Äh, ästhetische Kriterien?

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 27. März 2018. Das deutsche Stadt- und Staatstheater verhält sich zum internationalen Kunstbetrieb wie der unter prekären Bedingungen produzierte Indie-Film zum Hollywood-Blockbuster. Das ist nichts Neues, wurde mir aber noch einmal besonders deutlich, als ich in Nathaniel Kahns sehr sehenswertem, an Insider-Interviews reichen Dokumentarfilm The Price of everything bei Sotheby's New York einen Auktionator tänzeln und hämmern sah und neidisch dachte: Wow, was für eine Spannung dieser Kunstmarkt produziert. Und was da für ein Glaube drinsteckt! An den Wert der Kunst bzw. des jeweils verhandelten Kunstwerks, das feierlich erleuchtet hinterm Auktionator an der Wand hängt und die Gebote in die Höhe treibt, bis man die Nullen nicht mehr zählen kann.

Kolumne 2p diesselhorstMehr rot und weniger besser keine Fische

Nach welchen Kriterien das funktioniert, kann dann im Film der Kunstsammler Stefan Edlis erklären, während er den Sotheby's-Katalog durchblättert: Braun geht nicht so gut, rot umso besser. Gut ist, wenn ein Gemälde "juicy", also dick vor Farbe ist. Wer als Künstler zur Marke werden will, sollte außerdem besser keine Fische malen. Bilder mit Fischen saufen ab.

Edlis sammelt seit den 70er Jahren und hat mit seiner Frau Gael Neeson 2015 42 Kunstwerke im Wert von 400 Millionen Dollar aus der gemeinsamen Sammlung ans Art Institute of Chicago verschenkt. Dank dieser Schenkung kann das Museum jetzt das Schaffen von Andy Warhol und Jeff Koons differenziert beleuchten, was es sich vorher schlicht nicht leisten konnte. Oder andersherum? Dank dem Kunstmarkt und seiner kometenhaften Karriere in der Welt des Geldes haben Andy Warhol und Jeff Koons jetzt ziemlich viel Platz im Art Institute of Chicago.

Globalisierbare Label

Kriterien sind Verhandlungsmaterial. Im November 2017 wurde das um 1500 datierte und Leonardo zugeschriebene Gemälde "Salvator Mundi" bei Christie's in einer Auktion für "Post-War and Contemporary Art" versteigert. Der Kunsttheoretiker Wolfgang Ullrich führt das darauf zurück, dass die Globalisierung des Kunstbetriebs die wissenschaftlichen Kategorien der Kunstgeschichte wegfegt. Leonardo wird als "Contemporary" versteigert, schlicht weil in dieser Sektion das meiste Geld steckt. Auf der anderen Seite des Kunstbetriebs bauen politisierte Biennalen mit zunehmend postkolonialer Schwerpunktsetzung auch nur scheinbar wider den Markt die "westlich sozialisierte Kunstgeschichte" eifrig ab. In der Geschichtslosigkeit zählt zwischen diesen beiden Polen für Wofgang Ullrich auch ein Leonardo nur noch als Label.

Im deutschen Stadt- und Staatstheater kommen ebenfalls zunehmend globalisierte Label zum Zuge, wofür im Moment am erfolgreichsten der Dramatiker Ayad Akhtar steht. Auch vom Theater umworbene Artivist*innen wie das Zentrum für politische Schönheit verlassen sich auf ein posthistorisches Empörungspotential. Und mit seinem erklärten Ziel eines "globalen Realismus" im Theater outet der Regisseur Milo Rau sich aktuell geradezu als Streber im Biennalen-Reigen. So zumindest ordnet Wolfgang Ullrich ihn ein.

Aufbruch und Reflexion

Aber eigentlich bewahrt seine institutionalisierte Flüchtigkeit das Theater ja davor, vom Markt vereinnahmt zu werden oder wie die "Gegen-Kunst" der Biennalen allzu dialektisch gegen ihn vorgehen zu müssen. Auch wenn er aus einem anderen Zusammenhang stammt, lässt sich dieser Satz der Schauspielerin Wiebke Puls genau darauf münzen: In einer Solidaritätsadresse des Ensembles der Münchner Kammerspiele gegen die Nichtverlängerung der Intendanz Lilienthal sagte Puls: "Wir glauben, dass es der Auftrag des staatlich subventionierten Theaters ist, ein Ort der Reflektion und des Aufbruchs, nicht eine Bastion der Affirmation zu sein."

Aufbruch und Reflektion vertragen sich nicht mit der Geschichtslosigkeit, die Wolfgang Ullrich dem durchglobalisierten Kunstmarkt mit seinen zwei Polen bescheinigt. Denn worauf sollten sie sich beziehen? Werke der Bildenden Kunst können als materialisierte Kapitalismusfetische funktionieren. Damit aber kann das Theater nicht dienen. Aber Aufbruch und Reflektion sind auch schwieriger zu haben als Affirmation, zumal in aufmerksamkeitsökonomisch kurzatmiger Zeit. Dazu kommt, dass eine Kulturpolitik, die Räume für Reflexion und Aufbruch zu ermöglichen hilft, schon seit längerem unter (Rentabilitäts)druck geraten ist.

Das Lamento "Theater muss sein" des Deutschen Bühnenvereins als Selbstverständlichkeit zu betrachten und über den hyperventilierenden Kunstbetrieb nur die Nase zu rümpfen ist unter diesen Umständen gefährlich ignorant. Schließlich sind auch die Theater Teil einer Welt, in der sich die Gesetzmäßigkeiten, die sich im Kunstbetrieb so spektakulär abbilden, längst durchzusetzen begonnen haben.

Aber vielleicht hilft es der Idee von Aufbruch und Reflektion ja schon ein bisschen, wenn wir – Kritiker*innen, Zuschauer*innen, Theaterleute – uns wieder verstärkt fragen: Welche (Arten von) Kriterien gelten eigentlich gerade bei uns? Unterscheiden sich unsere Kriterien überhaupt wesentlich von "rot ja, braun nein, bloß keine Fische"? Welche Kriterien wollen wir uns (weiterhin) leisten?

 

Sophie Diesselhorst ist Redakteurin bei nachtkritik.de. Vorher hat sie mal drei Wochen in einem Call Center gearbeitet, wo sie dazu angehalten wurde, möglichst schnell "Ich aktiviere Sie jetzt!" zu nuscheln, um krumme Deals zu besiegeln, ohne dass der arme Mensch am anderen Ende der Leitung es merkt. In ihrer Kolumne versucht sie deutlich zu sprechen.

 

Zuletzt dachte Sophie Diesselhorst über positive Verunsicherung durch Hashtag-Debatten nach.

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