Texten auch spielen kann. Nach diesem Abend nun, der das zweite Brechtfestival unter Wengenroths Ägide eröffnete, ist dieser Eindruck etwas verflogen.

Fatzer fordert zwar "Etwas Unvernunft, bitte!", aber um sein Innerstes wirklich auf den Punkt zu bringen, muss er singen. "Zu kalt" von Slime, ein ziemlich toller Song, den man viel zu selten hört. Der Text einer Punkband trifft den Kern der Sache fast besser als das Stück, an dem man sich einen Abend lang abgemüht hat. Die Musik für den Abend hat übrigens Girisha Fernando zusammen mit Andreas Rosskopf eingespielt. Sie ist ähnlich gelungen wie seine Musik zur Peer Gynt-Inszenierung vom Intendanten André Bücker. Girisha Fernando kuratiert auch das Musikprogramm des Brechtfestivals. Und nach diesem ersten Abend muss man annehmen, dass die Perlen wohl vor allem dort zu finden sein werden.

 

Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer
nach dem Fragment von Bertolt Brecht
Inszenierung: Christian von Treskow, Bühne und Kostüme: Oliver Kostecka, Musik: Girisha Fernando, Andreas Rosskopf, Dramaturgie: Sabeth Braun.
Mit: Kai Windhövel, Klaus Müller, Sebastian Müller-Stahl, Gerald Fiedler, Ute Fiedler, Linda Elsner, Anatol Käbisch.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.theater-augsburg.de
brechtfestival.de

 

Kritikenrundschau

"Insgesamt was gewagt – und insgesamt was draus gemacht", befindet Rüdiger Heinze in der Augsburger Allgemeinen (26.2.2018). "Bei schwieriger Ausgangslage und komplexer Textmasse" breche sich "dann doch ein Abend von hinreichender Kraft Bahn, nicht ohne finalen V-Effekt".

"Eine insgesamt schwache Inszenierung wird von durchwegs guten Schauspieler-Leistungen vor dem Absturz ins Unerträgliche gerettet", schreibt Siegfried Zagler in Die Augsburger Zeitung (25.2.2018).

Christian von Treskow erzähle "eine eigene, konzise Geschichte, der am Ende allerdings ein wenig die Luft ausgeht, einfach deshalb, weil Brecht ja selbst kein Ende fand", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (1.3.2018). Dafür habe er "sieben Darsteller, die den Text in den säkular-sakralen Chorpassagen sprechen und quasi singen, ihn deklamieren und ihm eine Prise Leben einhauchen, manchmal schrecklich laut sind und dann wieder richtig gut".

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