Das Un(be)greifbare der Geschichte

von Tim Slagman

München, 3. März 2018. Erschüttert hätten ihn die "Erzählungen aus Kolyma", sagt der 1984 geborene Regisseur Timofej Kuljabin. Sein russischer Landsmann Warlam Schalamow (1907–1982) beschreibt darin, wie er über lange, eiskalte Jahre das stalinistische Lagersystem im Norden Sibiriens erfuhr. Wie das Unmenschliche zum Alltag, der Gewaltexzess zur Gewohnheit wird. Erschütternd sei nicht, was den Toten widerfahren ist – erschütternd sei, was das dauernde Hungern und Sterben und Frieren mit den vorerst noch Weiterlebenden macht. Kein Problem bestünde darin, vom Morden zu erzählen. Doch wie erzählt man von Abstumpfung?

Miniaturen des Grauens

Der Schriftsteller Warlam Schalamow hat seine Prosa, die Gabriele Leupold ins Deutsche übersetzt hat, von ornamentalem Pathos befreit, ganz so, als fehle ihr schlicht die Kraft, Gefühle aufzubringen. Timofej Kuljabin schlug dem Münchner Residenztheater vor, das Werk des hierzulande wenig bekannten Schalamow für die Bühne zu bearbeiten – und in seiner ersten Schauspielinszenierung in Deutschland mildert er die Erschütterung und ergänzt sie durch eine Reflexion, in der die Erzählmaschine ihre Zahnräder und Kolben offenlegt.


AmKaeltepolx 560 Horn uIn Lumpen gehüllt: Pauline Fusban, Sibylle Canonica und Anna Graenzer © Matthias Horn

Ein Container dominiert die Bühne; die rückseitige Wand zum Publikum bleibt geschlossen. Links davon steht ein Pult mit Bildschirm, im Hintergrund warten Regale und Kisten auf einer Plattform darauf, Requisiten mal aufzunehmen, dann wieder herzugeben. Sechs Erzählungen spielen sich in dem Container ab, der Baracke wird und Wald und Wiese, in dem Holz geschlagen, gebetet, Brot gehandelt wird und in dem Menschen bestohlen, misshandelt, erschossen werden.

Eine gewaltige Leinwand hängt über dem Container, David Müller führt die Live-Kamera durch ihn hindurch, während fünf Schauspielerinnen im Wechsel vom Pult aus Schalamow lesen. In den Umbaupausen schaltet die Perspektive auf eine Art Überwachungskamera um, die das ganze Innere im Blick hat, darüber blenden sich beim Episodenwechsel Gedichte von Schalamow. Aus dem Container dringt die ganze Zeit kein Wort.


Zwischen Gesagtem und Gezeigtem

Die Erzählungen beziehen sich dabei nicht aufeinander, bleiben Schlaglichter aus einem grausigen Alltag, verzichten auf historische Verortung. Es schleichen sich Momente ein, in denen die Bilder von drinnen die Worte von draußen schlicht verdoppeln: Zwei Ganoven erschlagen einen Hund, um ihn später an einen ahnungslosen Mithäftling zu verfüttern. Ein weiterer zieht dem Ich-Erzähler eins über, um ihm Brot und Butter zu klauen. In diesen Miniaturen des kleineren Grauens saugen Text und Bilder einander vampirisch die ihnen je eigene Ausdruckskraft aus.


Am Kaeltepol1 560 Matthias Horn u Nora Buzalka und Pauline Fusban © Matthias Horn

Zu sich selbst kommt Kuljabins Methode immer dort, wo das Gezeigte und das Gesagte auseinanderklaffen. Einer hat sich aufgehängt, die anderen plündern seine Klamotten, heißt es. Anna Graenzer durchschreitet derweil scheinbar seelenruhig den Container und faltet zwischen Stühlen einige Textilien. Oder: Ein weiterer musste ins Lager wegen der Briefe, die er und seine Verlobte einander schrieben. Hanna Scheibe blickt intensiv und traurig in die Kamera. Das Erlebte der Anderen und dessen Bedeutung für das Heute lassen sich eher umkreisen oder in gebrochenen Versuchen spiegeln, als dass es direkt abzubilden wäre.


Dilemma ohne Ausweg

Der bewegliche filmische Apparat fragmentiert die Körper der Schauspielerinnen immer wieder: Augen, Gesichter, Hände gewinnen an Bedeutung. All dies zittert, flackert oder starrt. Wenn die Bewegungen zur Ruhe kommen, etwa wenn Charlotte Schwab die Gravitas eines Religiösen annimmt, der sich mit Würde noch im Lager an das klammert, was ihm als einziges bleibt – und der bald darauf Hundefleisch serviert bekommen wird –, dann wirken sie umso entschleunigter, als habe ein Prinzip das Andere ersetzt. Es ist diese mimische und gestische Überdeterminiertheit, die sich paradox zur reduzierten Bühnenästhetik stellt wie zum scheinbaren Wunsch, reduziert zu erzählen.


Und gründet die Entscheidung, alle (Männer-)Figuren mit Frauen zu besetzen, womöglich auch in der Vermutung, Frauenblicke, Frauengesicht wären leichter imstande, Empathie zu wecken? In dicke, zerfranste, graubraune Lumpen hat Galya Solodovnikova die Schauspielerinnen gesteckt, in die Klischeefetzen bildlicher Lagerphantasien. Das allzu Bekannte reibt sich am Neuen – so wie Erzählungen aus dem Gulag immer auch in einer Überlieferungsgeschichte stehen. Den direkten Eindruck, den Schalamow noch beschrieb, kann es nicht mehr geben. Und doch ist er notwendig. Das Schicksal des Einzelnen reicht nicht hin, ein historisches Grauen zu beschreiben. Und doch ist es notwendig. Aus diesem Dilemma weiß auch Kuljabin keinen Ausweg. Aber er erkennt es.

 

Am Kältepol – Erzählungen aus dem Gulag

von Warlam Schalamow

Übersetzung von Gabriele Leupold

Regie: Timofej Kuljabin, Bühne: Oleg Golovko, Kostüme: Galya Solodovnikova, Licht: Georgij Belaga, Dramaturgie: Olga Fedianinia und Angela Obst, Live-Kamera: David Müller.

Mit: Nora Buzalka, Sibylle Canonica, Pauline Fusban, Anna Graenzer, Hanna Scheibe, Charlotte Schwab.

Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause


www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

So sehr der Abend um Distanz bemüht sei und sich mit größtmöglicher Konzentration hineinbohre in den Schmerz der Geschichten – "es bleibt ein gewisses Unbehagen über diese Art der künstlerischen Aneignung", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (5.3.2018). Die Darsteller täten in der Regel genau das, was gerade vorgelesen werde und das sei ein Problem dieses Abends: "Dass er zu leidensillustrativ bleibt." Am stärksten wirkten die Bilder dann, wenn sie abstrakter seien, "sich ihren eigenen Fluchtpunkt für das Erzählte suchen".

"Darum sollte man sich diesen pausenlosen 75 Minuten aussetzen: Weil es weh tut und weh tun muss", schreibt Robert Braunmüller in der Abendzeitung (4.3.2018). Kuljabins Inszenierung konzentriere sich wie die Texte auf die körperliche Erfahrung der Lagerhaft. "Lässt sich das auf die Bühne bringen? Letzte Zweifel vertreibt diese Inszenierung nicht. Aber wenn, dann so, wie hier im Cuvilliéstheater." Die Inszenierung sei das strikte Gegenteil 'jeglichen Komforttheaters'. "Die Aufführung macht auf Schalamows grandiose Texte aufmerksam, die bei aller Brutalität über schwierigste Dinge in einer lakonischen Sprache berichten."

"Nach dem, was da eine gute Stunde lang im Cuvilliéstheater zu hören war, möchte man sich fast schämen, ein Mensch zu sein", schreibt Alexander Altmann im Oberbayerischen Volksblatt (5.3.2018). "Der unermessliche Horror, von dem in Schalamows Gulag-Texten gesprochen wird, die Qual eines zerschundenen, ausgebeuteten Vegetierens in den stalinistischen Lagern ist schon beim bloßen Zuhören kaum erträglich." Man müsse auf jeden Fall die herausragende Leistung der sechs Schauspielerinnen erwähnen, und genauso wichtig sei es, das "absolut gelungene Regiekonzept" des hervorzuheben. "Aber eine regelrechte Theaterkritik kann man über diese Uraufführung nicht schreiben. Das verbietet sich von selbst, weil angesichts des dargebotenen Inhalts alle ästhetischen Erwägungen frivol erschienen."

Christoph Leibold schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (4.3.2018): Für den Theaterabend "Am Kältepol" habe Timofej Kuljabin sechs der "Erzählungen aus Kolyma" ausgewählt, deren "beinahe protokollarischer Ton" gerade durch seine Einfachheit so "eindringlich" werde. Um eine Eins-zu-Eins-Bebilderung zu vermeiden, habe er zu verschiedenen "Mitteln der Verfremdung" gegriffen. Um das "Undarstellbare" des Lagers darzustellen ohne in Rührseligkeit abzugleiten, trenne Kuljabin die Text- von der Bildebene. Auch die "rein weibliche Besetzung" und die "überwachungsartige Kamera", de das "Making of" der Spielszene zeige, dienten der Verfremdung. Trotzdem bleibe Kuljabins theatralische Phantasie "illustrativ". Der Abend tendiere in Richtung "Edelkitsch", vor dem letztlich nur die "klare und kalte Sprache" von Schalamow bewahre.

"Immer da, wo er bloß illustriert, gibt der Abend seine kluge Distanz zur Realität des Leids auf, an die er doch nicht herankommen kann", schreibt Sabine Leucht in der taz (6.3.2018).

Den "Versuch, ein künstlerisches Fenster in eine gar nicht so ferne Hölle aufzustoßen" hat Kerstin Holm gesehen und schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, herausgekommen sei eine "immersive szenische Lesung".

 

 

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