Trinkspiele der Nachgeborenen

von Gabi Hift

Leipzig, 9. März 2018. Enis Maci ist ein Tausendsassa, gerade mal vierundzwanzig Jahre alt, vielbepreist, hat Literarisches Schreiben, Medizin und Politologie studiert und seit Herbst besucht sie nun die London School of Economics. In diesem Monat gibt es von ihr gleich zwei Uraufführungen, die zweite, "Mitwisser", ab 24. März im Wiener Schauspielhaus, ist die, wo Sie hingehen sollten, da gibt es noch Hoffnung. 

Über die Verhäckselung von "Lebendfallen" in Leipzig unter der Regie von Thirza Bruncken möchte man am liebsten überhaupt kein Wort verlieren, andererseits ist das ein Paradefall für das, was vielen Erstlingsstücken passiert, die daraufhin in der Versenkung verschwinden und deshalb sollte man vielleicht doch protestieren.

Umgang mit dramatischen Schwächen

"Lebendfallen" ist ein poetischer Text, rhythmisch, voll Sehnsucht und Witz. Aber er ist dramatisch ziemlich schwach, und das hat ihn angreifbar gemacht für eine "funktioniert so nicht, muss man irgendwas damit machen"-Strategie. Es sieht so aus, als wäre das Anliegen der Autorin der Regisseurin dabei völlig egal gewesen, vielleicht sogar zuwider.

Maci schreibt über vier Freunde, zwei Mädchen, zwei Jungs, die alle aus Migrantenfamilien kommen, aber in Deutschland geboren sind, "es ist klar/ dass wir bloß gerade so / sehr knapp/ an diesen ort gehören". Die vier sitzen zusammen und spielen ein Trinkspiel. Eine sagt "Ich habe noch nie.... was geklaut, mit einem Nazi geschlafen usw." Und alle, die es doch schon mal gemacht haben, müssen trinken.

Letzte und Erste einer Menschenkette

So versuchen sie eine Expedition "zum Punkt des größten Schmerzes". Das ist nicht besonders dramatisch, zwischen ihnen spielt sich nichts ab, weder Liebesgeschichten noch Konkurrenz, aber das spiegelt auch die Lage der Figuren: dürfen sie überhaupt unter einer Situation leiden, in der ihnen, im Gegensatz zu vielen Anderen, nie etwas Dramatisches passiert ist? Die Eltern haben auf der Flucht schlimme Sachen erlebt, nach denen sie sich nicht zu fragen trauen, aber ihnen geht es gut. Statt sich nach Wurzeln und etwas Unbenennbarem zu sehnen, sollten sie nach Meinung der Eltern zufrieden sein. "wir sind die letzten / weil auf uns die hoffnung lastet / die letzten gewesen zu sein / in einer kette von menschen/ die abgereist sind / in einer kette / die abzureißen hat."

Lebendfallen1 560 Rolf Arnold uCatwalk? Wartesaal? Oder poppig gedachte Vorführ-Bühne, die am Text vorbeischießt?
© Rolf Arnold

Sie befinden sich mitten in einem Problemfeld, in dem es um Tausende Tote geht, um Gewalt, Ausgrenzung usw. – die Opfer der NSU-Morde hätten ihre Väter sein können, waren es aber nicht. Eine entfernte Tante, die bei der Flucht nach Deutschland im Mittelmeer ertrunken ist, wurde vermutlich vom eigenen Ehemann über Bord geworfen. Haben sie, denen nie ein Haar gekrümmt wurde, überhaupt ein Recht auf Schmerz?

Kinder, die es besser haben sollen

Enis Maci umkreist diese Frage von allen Seiten, wie sieht Identität aus, was bedeutet Heimat, wenn alle alten Familiengeschichten in einem Land spielen, das man höchstens aus dem Urlaub kennt? Ist Anpassung Verrat? Oder ist es der eigentliche Verrat, eine angebotene Anpassung zu verweigern, wo doch die Eltern alle Gefahren nur auf sich genommen haben, damit ihre Kinder es eines Tages besser haben? Der Text ist eher eine Mischung aus Langgedicht und Essay als ein Stück. Auf die Frage, warum sie fürs Theater schreibt, hat Enis Maci geantwortet, "damit meine Texte aus Körpern hervorgeholt werden".

Wie das gehen sollte, darum hat sie sich offenbar nicht geschert (gerade das wäre ja eine Aufgabe der klassischen Dramaturgie), hat naiv auf die Magie des Theaters vertraut und das hat sich bitter gerächt. Die Regisseurin wollte alles Andere als Texte, die aus Körpern herausgeholt werden, das wäre Psychologie. Sie scheint ziemlich banalen Regeln zu folgen und alles zu tun, damit man ihr nur keine Verstöße dagegen vorwerfen kann:

Regel Nummer 1: Keine Psychologie! (Wäre es nicht mal an der Zeit, drüber nachzudenken was an "keine Psychologie" so erzieherisch wertvoll sein soll?) Dementsprechend: nichts, was an echte Menschen erinnern könnte, ausschließlich Karikaturen – egal wovon. Hier tragen alle verspiegelte Sonnenbrillen, die Damen sind überkandidelte Zicken mit echten Pelzstolas, die Herren Schnösel mit Provinzheinermüllergeschnarre. Was das mit den klassenbewussten, selbstironischen Kindern von Emigranten aus dem Stück zu tun haben soll? Egal. Hauptsache unsympathisch. Unsympathisch ist kritisch. Gern würde das "starke Formsetzung" genannt werden.

Regel Nummer 2: Kein Sinn! Keine Bedeutung! Daher redet immer ein Schauspieler alle Rollen in einer langen Wurst hintereinander weg, so ein zwei Seiten lang, dann kommt die nächste, wieder für zwei Seiten, dann der Dritte usw. Unmöglich zu verstehen, worum's geht.

Regel Nummer 3: Keine Gefühle! Lass die Zuschauer spüren, dass sie primitive sentimentale Idioten sind, wenn sie sich Gefühle wünschen.

Posing mit Plastikfolie

Da die Körpern der Schauspieler aber nun mal da sind, müssen sie irgendwas machen – es darf nur in keinem Zusammenhang zum Text stehen. "Aegdschn" aus der untersten Kiste: zwanzig Minuten lang wird ein Umzugskarton über die Bühne getragen und die Schauspieler müssen so tun, als sei er schwer und als sei das eine ganz tolle Slapsticknummer. Zehn Minuten lang wickeln sich alle gegenseitig in Plastikfolie und kleben sie mit Paketband fest. Dann wickeln sich alle wieder aus. Dann ersticken alle hinter einer Plexiglasscheibe. Und wachen wieder auf.

Lebendfallen2 560 Rolf Arnold uKatharina Schmidt (Projektion) und Anna Keil © Rolf Arnold

Das Ganze ist quälend langweilig, die Zuschauer sitzen da wie geprügelte Hunde. Die Schauspieler wirken so, als müssten sie das alles tun, weil sie Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Man schämt sich für sie und weil man bei so etwas zuschaut. Diese Regeln, die leider als "state of the art" gelten, vertragen sich nicht mit dem herzlichen, ironischen, um Wahrhaftigkeit ringenden Texten von Enis Maci, von denen dementsprechend kaum etwas Verständliches übrigbleibt.

Enis Maci wird nicht untergehen, dazu kann sie zu viel, ab Herbst wird sie Hausautorin in Mannheim, und ihr allzu naives Urvertrauen ins Theater dürfte sie nach dieser Premiere abgelegt haben. Alles nicht so schlimm, könnte man sagen, aber das war es doch, eine Missachtung von Autorin, Schauspielern und Publikum – ein ärgerlicher Abend.

Lebendfallen
von Enis Maci
Uraufführung
Regie: Thirza Bruncken, Bühne & Kostüme: Christoph Ernst, Dramaturgie: Katja Herlemann, Licht: Thomas Kalz.
Mit: Thomas Braungardt, Anna Keil, Jonas Koch, Katharina Schmidt.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Geschrieben hat das Stück Enis Meci, inszeniert Thirza Bruncken, ausbaden müssen es die Schauspieler, so Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (12.3.2018). Der Text sei von jener "pseudoartifiziellen Reihenbauweise, in der die zu erwartenden vorgefertigten Einzelteile auf die zu erwartende Art montiert sind", und dem versuche die Regie bald ins Teilzeit-Exil nonverbalen Spiels zu entkommen. Fazit: Nach 140 Minuten gilt es durchzuatmen und zu applaudieren. Zumindest den Schauspielern, die beachtlicher Weise nicht erstickt sind in den sauerstoffarmen "Lebendfallen" dieses Scheintodtheaters.

"Ob Regisseurin Thirza Bruncken den bemüht kunstvollen Text von Enis Maci zu ernst nahm oder einfach darüber hinwegspielen lassen wollte, weil sie nicht damit anfangen konnte, bleibt Interpretationsfrage", schreibt Tobias Prüwer in der Deutschen Bühne (10.3.2018). Offen bleibe, "ob die vier Darsteller eigentlich Rollen spielen oder Sprechpositionen wechseln". Das habe anfangs etwas Einnehmendes. Das meist artifizielle Spiel gebe den Darstellern etwas Roboterhaftes, als Menschenmasken wirken sie. "Dass der Abend 30 Minuten länger dauert, als angegebenen, unterstreicht den unfertigen, verzagten Charakter dieser Zumutung in Text und Bild."

 

 

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