Haus der Fragen

von Willibald Spatz

München, 20. Juni 2008. Das Thema heiligt die Mittel. Das Thema ist ernst zu nehmen, es betrifft viele. Das Thema heißt "Migration" und beschäftigt die Kammerspiele schon die gesamte Spielzeit. Als Höhe- und Endpunkt wendet man sich nun den Menschen zu, die ohne Genehmigung hier leben. In München allein könnten es bis zu 50.000 sein. Diese Zahl ist geschätzt und fast schon unglaublich. Dahinter verbergen sich genauso viele Schicksale, von denen man an der Oberfläche der Stadt nichts mitbekommt.

Der Kammerspiel-Dramaturg Björn Bicker wollte ihnen nachspüren. Dazu hat er ein paar Wochen in einer Anlaufstelle für Personen ohne Aufenthaltserlaubnis gearbeitet, dort viele Gespräche geführt und diese dann zu einem Theatertext verdichtet. Björn Bicker nennt sich Polle Wilbert, wenn er Stücke schreibt. Als Dramaturg ist er mitverantwortlich für die "Bunnyhill"-Projekte an den Kammerspielen, bei denen versucht wurde, die Grenzen des gewöhnlichen Theaters zu sprengen, die Randgebiete der Stadt ins Theaterhaus zu holen und das Theater hinaus zu tragen; auch damals war der Regisseur Peter Kastenmüller dabei – die beiden arbeiten gut zusammen.

Geschichten von unsichtbaren Schicksalen

Auch bei "Illegal" geht es nicht darum, einfach nur Theater zu spielen, auch hier soll mit Formen experimentiert werden, die den Zuschauer aus seinen Sehgewohnheiten reißen. Er wird auf die Reise geschickt durchs Haus, geführt von so genannten Schleusern in vier Gruppen, die gleichzeitig unterwegs sind und sich dabei manchmal auch gegenseitig in ihrer Konzentration stören. Ganz zu Beginn fiel die komplette Tonanlage aus, der Anfang wurde verschoben, es gab Verzögerungen im Ablauf, es war zu heiß im Haus, man musste stehen im Gang vor der Garderobe: "Illegal" ist ungemütlich, kein Abend zum Kuscheln im Sessel und erst recht nicht, um sich berieseln zu lassen.

Im Parkett sind die Sitze entfernt – man schaut vom Balkon aus zu. Auf Bühnenteilen liegen verpackte Kleider. Hildegard Schmahl erzählt von der Arbeit in der Beratungsstelle, fragt sich, warum sie hilft, sucht erst in ihrer, dann in der deutschen Vergangenheit nach Gründen und findet nichts. Danach wird man in eine zur Teestube umgestaltete Garderobe geführt. Der Schauspieler Edmund Telgenkämper interviewt einen echten Soziologen zu seiner Doktorarbeit, die "Gespenster der Migration" heißt. Er fragt: "Ist illegal strafbar?", "Sind Illegale Opfer?" und "Profitieren wir als Gesellschaft von denen?" und erhält als Antwort "Wir als Gesellschaft existieren nicht."

Starke Szenen, strapaziös, aber poetisch aufgeladen

Auf der eigentlichen, großen Bühne, die vom Zuschauerraum abgetrennt ist, erlebt man daraufhin eine schöne Tanzperformance, in der Steven Scharf schildert, wie man ein "Haus aus Pappe" baut und darin lebt. Plötzlich hebt sich der Stahlvorhang, und alle Besucher sind wieder in einem Raum versammelt. Auf der Spielfläche in der Mitte sind auf einmal viele Menschen, aus mehreren Mündern erfährt man noch eine Reihe von Einzelschicksalen. Darunter die eines ukrainischen Ex-Studenten, dessen Freundin nach ihrem Studium zurück in die Heimat ist wegen ihrer schlechten Zähne, die ihr kein Leben in der Illegalität erlaubt hätten. Er ist geblieben, brach das Studium ab und singt jetzt in einer Band in München. Eine Argentinierin hat einen Spanier gefunden, der das Kind in ihrem Bauch annahm und wurde so legal.

Musikalisch unterlegt werden diese Erzählungen von der zumindest in München gerade ziemlich angesagten Post-Krautrock-Band "Kamerakino", deren Mitglieder in letzter Zeit immer wieder für Theater-Soundtracks sorgen. Fetzig endet die Veranstaltung. Man merkt ein bisschen, dass das Konzept am Reißbrett entworfen wurde. Man hat sich zu Zwangs-Originalität verpflichtet. Das ist manchmal strapaziös. Polle Wilbert war beim Stimmen-Sammeln dagegen nicht auf Sensationen aus, er hat sprachlich nachgearbeitet und die Sätze poetisch aufgeladen. Man erfährt einiges vom Alltag draußen im Dunkeln, man erlebt starke Szenen, man spürt ein Mitleid und fragt sich tatsächlich auf dem Weg nach Hause, was wohl das nächste Thema ist, über das nachzudenken man sich einen Abend lang anleiten lassen wird.


Illegal
Ein Projekt von Peter Kastenmüller, Björn Bicker und Michael Graessner
Regie: Peter Kastenmüller, Bühne: Michael Graessner, Kostüme: Ayzit Bostan, Musik: Kamerakino Video: Stefan Bischoff.
Mit: Katja Bürkle, Hildegard Schmahl, Melanie Witteborg, Walter Hess, Steven Scharf, Serhat Karakayali, Edmund Telgenkämper, Damien Liger und Statisten.

www.muenchner-kammerspiele.de



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