Frau Meiers wilder Morgen

von Andreas Klaeui

Aarau, 14. März 2018. Eine Frau will Brötchen holen, aber der Autoschlüssel ist weg, der Hase ist auch nicht mehr da, und der Zahn tut weh. Ein auf den ersten Blick normaler Morgen scheint da aus dem Ruder zu laufen. Eine Frau verliert sich. In sich selbst, in ihren Stimmen, in all den Frauen, die sie in ihrem Schlafzimmer ansummen. Vielleicht ist es das, woran man sich orientieren kann in Julia Haennis Text "Frau im Wald".

Vielleicht liegt aber auch eine Frau verwahrlost in ihrer Wohnung, die Türen zum Haus zugesperrt, seit langem. Vielleicht hat sie einen Menschen überfahren; vielleicht war sie indes die ganze Zeit im Wald. "In der Innenstadt ist heute Morgen eine Frau festgenommen worden, nachdem sie an einer Tramhaltestelle Passantinnen angeschrien und öffentliches Gut mutmaßlich beschädigt hatte", heißt es mal. War es das?

Ein Text wie aus Ameisenstraßen

Julia Haenni legt viele Spuren in ihrem Text, wie Ameisenstraßen führen sie in alle Ecken von Frau Meiers Wohnung, in den Wald, zur Frau Meier gegenüber, zum Hasen Max (aber vielleicht hieß ja auch der verflossenen Lebensabschnittspartner Max, dessen Sachen man endlich aus dem Schrank räumen müsste, oder möglicherweise war es eine Lebensabschnittspartnerin?). Und der Zuschauer ist nun mal so konditioniert, dass er sich an diesen möglichen Realien orientieren möchte, das Fait-divers sucht, amüsiert an amüsanten Brocken festhält, am Schluss ganz froh ist, wenn die Autorin eine mögliche Auflösung bereithält: gefahrlos, alltäglich, banal.

FrauimWald 560 FotoXeniaZezzi uMindestens fünf Frauen wünscht sich die Autorin für das Stück. Hier drei von ihnen, im Video vervielfacht: Sandra Utzinger, Silke Geertz und Barbara Heynen © Xenia Zezzi

Aber – und das ist das Kunststück, das Julia Haenni gelungen ist – bis dahin hat sich das Fait-divers dermaßen ins Absurde aufgelöst, haben sich die Stimmen so in alle Richtungen verloren, die Alltagsreste in einem derart albtraumhaften Maß verschoben, dass die Erleichterung nur noch trügerisch anmuten kann. Das Weltverhältnis hat seine Stabilität eingebüßt.

Na also

Eine Frau rennt um ihr Leben, so schnell sie kann, um sich in Sicherheit zu bringen – ist es am Ende das? "Er hat meinen Seelenheizstrahler reaktiviert, mich hinabgewärmt in meinen ganzen kalten Körper, strahlen lassen aus mir heraus wie eine Sonne", sagt mal eine vielstimmige Stimme, und das ist dann über das Spiel mit den Wahrnehmungsverschwebungen hinaus eines der schönen, schön verdichteten Sprachbilder in diesem Text, an denen sich der Zuhörer gerne noch ein Weilchen labt.

Julia Haenni hat im Schweizer Förderprogramm "Dramenprozessor" – das es nun schon seit 18 Jahren gibt! – einen Theatertext verfasst, der Eigenwilligkeit mit Bühnentauglichkeit verbindet. Er lässt sich geradesogut lyrisch lesen wie dramatisch, atemlos oder stockend, schwebend oder mit Nachdruck, aber er muss jedenfalls in mehrstimmigem Unisono erklingen. Personengrenzen und Sprechsituationen, Dialog, Monolog, Kommentar lösen sich auf, "5 bis 10 Frauen" will Haenni: "Können auch mehr sein. Viele. Aber allermindestens 5. Eine halbwegs repräsentative Gruppe Frauen jedenfalls", denn "viele Frauen auf Bühnen sind leider immer noch ein viel zu seltenes Bild. Na also."

FrauimWald 560a FotoXeniaZezzi uDie Autorin mittenmang: Julia Haenni im roten Kleid, umringt von Barbara Heynen, Sandra Utzinger, und Judith Cuénod © Xenia Zezzi

Na also. In der Produktion des freien Theaters Marie in der Aarauer Tuchlaube (und später in den koproduzierenden Partnertheatern des "Dramenprozessors") steht Julia Haenni selbst mit auf der Bühne, als Teil eines formidablen Frauen-Quintetts, das die gewünschte Mindestgröße durch maximale Ausstrahlung aufwiegt. Erst umsummen sie das Publikum aus dem Saal heraus, kommen dann eine nach der andern auf die Bühne, wo virtuelle Doppelgängerinnen sie schon erwarten. Sie fallen sich ins Wort, werfen sich die Sätze zu, reden miteinander, gegeneinander, zueinander in vielfältigen Konstellationen und noch potenziert durchs Video.

Die Inszenierung von Patric Bachmann und Olivier Keller sucht die Konkretion. Sie staffiert den Text aus mit Narration, Figurenentwürfen und Haltungsskizzen, mit Situationen und der passenden Motivation. Sie scheut die Leere, ersichtlich schon im Bühnenbild (von Dominik Steinmann), das auf der ganzen Spielfläche fein säuberlich Alltagsgegenstände katalogisiert, ein Set PET-Flaschen, eine Besteckgarnitur, Backutensilien, Tischstaubsauger, Kaffeemaschine, Abfalleimer.

Sie gewinnt dadurch an surrealen Farben, verliert aber gleichzeitig an mulmiger Trockenheit, an Bedrohlichkeit. Der Text ist so lesbar, keine Frage, die Aarauer Inszenierung verstellt ihn nicht – aber sie findet darin in erster Linie das Absurde, weniger die Gefährdung. Vielleicht ist es dann ja das gewesen, ganz einfach. Reden, um der Leere zu entgehen.

 

Frau im Wald
von Julia Haenni
Uraufführung
Regie, Dramaturgie: Patric Bachmann und Olivier Keller. Bühne: Dominik Steinmann. Kostüme: Tatjana Kautsch. Video: Kevin Graber.
Mit: Judith Cuénod, Silke Geertz, Julia Haenni, Barbara Heynen, Sandra Utzinger.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theatermarie.ch
www.tuchlaube.ch


Kritikenrundschau

"Vom engagierten Spiel und vom überraschenden Text lebt das Stück, zudem von den Videos von Kevin Graber", schreibt Karl Wüst in der Aargauer Zeitung (16.3.2018). "Seine verlangsamten Filmsequenzen mit den fliessenden Überblendungen lohnen allein schon den Besuch des Abends."

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