Explodierende Freak-Show

von Andreas Wilink

Düsseldorf, 20. Juni 2008. Das Personenregister hat es in sich. Es lohnt, namentlich vorgestellt zu werden, angesichts so origineller Bezeichnungen wie Frotzi und Foxy, Gelantine und Pizza. Unter den acht Handelnden befinden sich, um nur diejenigen mit den eigenwilligsten Eigenschaften zu nennen, eine Hermaphroditin, ihr dreiäugiger blödsinniger Bruder, ein als Nachtwächter in einer Klinik angestellter Werwolf sowie dessen sprechender und sich zum Über-Ich aufspielender Tumor.

Nora Mansmanns Endzeit-Phantasie in zwei kurzen Akten und insgesamt 33 knappen Szenen fängt bei Adam und Eva bzw. noch viel früher an, mit der Stunde Null, dem erdgeschichtlichen Urknall. Im universellen und familiären Tohuwabohu kocht die Autorin ihr "schleimiges" Süppchen. Volksvernichtung oder meine Seele ist sinnlos, könnte man in Abwandlung des österreichischen Antinationaldichters Werner Schwab sagen und damit in etwa das Resultat charakterisieren, das hervorging aus dem vom Düsseldorfer Schauspielhaus 2006 initiierten "Autorenlabor".

Krisenkomödie im provisorischen Paketpostzelt

Der Schriftsteller, Dramatiker und Hausdramaturg für besondere Aufgaben, Thomas Jonigk, hat es erfunden und leitet es. Jonigk begleitet die von ihm ausgewählten fünf Teilnehmer, die als Grundvoraussetzung ihr Debüt schon hinter sich haben müssen, gibt von Saison zu Saison Blockseminare, die auch Praxiserfahrung im Theaterbetrieb vermitteln. Erste Fach-"Laborantin" wurde Nora Mansmann. Mit der Siegerkür ihres Stücks verbindet sich die Uraufführung, die jetzt für Düsseldorf zur doppelten Premiere wurde.

Denn eingeweiht wurde zugleich eine neue, neben dem Hauptbahnhof gelegene Spielstätte. Die Alte Paketpost – nach langem ordnungs- und kommunalpolitischen Hin und Her endlich eröffnet – bietet aber bisher dem Theatervolk nur in einem provisorischen Zelt einen ungeschützten "Schutzraum". Passend zum Titel "Gimme Shelter" für ein amerikanisch-deutsches dramatisches Mini-Festival, unter dessen Motto auch Mannsmann Obdach fand.

Das dritte abendfüllende Stück der 1980 geborenen Autorin ist eine formal und inhaltlich rebellisch-anarchische Sache. Mutatis mutandis eine krude Katastrophen-Revue, Krisen-Komödie und saure Soap im salopp schnöden, sprachgewitzten Umgangston, der Oliver Pocher gefallen müsste und dabei Harald Schmidt doch nicht unterfordern würde. Über die sich allerdings auch ziemlich bald selbst verausgabende Handlung läßt sich nur unzulänglich und zusammenhanglos berichten.

Medikamenten- und Metaphernmissbrauch

Allerdings geben die Ereignisse allerlei Assoziationsmaterial her. Die Gedanken des Betrachters sind halt ebenso frei wie kulturell gebunden. Der von Frotzi regelmäßig wiederholte Satz "Heute morgen bin ich aufgewacht und mein Geschlecht war weg" lässt auf Kafkas Verwandlungen schließen. Das moralabweisende klinische Vokabular erinnert, allerdings ohne den Nachhall  kosmischer und mythischer Explosionen, an die Lyrik eines Gottfried Benn. Joe Ortons dirty talk aus dem Prol-Milieu mischt sich mit Bildern, die auch Stephen King und Terry Gilliam entworfen haben könnten.

Eine irre HNO-Ärztin mit globalem Machttrieb weist entfernte Verwandtschaft mit  Mabuse, Dr. No und Dürrenmatts Welttollhaus auf. Revolutions-Pathos wie von einem mäßig metaphernstarken Heiner Müller schwingt mit, wenn eine mehrfach umgetopfte, sich zum Amphibienwesen ausbildende Gelantine-Masse schwadroniert.

Auf dem Nährboden von Mansmanns mit science-fictionalen Kraftstoffen gepäppeltem Biotop grassiert der Medikamentenmissbrauch (die Leute werden mit Pillen und Happy Drugs wie mit Drops versorgt) und der Therapiewahn. Buchstäbliche Auswüchse des Gesundheitswesens und eine monströse Folgen zeitigende Umweltbelastung erschaffen diese Freakshow, die metastasierend explodiert.

Letzte Worte im Wattigen

Wir befinden uns in der Randlage ("die Bonzen" wohnen im "Zentrum") unter Beziehungskrüppeln, auf einem Experimentierfeld für allseits Versehrte und Verkehrte. Degeneration und Anpassung sind in dieser sarkastischen Harmonia Mundi Grundbedingung. Uraufführungs-Regisseur Christian Doll gerät zwar seinem Namen, aber kaum dem Stück zur Ehre. Er inszeniert eine aufgedrehte kleinkünstlerische Veranstaltung, einen munteren Klimbim mit reichlich Pausenfüllern, Einlagen und Dehnungsübungen.

Das extrovertierte Ensemble mit Janina Sachau, die ausschaut wie Marcel Duchamps surreal bärtige Mona Lisa, und mit Susanne Tremper als irrer Ärztin wie aus einem Jerry-Lewis-Film macht allerhand Umstände, die sich mittels einer Videoleinwand, eines Monitors, eines begehbaren Kleiderschranks, einer für hübsche Scherenschnitteffekte sorgenden Papierwand und eines Krankenbetts für die darin nicht fixierbare Krisen-Oma (Marianne Hoika) steigern lassen.

Nach einer Raumerweiterung in die mit Straßenverkehrs-Projektionen gefüllte Hallenleere verschwinden Mansmanns vielsagend letzte Worte im Wattigen des herein gepumpten Bühnennebels. So wird hier der Eindruck verwischt. Dabei wäre es darauf angekommen, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.

 

zwei brüder drei augen
von Nora Mansmann
Inszenierung: Christian Doll, Bühne: Jan A. Schroeder, Kostüme: Kati Kolb. Mit: Denis Geyersbach, Marianne Hoika, Anne Knaak, Ilja Niederkirchner, Janina Sachau, Michael Schütz, Susanne Tremper.

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de
www.nora-mansmann.de

 


Mehr lesen über Aufführungen im Rahmen des Düsseldorfer Gimme-Shelter-Festivals, zum Beispiel über Daniel Fishs Inszenierung von Sheila Callaghans We are not these Hands, können Sie hier.

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