Kostbare Sicherheit

von Claude Bühler

Zürich, 29. März 2018. "Vielleicht liegt der schönste, ergreifendste Roman über die Menschen, die im Zweiten Weltkrieg in die Schweiz flohen und wie lästige Eindringlinge behandelt wurden, unveröffentlicht in einer Schublade", schrieb der Literaturkritiker Charles Linsmayer über "Die Brille des Nissim Nachtgeist" von Lotte Schwarz. Die Bibliothekarin hatte als Dienstmädchen in der Zürcher Pension Comi gearbeitet und ihre Erlebnisse in ihrem Roman verarbeitet. 1971 starb sie, ohne dass der Text publiziert worden wäre.

Schon vor zwei Jahren hätte Gerhard Meisters Stück, in dem Motive aus dem Roman dramatisiert werden, am Stadttheater Bern uraufgeführt werden sollen, was wegen des Rausschmisses von Stephanie Gräve ausfiel. Seither hat der Themenkreis nichts an Brisanz verloren – nicht nur: Wie gingen wir mit den Juden und anderen Geflüchteten damals um, sondern auch: Wie machen wir das heute?

Brutaler Pragmatismus Schweizer Art

Im Zuge eines europaweit wiedererwachten Antisemitismus dauert in der Schweizer Politik ein Seilziehen an um die Sicherheitskosten für die jüdischen Gemeinschaften. Ein Basler Regierungsrat lehnte die Übernahme regelmäßiger Sicherheitskosten mit der Begründung ab, man würde damit allenfalls ein Präjudiz für andere Glaubensgemeinschaften schaffen. Ein Bundesbericht schlug allen Ernstes vor, die Juden könnten ja dazu eine Privatstiftung gründen.

Über diese spezifisch schweizerische Art arglosen, brutalen Pragmatismus', oft vermengt mit Nettigkeit und Ordnungsliebe, kann man in Meisters Stück viel lernen – verkörpert wird sie etwa von einem Polizisten, der immer wieder unangemeldet in die Pension stapft. Den dort lebenden Geflüchteten erklärt er dann, ihnen fehle der Instinkt für die Schweizer Gepflogenheit wie etwa die Einhaltung der Nachtruhe. Oder: "Die (Juden) werden ausgeschafft, weil das im Interesse der Juden liegt, die schon in der Schweiz wohnen. Je weniger Juden im Land, desto höher die Akzeptanz in der Bevölkerung." Man braucht nur das Wort "Juden" mit "Geflüchtete" auszutauschen und vermeint sich in einer aktuellen Debatte im Nationalrat.

DasgrosseHerz4 560 Raphael Hadad uFriederike Wagner als Paula Friedmann © Raphael Hadad

Das aus Russland geflohene jüdische Paar Paula und Wolodja Friedmann führte die Pension Comi 1921-42. Dem bundesrätlichen Bescheid "Das Boot ist voll" setzten die Friedmanns trotzig-verzweifelt die Parole "Die Pension Comi ist nicht voll, solange jemand in Not ist" entgegen. Vor allem Juden, Kommunisten, Sozialisten wurden aufgenommen oder auch versteckt. Ein verbunkertes, angstvolles Leben: Um nun im Zürcher Schauspielhaus zum Setting der Inszenierung von Sonja Streifinger zu gelangen, muss man mehrere Stockwerke tief in den Keller steigen, in die "Kammer". Eng sitzt man im kleinen Theaterraum, fast in Atemdistanz zu den Schicksalen, die über 80 Minuten ausgebreitet werden. Bühnenbildnerin Selina Puorger hat mit Tüchern kleine Kammern unterteilt, die Pension im Stil einer Notfallstation abstrahiert. Intimität gibt es für niemanden. Der Schutzraum ist fragil. Wütend marschiert der Polizist einmal durch eine Papiertür.

Ergreifende Einzelschicksale

Der Pianist David Apfelbaum wird im Internierungslager zum Steinbehauen gezwungen, was seine Musikerkarriere zerstört. Die Politikerin Gabriella Seidenfeld wirft aus Angst 40 Seiten eines italienischen Romans in den Zürichsee, den sie aus Armut "schwarz" übersetzt hatte. Erzählt wird auch das Beispiel der Dichterin Else Lasker-Schüler, der die Fremdenpolizei das Dichten verbot, weil dies Erwerbsarbeit bedeute.

DasgrosseHerz1 560 Raphael Hadad uGottfried Breitfuss, Friederike Wagner, Sarah Gailer, Claudius Körber, Fritz Fenne (als Polizist),
Ludwig Boettger © Raphael Hadad

Als Figur am meisten her gibt Ludwig Boettger als KZ-Ausbrecher Herr Schatz. Hypersensibel, verbittert und exhibitionistisch im Leid fährt er dem Rest der Welt an den Karren. Auch Friederike Wagner als Paula Friedmann, deren Erinnerungen wir retrospektiv durch das Spiel erfahren, macht die Verhärmtheit und Erschöpfung an der Seite des großherzigen und aber auch herzkranken Ex-Revolutionärs Wolodja fühlbar.

Den griffig formulierten Geschichten folgt man in Meisters Bearbeitung und Streifingers Inszenierung gebannt, weniger der Erzählung insgesamt. Gelegentlich verbreitet sich eine Solidaritätsseligkeit, unter der nichts vibriert. Aber Lotte Schwarz' Roman, der dieser Tage erstmals gedruckt erschienen ist, dürfte die Öffentlichkeit noch weiter beschäftigen.

 

Das grosse Herz des Wolodja Friedmann
Von Gerhard Meister nach Motiven des Romans "Die Brille des Nissim Nachtgeist" von Lotte Schwarz
Regie: Sonja Streifinger, Bühne: Selina Puorger, Kostüme: Tiziana Angela Ramsauer, Dramaturgie: Benjamin Grosse, Video: Marie Hartung, Selina Puorger, Katharina Stark, Sound: Claudius Körber, Katharina Stark, Musik: Jojo Büld, Licht: Daniel Leuenberg.
Mit: Ludwig Boettger, Gottfried Breitfuss, Fritz Fenne, Sarah Gailer, Claudius Körber, Friederike Wagner.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Die Figuren würden durchaus berühren, aber der Abend handle sein Thema rein historisch ab. In seinen Szenen komme kaum Interaktion oder Entwicklung in Gang", schreibt Tobias Gerosa von der Neuen Zürcher Zeitung (30.3.2018). "Zurückhaltende (oder unentschlossene?) Regie, undramatischer Text: Das lenkt Aufmerksamkeit aufs Thema, ist – dem Stücktitel gerecht – menschlich verständlich, aber fürs Theater kein vielversprechender Weg."

Gottfried Breitfuss spiele eine Seele von Mensch, "trotzdem berührt uns dieses Theater nicht", schreibt Stefan Busz in Der Bund (31.3.2018). "So ein richtes Leben hat hier niemand. Die Figuren bleiben Schablonen."

 

 

Kommentare  
Das grosse Herz, Zürich: Frage
Hätte denn der Roman von Frau Gräve selbst uraufgeführt werden sollen oder auch in Bern von Frau Streifinger?
Das grosse Herz, Zürich: Antwort
Liebe Freie Dramaturgie,
es handelt sich nicht um eine reine Romanbearbeitung, sondern um ein eigenständiges Stück mit Motiven aus dem Roman. Als ich 2014/15 auf der Suche nach Schweizer Stoffen zum Thema Flucht und Asyl für Bern war, hatte mich ein Ensemblemitglied und Nachfahre des Pensionsbesitzers dankenswerterweise auf die Pension Comi und den zu diesem Zeitpunkt noch unveröffentlichten Roman von Lotte Schwarz aufmerksam gemacht, daraufhin habe ich Gerhard Meister einen Stückauftrag erteilt. Das Stück sollte im Winter 16 zur Uraufführung kommen, wurde aber nach meinem Weggang abgesagt. So ist es nun letztlich in einer feinen und intensiven Inszenierung sogar am richtigen Ort gelandet: in Zürich, wo es spielt.
http://www.journal-b.ch/de/082013/kultur/2805/Ein-Berner-Stück-fürs-Schauspielhaus-Zürich.htm
Das grosse Herz, Zürich: Nachfrage
Liebe Stephanie Gräve,
vielen Dank für diese Auskunft. So fügt es sich eben doch im Leben manches Mal zum Guten, wenn nicht sogar Besseren im Sinne von noch passender als angedacht... Meine Frage jedoch ging dahin: Wäre auch im Winter 2016 die UA von Sonja Streifinger besorgt worden oder hätten zu dem Zeitpunkt Sie das selbst inszeniert? Hat Gerhard Meister den von Bern bezahlten Stückauftrag nach der abgesagten UA das Stück nach Zürich erneut verkaufen können oder hat Bern das dann nach Zürich verkaufen können?
Das grosse Herz, Zürich: noch eine Antwort
Liebe Freie Dramaturgie,
das Stück hätte ich sicher nicht inszeniert, ich bin keine Regisseurin... Sonja Streifinger kannten wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht; inszeniert hätte eine Regisseurin/ein Regisseur aus unserem Umfeld.
Was das „verkaufen” angeht: ein Stückauftrag ist etwas anderes als die Uraufführung eines existierenden Stückes; erteilt man einen Auftrag, wird ein vertraglich vereinbartes Honorar gezahlt, ob das Stück zur Aufführung kommt oder nicht. Das ist vermutlich - wie der verlinkte Artikel nahelegt - in diesem Fall geschehen, involviert war ich da nicht mehr.
Die Rechte am Stück liegen dann beim Autor/Verlag, das Stück ist wieder frei zur UA. In der Regel zahlt das uraufführende Haus eine gewisse UA-Gebühr, die mit den Tantiemen verrechnet wird und nicht vergleichbar ist mit einem Auftragshonorar.
Das grosse Herz, Zürich: Glücksfall
Liebe Stephanie Gräve - vielen Dank für diese neuerliche Auskunft. Dann gibt es sogar mehrere Glücksfälle im Zusammenhang mit dem - jetzt endlich - erschienenen Roman von Lotte Schwarz: Wir durften die Existenz einer RegisseurIn mehr bemerken. Wir durften einmal mehr bemerken, dass Romane, die ein Zeitgeschehen literarisch relevant überliefern, trotz eines großen Interesses, das es daran gibt - und ja auch irgendwie geben müsste - lange nachdem sie geschrieben wurden und nach dem Tod des Autors/der Autorin herausgegeben werden können. Obwohl es lange vorher bekannt war, dass sie existieren und man von einer literarischen Kompetenz ihrer VerfasserIn ausgehen musstekonntedurfe... Wir durften erfahren, dass ein Theater durchaus einen Stückauftrag erteilen kann, ohne dass unmittelbar ein Verlag an der Arbeit des Autors/der Autorin partizipiert und weiter erfahren, dass ein erteilter Stückauftrag zwar vertraglich vereinbart bezahlt, also – ich vermute mit Ihnen - geldwert honoriert wird. Und zwar unabhängig davon, ob das beauftragte Stück-Werk dann beim Auftraggeber zur UA kommt oder nicht. In jedem Fall ist der Stückauftrag als originärer künstlerischer Beitrag zu optionaler Theaterarbeit abgegolten im gegenseitigen Einvernehmen... In gewisser Weise kann dann Gerhard Meister als Autor von Glück sagen, dass er nach Ihrem Weggang woanders zwar weniger, aber doch erneut mit seinem Stück Geld verdienen konnte. Dieses Glück hatte Lotte Schwarz ja nun nicht. Ebenso wenig wie ihre eventuellen Erben. Und da hat das Theater doch auch Glück gehabt, dass es solch ein Frauen-Literatur-Schicksal zur theatralen Weiterverwendung - um nicht zu sagen: Ausbeutung - frei Haus geliefert bekommen hat. Oder nicht? Für meinen Geschmack hätte man mit so einem S t ü c k über eine Frau in ihren erlebten Zeitläuften und ihre konkrete literarische Arbeit noch 30 Jahre warten müssen. - Oder alternativ ihren Roman - wie das schließlich oft gemacht wird heutzutage am Theater - direkt dramatisieren müssen. Es gibt ja - zum Glück noch nicht! - auch keine Stücke über Wolfgang Herrndorf z.B. unter Verwendung von Motiven aus seinen Romanen bzw. Fragmenten... Aber das ist eine reine literaturbetriebliche Geschmacksfrage - Ich finde es jedenfalls wunderbar, dass man jetzt von der Pension Comi weiterhin mehr weiß, weil es in Bern ein Ensemblemitglied gab, dem jemand aus der Leitung aufmerksam zuhörte, als es von zu Hause geplaudert hat. Auch ist der Limmat Verlag, der das Wagnis auf sich nahm, beinahe 50 Jahre nach dem Tod der Autorin ihr unzweifelbar interessantes Werk zu veröffentlichen, nun auf der sichereren Absatz-Seite mittels gesicherter Theaterunterstützung. Das ist auch verlegerisch viel mutiger als auf Literaturkritker und -kenner wie Charles Linsmayer zu hören, die bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf die Autorin und deren unveröffentlichtes Haupt-Werk verwiesen haben. Möglicherweise hatte kein Verlag den Mut gefunden, es vor März 2018 zu veröffentlichen, weil der Roman von Lotte Schwarz auf u.a. den Juristen Nußbaum verwies, der frühzeitig eine beauftragte Untersuchung über den Umgang der Schweiz mit den insbesondere jüdischen Exilanten anstellte, die nicht immer ein Aushängeschild für die Schweiz vor und während des zweiten Weltkrieges gewesen sein könnte??? Ebenso gab es – wohl seit 2012 (?) - eine Biografie der Autorin von Historikerin Christiane Uhlig als Biografin u.a. dieser aus Hamburg emigrierten Frau, die in der Schweiz Autorin wurde...
Es tut mir leid, dass ich Sie fälschlicherweise für eine Regisseurin hielt, ich habe es irgendwann schon einmal besser gewusst und es war mir in einer Fülle von neuen Theater-Informationen nicht mehr richtig erinnerlich, bitte seien Sie mir nicht gram deshalb.
PS: Warum hat eigentlich nicht die KTB trotz Ihres unschön arrangierten Weggangs das Stück zur Uraufführung gebracht? Das hätte man doch bestimmt trotzdem gekonnt, oder? - MsfG - d.o.
Das große Herz, Zürich: Lotte Schwarz
Liebe Freie Dramaturgie,
vielleicht finden Sie eine Gelegenheit, sich das Stück in Zürich anzuschauen - weil es sich lohnt und weil manches klarer wird. Lotte Schwarz kommt zum Beispiel gar nicht als Figur vor, die Erzählperspektive, die Gerhard Meister wählt, ist die der Paula Friedmann. Die Romandramatisierung und Lotte Schwarz als Bühnenfigur stehen also in der Tat noch aus... Letztlich ist es wirklich ein Zufall: Wir hattem uns für den Stoff Pension Comi/Friedmann entschieden, noch in Unkenntnis des Romans, wenngleich im Wissen um seine Existenz, haben dann mit Christiane Uhlig Kontakt aufgenommen und erfahren, dass nach langer Zeit endlich die Veröffentlichung bevor steht. Also zur traurigen Aktualität des Themas eine glückliche zeitliche Koinzidenz, was die Romanveröffentlichung betrifft. Warum KTB von der Aufführung Abstand genommen hat, müssten Sie dort erfragen, das entzieht sich meiner Kenntnis.
Das grosse Herz, Zürich: Fragen- und Antwortruhe
Liebe Stephanie Gräve, danke und im Moment vielleicht Frage- Antwortenruhe reihum. Vielleicht hat es bei KTB jemand als Fragestellung gelesen und mag für uns hier oder auch für sich selbst eine Antwort auf meine Frage finden... Gelegenheit zum Anschauen in Zürich hätte ich genug, aber an anderen Voraussetzungen sie wahrzunehmen mangelt es leider trotzdem. - Mit sehr freundlichem Gruß - d.o.
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