Prosperos langer Abschied

von Katrin Ullmann

Hamburg, 24. Februar 2018. Womöglich ist der Abend als Requiem gemeint. Als Abgesang auf die Welt. Die zerstört wird von den Abgebrühten und Halbherzigen, von den Golfspielern, den Gewinnsüchtigen und den Gierigen. Von denen, die kein Mitleid mit weinenden Kindern, sterbenden Eisbären haben, die Massaker in Kauf nehmen, Kriege und sogar die Ölpest. Von uns allen also. Denn, das merkt man gleich, dieser Prospero hat genug, von all dem schlechten Zauber. Und doch zeigt er seiner Tochter Miranda diese verkommene Welt. Öffnet ihr die Augen für das zivilisatorische Böse, von dem sie in ihrem langjährigen, exilbedingten Inselleben bisher verschont geblieben war.

Shakespeares Drama "Der Sturm" bildet nurmehr die Grundlage und den sehr endzeitgestimmten Assoziationsrahmen für Jette Steckels Inszenierung. Ihre erste Arbeit in dieser Thalia-Spielzeit trägt "A Lullaby for Suffering" im Untertitel und bedient sich recht großzügig vor allem zweier musikalischer Quellen - beide natürlich im Neu-Arrangement der sogenannten Prosperos Band of Spirits unter der musikalischen Leitung von Laurenz Wannenmacher.

Zwei düstere Musik-Alben

Die eine Stimmung speist sich aus Leonhard Cohens "You want it darker". Das Album, das der damals 82-jährige Musiker 2016 veröffentlichte, ist seine letzte Kompilation, eine Platte voller Abschiede. Steckel lässt daraus zitieren und singen. Vor allem – wer hätte das gedacht? – natürlich Prospero, den Barbara Nüsse zwischen nüchterner Gelassenheit und naiv-staunender Melancholie durch die Szenerie zaubern lässt. Dieser aus der Welt weichende Prospero singt aus dem vielleicht schwärzesten Album der Popgeschichte, natürlich dann, als er im Sterben liegt und auch noch dann, als er in den tiefschwarzen Bühnenhimmel entschwebt.

der sturm 560a armin smailovic HProspero (Barbara Nüsse) auf dem Weg, die real world zu entzaubern. Und zu sterben.
© Armin Smailovic

Zum anderen dürfen die Texte der britischen Rapperin Kate Tempest herhalten. Die junge Popliteratin verfasste in ihrem zweiten Album "Let them eat chaos" sieben Episoden über Einsamkeit, Liebessehnsucht und Schlaflosigkeit. Schließlich wachen alle Charaktere – so unterschiedlich sie auch sind – immer morgens um 4.18 Uhr auf, die genaue Uhrzeitangabe wirkt wie ein Verweis auf das letzte Stück der ebenfalls britischen Dramatikerin Sarah Kane, die sich 1999 das Leben nahm. Doch Tempests Großstadtneurotiker leiden weniger unter Psychosen oder Depressionen als vielmehr unter einer schweren Erschöpfung, und zwar vom Leben.

Melancholisch leidend, Tempest rappend

Für Jette Steckel ist dieser Zustand offenbar Grund genug, Tempests Texte zur eigentlichen Hauptfigur zu machen. Sicherlich treten neben und in ihnen der schon genannte Prospero und etwa auch Luftgeist Ariel (Mirco Kreibich), Caliban (André Syzmanski), Miranda (Maja Schöne) und Gonzalo (Karin Neuhäuser, am Premierenabend aus Krankheitsgründen vertreten von Sebastian Rudolph) auf. Doch verwirren diese Figuren eher durch ihre vorrangige Shakespeare-Zugehörigkeit, wo doch Steckel mit Kate Tempest den x-ten Versuch einer Gegenwartskritik unternimmt.

Konkret sieht es dann so aus, dass Prospero seiner Tochter Miranda – und damit auch dem Zuschauer – den Blick in die "real world" erzaubert: In hoch und quer gestapelten, insgesamt 12 Kästchen, tanzen und agieren dann ein knappes Dutzend Darsteller, bebildern und illustrieren Tempests Beobachtungen, rappen sich mal schlecht, mal recht durch deren Originaltexte und strecken und verbiegen sich dabei höchst anmutig (Choreografie: Yohan Stegli).

Anschwellende Appelle

Miranda sieht das alles mit staunenden Augen, um sich dann schüchtern teenie-kichernd in einen gewissen Ferdinand (Jan Plewka) zu verlieben. Mit Nebel, Wind und angemessener Lichtdramaturgie (Paulus Vogt, Christiane Peschat) ist das alles optisch recht eindrucksvoll, die Nikotingelb gepolsterten Gummizellen von Bühnenbildner Florian Lösche lassen sich spielfreudig durchrutschen, durchtanzen und durchturnen – hin und wieder seilt sich Mirco Kreibichs Ariel scheinbar schwerelos daran ab – doch ein dringlicher Regiegedanke erschließt sich daraus noch lange nicht.

der sturm3 560 smailovic uLeben in gepolsterten Gummizellen in diesem "Sturm", Bühnenbild von Florian Lösche
© Armin Smailovic

Statt zu fokussieren oder gar zu reduzieren, benutzt Steckel das ganz große Besteck und scheint hinter jeden ihrer apokalyptischen Gedanken drei Ausrufungszeichen setzen zu wollen. Pathetisch kombiniert sie Shakespeares Abschied von der Zauberkraft als Dramatiker mit einem – durch deren klischeehafte Verbildlichung – moralisch aufgeladenen Beobachtungen zur Gegenwart. Im Chor gesprochen degenerieren einzelne Passagen aus Tempests Texten bald zu Kalendersprüchen mit verzweifeltem Appellcharakter: "Wacht auf! Liebt mehr!", "Das Leben ist ein Wartespiel", "Wir bewegen uns den ganzen Tag und kommen nicht voran".

Noch dazu verliert die Figur und Illusionslosigkeit Prosperos durch diese konkreten, bis zur Ermüdung repetierten und recht plump inszenierten Bezüge an jeglicher Metaphorik. Mit großen Gesten, groß ausgespielten Gefühlen und groß aufgetragenem Sound wirkt Steckels "Sturm"-Annäherung eher wie ein langatmiges, aus dem Ruder laufendes Rockkonzert, wie eine Mischung aus effekthascherischem Musical und Robert Wilson für Arme – wie ein viel zu laut geratenes Requiem ohne Andacht und Credo.

Der Sturm — A Lullaby for Suffering
nach William Shakespeare, Deutsch von Frank-Patrick Steckel
Regie: Jette Steckel, Musikalische Leitung: Laurenz Wannenmacher, Choreografie: Yohan Stegli, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Sophie Klenk-Wulff, Video: Zaza Rusadze: Dramaturgie: Julia Lochte, Emilia Linda Heinrich.
Mit: Alicia Aumüller, Mirco Kreibich, Matthias Leja, Marie Löcker, Karin Neuhäuser, Barbara Nüsse, Jan Plewka, Sebastian Rudolph - für die erkrankte Karin Neuhäuser, Maja Schöne, André Szymanski, Tilo Werner, Live-Musik: Gabriel Coburger, Johannes Huth, Sven Kerschek, Stephan Krause, Laurenz Wannenmacher (Leitung).
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.thalia-theater.de

Kritikenrundschau

Michael Laages sprach in Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (24.2.2018) über die gerade 75 Jahre gewordene Barbara Nüsse in der Rolle des Prospero: man habe einerseits den "alten Shakespeare", andererseits mit dem Umweg über Kate Tempest "tatsächlich einen Blick auf Gegenwart", in der die Haltung des Prospero, noch einmal die Welt verzaubern zu wollen, an die Gegenwart gebunden werde - das funktioniere "fabelhaft". Barbara Nüsse, ja, "mit 75 da ist eine Frau häufig schon doch ein bisschen geschlechtlos", was Barbara Nüsse "natürlich" überhaupt "keinen Schaden" tue, aber … es sei "auch nicht wichtig", im Theater könne man "mit dem Alter anders umgehen, auch zwischen Männern und Frauen anders umgehen". Es sei wunderbar, "dass Barbara Nüsse eine Frau ist und wie sie eine Frau ist, aber dass sie diese Rolle spielt ist inzwischen was schon völlig Selbstverständliches". Sie sei in dieser Aufführung voller Überraschungen ein "sehr starkes Zentrum".

"Jette Steckel hat sich verrannt. Ihr 'Sturm' verliert sich über weite Strecken im politischen Allgemeinen", so Heide Soltau vom NDR (25.2.2018). Es gebe durchaus schöne Momente in dieser Inszenierung und die Schauspieler würden ihre Sache gut machen, jedoch: die Inszenierung könne auch spielerisch nicht durchgängig überzeugen. "Am Ende fragt man sich, was mit dieser begabten Regisseurin eigentlich los ist. Schon am Wiener Burgtheater hatte Jette Steckel vor kurzem Ibsens 'Volksfeind' allzu eindimensional als Agitprop-Stück inszeniert. Und am Thalia Theater tappt sie nun in dieselbe Falle."

"Flüchtlingsströme, Terrorismus, ungebremster Medienkonsum, Selbst- und Fremdausbeutung, mangelndes Mitgefühl und wankendes Europa – alles wird zum Stoff, aus dem die (Alb-)Träume sind", schreibt Sören Ingwersen in der Welt (26.2.2018). "Der Untertitel 'A Lullaby for Suffering' hat es nicht mehr ins Programmheft geschafft, weil die Regisseurin wohl erst im letzten Moment bemerkt hat, wie sehr sie sich in ihre eigenen Stilmittel verliebt und von Shakespeare entfernt hat." Trotzdem warte die glänzend besetzte Inszenierung mit vielen starken Momenten auf. "Barbara Nüsse spielt ihren Prospero mit einer so bezwingenden Intensität, dass man sich wundert, wie wenig Vertrauen in die fokussierte Kraft der Sprache sie damit bei der Regisseurin hervorruft." Stattdessen reihe Steckel Song an Song, schicke manch sorgsam aufgebaute Spannung in den seichten Balladen-Zerstäuber und lasse die kurzzeitige Erregung über Langzeitwirkung triumphieren.

Jette Steckel begebe sich mitten hinein in einen 'bestimmt gut gemeinten' Assoziationsrausch. "Immer wieder beschleicht einen das ungute Gefühl, hier und dort sei nicht zu Ende geprobt worden, als fehlte ein gemeinsamer Fokus", schreibt Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (26.2.2018). "Es sind zu viele offene Fragen, als dass man sich dem musikalisch berückenden Abend einfach hingeben könnte." Viel, sehr viel Botschaft stecke in diesem 'Sturm', "der sich trotzdem, oder vielmehr: deshalb, nicht zu einem Ganzen fügen mag".

"Die zersplitterten Szenen haben bei aller freien, assoziativen Bilderlust elementare Berührungspunkte zu Shakespeares Stück", lobt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (28.2.2018). "Sie fügen sich zu einem monströsen, kalten Rausch zusammen, effektvoll beleuchtet, mit Nebel, Live-Video, ausgetüfteltem Sounddesign und Windmaschine. Dieser narkotische Trip ist so verfüh-rerisch wie betrügerisch, denn über allem steht für die uneigentlichen Menschen in ihrem entfremdeten Dasein, von dem die Gesten, Lieder, theatralischen Miniaturen erzählen, die Frage: Wie kann man endlich aus der universellen Lethargie aufwachen und zu sich selbst finden, um wirklich und in Echtzeit zu leben?"

Jette Steckels Neuinszenierung des "Sturm" habe mit dem Drama gleichen Namens nichts Charakteristisches mehr gemein, nur noch die Rollennamen, schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (6.3.2018). Die "dystopische Revue" werde vielmehr dominiert von Kate Tempests Songtexten. "Steckels Thema ist das grassierende Schlechte, und das will sie ihrem Publikum mit den schematischen Mitteln eines Rock-Musicals veranschaulichen, wie es zur Hochzeit der Anti-Atomkraft-Bewegung Mode war", so Briegleb. "Aber in dieser klagenden, humorlosen und wenig konstruktiven Manier wirkt die Übertragung von englischer Wut auf deutsches Stadttheater im Kern vor allem larmoyant und parolenhaft."

 

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