Ich kann nicht jeden töten lassen

von Thomas Rothschild

Ulm, 15. März 2018. "Meiner Ansicht nach ist das Theater nicht nur scheintot, sondern wirklich gestorben. Es gibt keine Blasbälge, groß genug, ihm wieder Lebensodem einzuflößen. An den Bühnen selbst haben wir kein Ensemble, sondern nur Prominente. Es interessiert sich aber auf die Dauer niemand für die Eitelkeit von X. und Y. Außerhalb des Theaters haben wir keine Dichter, sondern Diagnostiker, die glauben, den Wunsch des Publikums bald hier, bald dort feststellen zu können."

Diese Zeilen stammen nicht aus einem der zahlreichen Nachrufe auf das Theater unserer Tage, sondern aus einem Aufsatz von 1925. Sein Autor ist Hans Henny Jahnn. Der pessimistische Befund hat den Schriftsteller freilich nicht davon abgehalten, für das Theater zu schreiben. Schon drei Jahre vor dem Druck des zitierten Textes wurde das zweite Stück des damals 27jährigen, "Die Krönung Richards III.", in Leipzig uraufgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es nur selten gespielt. In Bremen hat Frank-Patrick Steckel es inszeniert, in Hamburg Sebastian Nübling, und 2014 lief es erstmals in Österreich am Burgtheater, als wäre es eine Außenstelle der Berliner Volksbühne, in der Regie von Frank Castorf, mit dessen Protagonisten Martin Wuttke und Sophie Rois im Bühnenbild von Bernd Neumann.

Außenseiter der deutschen Dramatik

Jetzt hat sich das Theater Ulm an Jahnns "Historische Tragödie" gewagt. Der Außenseiter der deutschen Dramatik spinnt in der "Krönung Richards III." das durch Shakespeare bekannte Sujet auf der Grundlage der historischen Fakten weiter, erfindet psychologische Details und homoerotische Elemente hinzu, gewichtet die Figuren und die Motive des Stoffes neu. Von den vier Königsgattinnen bei Shakespeare bleibt lediglich Elisabeth, die Witwe Eduards IV., übrig, die gleich zu Beginn auftritt. Noch ehe Richard eine jener Missetaten ausüben konnte, für die er in die Literaturgeschichte eingegangen ist, lässt Elisabeth (Tini Prüfert), die in Ulm aussieht wie eine Femme fatale aus einer Inszenierung von Robert Wilson, einen Pagen kastrieren, dessen sie als Liebhaber überdrüssig geworden ist.

Tini Prüfert, Fabian Gröver, Florian Stern, Benedikt Paulun © Jochen KlenkLeichen pflastern ihren Weg: Tini Prüfert (als Elisabeth) und Fabian Gröver (als Richard III.) mit  Florian Stern und Benedikt Paulun © Jochen Klenk

Bearbeitungen und "Übermalungen" unserer Tage zielen darauf, Figuren in die Gegenwart zu verlegen. Hans Henny Jahnn bemüht sich um eine veränderte Sicht auf die Vergangenheit. Er will eine stigmatisierte Figur zwar nicht wie ein paar Jahre später mit seiner "Medea" rehabilitieren, aber immerhin differenziert begreifen. "Berichtest du Geschichte, Weib, und lügst, wie alle, die Geschichte schreiben, lügen?", sagt Richard zu Elisabeth.

Jahnns ausufernder Text muss (und musste schon bei der Uraufführung, mit dem Einverständnis des Autors) rigoros gekürzt werden, soll er an einem Abend der üblichen Länge gespielt werden. Es ergibt sich die heikle Situation, dass in einer Umgebung, in der Shakespeare – zuletzt in Claus Peymanns Stuttgarter "Lear" – in ein fast schnoddriges Gegenwartsdeutsch übertragen wird, die extrem artifizielle, rhythmisierte Sprache Hans Henny Jahnns schlechterdings altertümlich wirkt. Gerade darin freilich liegt ein großer Teil ihrer Schönheit. Dennoch: Es gehört Mut dazu, dem von Jahnn totgesagten Theater wieder Lebensodem einflößen zu wollen, indem man es so weit wie nur möglich vom Fernsehalltag entfernt. Ulm beweist diesen Mut.

König in Strickjacke

Der Regisseur Jasper Brandis geht mit Regieeinfällen sparsam um. Er versucht nicht darüber hinweg zu täuschen, dass Jahnns Drama in erster Linie ein Sprachkunstwerk ist. Diskret bedient er sich des Stilmittels der Groteske, entschärft mit ihm die grausamsten Stellen. Richard trägt zu Beginn eine Strickjacke, eine beige Hose, eine abgewetzte Aktentasche: ein kleiner Angestellter. Man mag an die Stichwörter "Schreibtischtäter" oder "Banalität des Bösen" denken, aber das wäre gewiss nicht im Sinne des Autors. Später läuft Richard in Hosenträgern überm blau karierten Hemd und schließlich nackt – Ecce homo – über die Bühne. Dieser Richard ist weder heroisch noch dämonisch.

richard4 560 Jochen Klenk uFemme fatale mit Tötungsabsichten: Tini Prüfert als Elisabeth © Jochen Klenk
Als Bühnenbild hat Andreas Freichels eine vorübergehend eine Oberbühne freigebende Orgel entworfen, die an Jahnns zweiten Beruf als Orgelbauer erinnern soll. In einer der schönsten Szenen singt oben in Video-Großaufnahme ein Knabe Purcells Frost-Arie aus "King Arthur", die sich seit Ariane Mnouchkines Molière-Film im Theater großer Beliebtheit erfreut, während Richard mit dem Becher seiner Thermosflasche den Fußboden abhorcht und der Erfüllungsgehilfe Gurney – Aglaja Stadelmann genüsslich in einer Hosenrolle – das Butterbrot verspeist, das Richard zuvor, als Orgelspieler, in seiner Aktentasche verstaut hat. Richard, kein skrupelloser Täter wie bei Shakespeare, sondern ein vom Gewissen Gejagter: "Ich kann nicht jeden töten lassen, kann nicht in aller Leute Häuser gehen. Und wem darf ich vertrauen außer mir selber?"

Ein Schüler Nietzsches

Fabian Gröver spielt den Richard mit zunehmender Intensität. Zu Elisabeth sagt er: "Du nimmst zum Maßstab jedermann; das ist gerecht vor jedermann, das unterstützet jedermann. Er schreit so laut die Kehle kann: hier fangen seine Rechte an, und schrie er laut, er stets gewann. So kreuziget er jeden Mann, der seine Gunst nicht dulden kann, sich andre Wege ausersann, weil er die Tollheit sehen kann von jedermann. – Ich aber bin nicht jedermann!“ Richard als gelehriger Schüler Nietzsches. Doch Grövers Richard gewinnt an Größe in dem Maße, in dem er an sich zweifelt und leidet.

Kurz vor dem Ende gibt es eine Anspielung auf Shakespeare, die zugleich den Unterschied zwischen diesem und Hans Henny Jahnn auf den Begriff bringt: "Man wird ein Pferd mir bringen, mich zu retten. Ich aber will kein Pferd, ich will das Schlachten und mein Leben enden." Der nackte Richard übergießt sich mit einer undefinierbaren Flüssigkeit. Der Instrumentenbauer Urban Heußler, der aussieht wie Richard im Präludium, setzt sich an die Orgel. Ende. Kein Ende.

 

Die Krönung Richards III.
von Hans Henny Jahnn
Regie: Jasper Brandis, Bühne und Kostüme: Andreas Freichels, Dramaturgie: Stefan Herfurth.
Mit: Tini Prüfert, Fabian Gröver, Stefan Maaß, Benedikt Paulun, Florian Stern, Gunther Nickles, Jakob Egger, Timo Ben Schöfer, Franziska Maria Pößl, Aglaja Stadelmann.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.theater-ulm.de


Kritikenrundschau

"Die Ulmer Inszenierung des designierten Schauspieldirektors Jasper Brandis verlangt viel Konzentration vom Zuschauer, obwohl Brandis das Acht-Stunden-Werk klug auf weniger als die Hälfte der Länge gekürzt hat", schreibt Dagmar Hub in der Schwäbischen Zeitung (17.3.2018). "Der Monumental-Monolog bietet aber auch viel: mindestens eine der interessantesten Inszenierungen der endenden Intendanz Andreas von Studnitz', mit philosophischem Tiefgang und bemerkenswerter Sprachkunst von Fabian Grövers in der Titelrolle."

Einen "fulminanten Abend" hat Magdi Aboul-Kheir gesehen und schreibt in der Südwestpresse (17.3.2018): Brandis habe Jahnns Stück "voller Musikalität inszeniert, mit Gefühl für die großen Wortbögen. Er findet ein Maß für die Maßlosigkeit, szenisches Geschehen stützt das Sprach-Drama." Immer wieder streue die Regie amüsante Brüche ein, "dann haben Tote keine Lust mehr herumzuliegen. Aber das ist wohl dosiert, Brandis will nur ein kurzes Aufatmen ermöglichen, er flüchtet sich nicht in Ironie." Fabian Gröver sei als Richard "sensationell, so glühend wie kalt".

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