Das Gift des Derrida

von Wolfgang Behrens

28. Februar 2018. Und dann war da noch jene Regisseurin, die die Pressereferentin des freien Produktionshauses nach allen Regeln der Kunst zusammenfaltete, weil in einer großen Zeitung eine schlechte Kritik erschienen war. "Das hätte nicht passieren dürfen", soll sie sinngemäß – wenn auch mit viel derberen Worten – gesagt haben. Warum der Kritiker nicht richtig instruiert worden sei. Warum sie, die Pressereferentin, ihm, dem Kritiker, nicht erklärt habe, wie alles gemeint sei und was er hätte schreiben müssen.

Ein junger Kritikerdachs merkt auf

Als ich diese Geschichte zum ersten Mal hörte, war ich noch ein junger Kritikerdachs und als solcher zutiefst erfüllt von den drei unverrückbaren Doppel-Us des Rezensionswesens: unabhängiges Urteil, unabhängiges Urteil und unabhängiges Urteil. Ich mochte kaum glauben, was mir der erfahrenere Kollege erzählte: Sollte es so etwas geben können – ganz wirklich und in Echtigkeit –, dass Künstler*innen Kritiker*innen beeinflussen wollen?

Was ich natürlich unterschätzt hatte, war die Sehnsucht der Künstler*innen, in ihren Absichten erkannt zu werden. Auch die größten sind dagegen nicht gefeit. In den dieser Tage erscheinenden Tagebüchern der Alice Schmidt etwa kann man nachlesen, wie ihr Mann Arno Schmidt nach der richtigen Lesart seiner Bücher barmte: "Arno gespannt, ob dies Kritiker mal von sich aus sehen. Wenn man's ihnen sagte, würden sies schon verstehn." Ja, wenn man's ihnen sagte … Aber schöner wäre doch, wenn man's auch rauskriegen könnte, ohne dass man's gesagt bekommt, nicht wahr, Herr Schmidt?

kolumne 2p behrensWas ich aber auch unterschätzt hatte, war die Sehnsucht der Kritiker*innen, das Richtige zu schreiben. Nichts peinlicher als morgens die Zeitungen aufzuschlagen und bei sämtlichen Kolleg*innen lesen zu müssen, dass die Regisseurin Olga Oberschlau in ihrer Inszenierung eine bedeutende Derrida-Exegese unter Berücksichtigung einiger Thesen von Gilles Deleuze vorgelegt habe – man selbst hatte das aber gar nicht gerafft und einen sich an der ästhetischen Oberfläche entlanghangelnden Verriss geschrieben. Thema verfehlt! Woher jedoch hatten die Kolleg*innen das mit Derrida und Deleuze? Haben sie diese Verbindung selbst aufgespürt, oder hatten sie vorher ein Interview mit der Regisseurin gelesen oder vielleicht eine Pressenotiz, in der ihnen Derrida und Deleuze nahegelegt worden waren? Wo genau also haben sich Derrida und Deleuze manifestiert – im Werk oder nur im mitgelieferten Begleitmaterial?

Als Kritiker musste ich daher vor und nach dem Besuch jeder Aufführung eine weitreichende Entscheidung treffen: Informiere ich mich über die Intention der Künstler*innen oder nicht? Versuche ich – ganz auf mich zurückgeworfen – das Gesehene nur mit meinen eigenen Zuschaufähigkeiten zu entziffern, oder lese ich das Blättchen, das mir der Pressesprecher mit der Eintrittskarte in die Hand gedrückt hat, und lasse so das Gift der Selbstinterpretation des Produktionsteams in mich einsickern? Und man sage mir nicht, man könne sich nach der Lektüre eines solchen Blättchens davon wieder freimachen! Wenn man mal gelesen hat, dass an diesem Abend Derrida und Deleuze die künstlerischen Ideen geliefert haben sollen, vergisst man das nicht mehr. Der Kritiker ist dann im Sinne der Künstler*innen vorformatiert.

Castorfs Öl-Fässer

Übrigens ist auf diese Weise auch schon viel Unsinn in die Welt gesetzt worden. Als Frank Castorf in Bayreuth den "Ring" inszenierte, hat er vorher fleißig lanciert, es werde vor allem um Öl gehen. Und prompt stand in allen Kritiken, es gehe in Castorfs "Ring" vor allem um Öl, obwohl es in Rheingold, Siegfried und Götterdämmerung – und eigentlich auch in der Walküre mit ihren Bohrtürmen – um alles Mögliche ging, aber ganz sicher nicht um Öl.

Seit ich ein Dramaturg bin, werde ich manchmal gefragt, ob ich es nicht vermisse, Kritiken zu schreiben. Ja, sage ich dann oft, schon. Aber ich schreibe ja noch. Zum Beispiel liefere ich ab und an Textbausteine für Pressetexte, die dann anonym an die Redaktionen rausgehen. Oder ich schreibe ein paar kluge Gedanken über Derrida und Deleuze ins Programmheft. Und dann lauere ich wie die Spinne im Netz, ob mein Gift wirkt. Wenn die Kritiken erscheinen, schlägt meine Stunde: "Olga Oberschlau hat die Handlung von 'Pension Schöller' einmal durch den Fleischwolf der Derrida'schen Dekonstruktion geschickt", lese ich da. Ja, genau, juble ich. Genauso hatte ich es geschrieben! Wenn aber in einer Kritik der Name Derrida nicht auftaucht, dann laufe ich ein paar Gänge weiter ins Büro der Pressereferentin und schnauze sie an: "Sag' mal, hast Du etwa dem Herrn Rakow [der Name wurde vom Kolumnisten geändert] kein Programmheft gegeben? Was hat der denn da wieder geschrieben? Das hätte nicht passieren dürfen!"

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit dieser Spielzeit Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er u.a. in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

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Kommentare  
Kolumne Behrens: emanzipiertes Zuschauen
Wenn man so mit einem Kritiker umgeht, ist das natürlich Quatsch. Denn dann ist ja die Interpretationsfreiheit dessen, was man sieht, nicht mehr gegeben. Wozu dann noch Theater?

In meiner Theaterwissenschaftszeit habe ich dazu mal einen interessanten Text (Rancière, The Emancipated Spectator) gelesen. Und mir dazu u.a. folgendes notiert:

"In Bezug auf das Inszenierung-Zuschauer-Verhältnis geht es darum, das Kausalitätsdenken zwischen Ursache und Wirkung zu durchbrechen. Das heisst, die Wirkung einer Theateraufführung auf jeden einzelnen Zuschauer kann nicht kontrolliert werden. Emanzipation meint Offenheit gegenüber alternativen Möglichkeiten und Erfahrungen der Schau des Denkens. Zitate:
'Intellectual emancipation, as Jacotot conceived of it, means the awareness and the enactment of that equal power of translation and countertranslation.'
'The collective power that is common to these spectators is not the status of members of a collective body. Nor is it a peculiar kind of interactivity. It is the power to translate in their own way what they are looking at.'"

Was ist langweiliger, als das Ergebnis der eigenen Erforschung bzw. die Interpretation einer Inszenierung schon vorzuformulieren?

Wesentlich ist hier vor allem, es geht im Theater immer nur um die Schau des Denkens, über die Erfahrungen beim Zuschauen. Theater fordert nie zu Handlungen auf, jedenfalls nicht zwingend.
Kolumne Behrens: köstlich
Sehr schöner Text. Habe mich bestens amüsiert. Das sei allen Kritikern und Pressereferenten ins Heft geschrieben ...
Kolumne Behrens: Herr/in der Feder
@1: Gilt die Unkontrollierbarkeit der Wirkung dann aber nicht auch für die ausgehändigte Selbstinterpretation? Ergo, ist der/die Kritiker/in nicht weiterhin Herr seiner/ihrer Feder?
Kolumne Behrens: so lässig
Wirklich köstlich!
Schade nur, dass leider nicht immer alle so lässig beide Seiten sehen können...
Kolumne Behrens: das wirklich freie Sehen
@ #3: Natürlich kann ein Kritiker auch über das ausgehändigte Programmheft o.ä. hinweggehen. Und warum beschreibt Wolfgang Behrens das dann anders? Weil er sagt, dass das, was man vorher liest, natürlich das wirklich "freie Sehen" behindert. Und frei, im Sinne von völliger Objektivität, ist die Wahrnehmung sowieso nie. Da ist immer die Subjektivität des Wahrnehmenden dazwischen.
Kolumne Behrens: Geburtstagsfeier
Lieber Herr Behrens,
Sie erleben jetzt etwas, was ich während meines Berufslebens mehrfach
erlebte. Zwischen meinen Engagements als Dramaturg gab es immer wieder
Zeitlöcher, die ich als freier Journalist stopfte, stopfen musste. Dabei lernte ich die unterschiedlichsten Kolleginnen und Kollegen kennen. Manche schrieben Kritiken, nachdem Sie am Vormittag ein Interview mit einem Sportler geführt und am Nachmittag eine Ausstellung mit Rassehunden besucht hatten. Über alles mussten sie in den nächsten zwei Tagen etwas schreiben und waren deshalb dankbar für inhaltliche Handreichungen seitens des Theaters. Gern fragten sie auch mich aus, wussten sie doch um mein berufliches Herkommen. Andere bemühten sich um Objektivität, vertrauten nur auf das, was sie gesehen hatten. Ich selbst kannte meistens die gezeigten Stücke, wenn nicht, las ich sie vor der Vorstellung. Theatermaterialien nahm ich erst zur Kenntnis, nachdem ich meine Eindrücke von dem Gesehenen notiert hatte. Ich glaube, so sollte man vorgehen. Ein Vergleich der eigenen Eindrücke und Kenntnisse mit den beabsichtigten Wirkungen, wie sie in Programmheften etc. nachzulesen sind, kann zusätzliche Aspekte für eine Kritik ergeben.
Natürlich hatte ich auch mit Regisseuren zu tun, die Kritiker beeinflussen wollten. Manchmal gelang es ihnen (siehe oben), oft jedoch nicht. Es ist ein uralter Streit, ob ein Verriss ein Theater leert oder ob er nicht im Gegenteil viele animiert, ins Theater zu gehen. Nie sollte vergessen werden, dass Kritiker auch nur Zuschauer sind, wenn auch professioneller, die sich oft irren. Ganze Bücher sind mit ihren Irrtümer gefüllt. Deshalb sollte man Kritiken zur Kenntnis nehmen, sie aber keinesfalls überbewerten. Die Urteile der Zuschauerinnen und Zuschauer sind maßgeblich.
Wie das Verhältnis von einem Theater zu einem Kritiker nicht sein darf, möchte ich an einem Beispiel, ohne Namen zu nennen, verdeutlichen:
Ein mittelgroßes Theater in M-V gestaltete den runden Geburtstag in seinen Räumen für den Kritiker aus, der für die ansässige Zeitung.
schrieb. Mehr muss ich wohl nicht schreiben.
Mit freundlichen Grüßen
Kolumne Behrens: Verdächtige
Produktionen, die Derrida als Ausrede nötig haben, sollte man weder besuchen noch kritisieren.
Gilt auch für Toller Müller Zizek, und wie die ganzen üblichen Verdächtigen alle heissen.
Gilt natürlich nicht für Deleuze.
Kolumne Behrens: Artist Talk
Die selbe grundsätzliche Frage stellt sich dem Besucher auch!
Vorbeinflusst werden durch Kritiken und Programmheft - ja oder nein?
Überraschung und Unvoreingenommenheit vs. besseres Verständnis.

Materialisiert sich während der Vorstellung dann der Deleuze-Bezug quasi als Autosuggestion auch im Betrachter? Was ist er dann wert? Weniger?

Aber wollen wir die gleiche Metaebene erreichen wie in den bildenden Künsten? Das widerspräche vielleicht der Grundnatur des Theaters.

Und schon sind wir wieder bei der Volksbühne (sorry).
Vielleicht ist das neue Werk dort so wertig, dass es erst im 'artist talk' den Unwissenden nahegebracht werden muss? Das richtige Meta-rezeptive Theaterpublikum soll erst noch gebildet werden. Dercon als Duchamp des Theaters. Müssen wir uns die neue Volksbühne als ein Pissoir vorstellen?
Kolumne Behrens: Nachhilfe
Man kann, was Arno Schmidt gern als Zeichen des Verständnisses seines Schreibens gelesen hätte, sicherlich auch herauskriegen, ohne dass er einem nachhilft. Es spricht allerdings einiges dafür, dass nur sehr wenige Kritiker dazu in der Lage sind. Das sollte man aber nicht dem Herrn Schmidt anlasten. Horvath hat den passenden Gedanken seinen »Geschichten aus dem Wienerwald« vorangesetzt. Im Vergleich dazu ist Schmidts Stoßseufzer noch sehr milde.
Kolumne Behrens: nicht nur andeuten
Belassen Sie's doch nicht nur bei der Andeutung, Amenophis: "Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit."
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