Wie europäisches Theater auf die Pelle rückt

von Shirin Sojitrawalla

Wiesbaden, 18. Juni 2008. Wie immer, wenn Wiesbaden zur Theaterbiennale "Neue Stücke aus Europa" pfeift, treten zeitgleich die besten Fußballspieler Europas oder gar der Welt gegeneinander an. Das führt zu manch schöner Überschneidung und schweren Entscheidung. Theater oder Fußball? Die Spiele auf dem Rasen indes lassen sich noch bis in die Nacht hinein nachverfolgen, die 26 Theatergastspiele aus 24 europäischen Ländern nicht. Dabei ist es schon mehr als ausgleichende Gerechtigkeit, dass gerade diejenigen Nationen, die diesmal bei der EM-Qualifikation patzten, sich nun zwischen manch einem schwächelnden Kandidaten der Theaterbiennale als glänzend aufgestellt erweisen: Großbritannien und Ungarn gehören zweifellos zum Favoritenkreis.

England

Ob das nun an den jeweiligen Länder-Paten liegt, also an jenen Autoren, die ihre Stückempfehlungen an das Team der Biennale weitergeben oder an ganz besonderen Trainingsmethoden, lassen wir einmal dahingestellt. Auf jeden Fall bescheren die genannten beiden Länder in jeder Beziehung neue Stücke.

Großbritannien schickt dabei mit dem Theatermacher Tim Crouch einen besonders begabten Mann ins Rennen. Als Autor, Regisseur und Darsteller hat er vom Traverse Theatre in Edinburgh den Auftrag erhalten, ein Werk für die dortige Fruitmarket Gallery zu schreiben. Uraufgeführt wurde das Zwei-Personen-Stück "England" dann beim Edinburgh Festival im vergangenen Jahr. In Wiesbaden spielen es Crouch und Hannah Ringham im dortigen Museum.

Im Foyer empfangen die beiden ihre Besucher mit breit grinsenden Gesichtern, erzählen ihnen dies und das über das Museum Wiesbaden und geleiten sie dann in forciert liebenswürdiger Manier in eins der oberen Stockwerke zur aktuellen Ausstellung. Abwechselnd sprechen die beiden ihren Text, berichten von einem Freund, einem Kunstsammler, der an einer Herzkrankheit leidet.

Vorstellungskraft ist alles

In ihren Erklärungen multiplizieren sie die Kunst mit dem Leben, schätzen ab, was mehr wiegen könnte und machen eine Rechnung mit vielen Unbekannten auf. Während sie ihren zweistimmigen Monolog sprechen, halten sie immer Augenkontakt mit den Besuchern, ein paar Sekunden lang saugt sich ihr Blick fest und wandert dann weiter. Akustisch untermalt wird das von irritierenden Geräuschen, die sich in einem krachenden Crescendo steigern, so dass es einem kalt den Rücken hinunterläuft.

Die Bühne ist einerseits das Museum selbst, andererseits bastelt sich jeder Zuhörer sein eigenes Bühnenbild im Kopf zurecht, denn Crouch und Ringham appellieren immer wieder an unsere Imagination; einmal sollen wir uns eine Kathedrale vorstellen, dann ein Krankenhaus. Vorstellungskraft ist an diesem konzentrierten Abend alles. "England" lotet auf diese Weise auch die Möglichkeiten des Theaters aus. Eine Schutz und Distanz gewährende vierte Wand ist nicht vorgesehen. Immer sind auch wir Teil der Inszenierung.

Später geht es die Stufen wieder herunter in einen anderen Saal des Museums, wo wir auf Holzklappstühlen Platz nehmen. Ein Jahr ist vergangen, dem Mann wurde ein neues Herz transplantiert und das Strahlen der beiden Darsteller ist einem beunruhigendem Gesichtsausdruck gewichen, der sich nicht leicht deuten lässt.

Ist das nun zum Lachen, zum Fürchten oder zum Weinen? Der Zuhörer entscheidet selbst und wird diesmal direkt angesprochen. Dafür nehmen die beiden Einzelne lange ins Visier, scheinen nur mit ihnen zu sprechen, nur sie zu meinen. Die Angesprochenen verkörpern die Frau des Organspenders und sollen jetzt mit einem Kunstwerk entschädigt werden. Freilich sind sie es nicht gewohnt, dass man sie im Theater direkt anspricht, womöglich möchten sie auch gar nicht gemeint sein, kommen aus dieser suggestiven Nummer aber nicht heraus. Da hilft es ihnen nichts, dass sie ja gar nicht die angesprochene Frau sind, denn diesmal behält die Kunst die Oberhand. Und wenn sie es sich recht überlegen, sind sie ja vielleicht doch die Frau, um die sich alles dreht.

Ungarn verwischt die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit

Auch im Gastspiel aus Ungarn schlägt das Leben in der Kunst auf. Schon vor zwei Jahren waren es die Ungarn, die mit ihren Stücken "SCHWARZland" und "Nibelungen-Wohnpark" besonders begeisterten. Diesmal ist das Theater Bárka Színház eingeladen. Vor dem Mainzer Theater, in diesem Jahr Juniorpartner der Biennale, haben sie ihren schmucklosen Container aufgestellt. Noch nicht einmal 100 Zuschauer passen da hinein.

"Das Frankenstein-Projekt" (Frankenstein-terv) von Yvette Bíró und Kornél Mundruczó, der auch Regie führt, treibt ein wahnsinniges Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit. Wir sitzen in der notdürftig eingerichteten Baracke von Viktória, die dort gemeinsam mit Mann, Stieftochter und einer Assistentin ihr Dasein fristet. Sie vermietet ihr Zuhause an Viktor, der einen Film drehen möchte und deswegen just in dem Container ein Casting durchführt. Auf mehreren Bildschirmen läuft immer wieder die abgefilmte Theaterwirklichkeit.

Ein junger Mann, der zum Casting kommt und nicht aussieht als würde er weinen, wenn er weint, erregt die besondere Aufmerksamkeit des Regisseurs. Später stellt sich heraus, dass es sein eigener mit Viktória gezeugter Sohn ist. Der wiederum bringt später die Stieftochter von Viktória um, worauf sich eine Kette der Gewalt in Gang setzt, die es mit jeder antiken Tragödie aufnimmt.

I can't get no satisfaction

Allein durch die räumliche Nähe der Darsteller zu den Zuschauern gewinnt die Aufführung dabei eine Unmittelbarkeit, die nur schwer zu überbieten sein dürfte. Kornél Mundruczó, bisher besser bekannt als Filmregisseur, er gewann in diesem Jahr den Kritikerpreis in Cannes, drängt die Zuschauer in die Lücke zwischen Spiel und Wirklichkeit, bis die nicht mehr sicher sagen können, wo die Wirklichkeit aufhört und wo das Spiel beginnt.

Besonders zu Beginn der Vorstellung ist das mit großem Witz inszeniert und wendet sich erst peu à peu in ein Drama der Zerstörung und des Untergangs. Blut fließt, Filmblut, das natürlich wie echtes Blut aussieht. Am Ende sind alle tot, nur das von Menschenhand gemachte Monster, das gar keines ist, lebt.

Eine Kollegin berichtet später, dass das Ensemble aus Laien wie Profis bestünde. Das Überraschende daran: Es ist egal, denn so oder so ist es ein Kunststück, wie Laien solch eine professionelle Darstellung oder waschechte Schauspieler derartige Allerweltsgesichter hinbekommen. Selten ist man im Theater derart intensiven Blicken ausgesetzt gewesen. Am Ende versammeln sich dann alle Schauspieler zum Ständchen: "I can't get no satisfaction" singen sie in ungewöhnlicher Version und erheben dazu ihre blutverschmierten Hände.

Kurz: Ungarn und Großbritannien überstehen diesmal jede Theater-Vorrunde spielend. Derweil steht Deutschland im Viertelfinale. Mehr ist nicht zu wollen.

 

England
von Tim Crouch, deutsch von Bernd Samland
Regie: Tim Crouch und Karl James und a smith, Sounddesign: Dan Jones.
Mit: Tim Crouch und Hannah Ringham

Das Frankenstein-Projekt (Frankenstein-terv)
von Kornél Mundruczó und Yvette Bíró, deutsch von Orsolya Kalász und Monika Rinck
Regie: Kornél Mundruczó, Bühne und Kostüme: Márton Agh.
Mit: Lili Monori, Roland Rába, Kata Wéber, János Derzsi, Andrea Spolarics, Natasa Stork, Rudolf Frecska, Ágota Kiss.

www.neuestuecke.de

 

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