Die andere Geburt

von Eva Biringer

Berlin, 5. April 2018. Wenn Sie die Nase voll haben vom Feminismus, hören Sie jetzt besser auf zu lesen. Derzeit haben ja viele das Gefühl, man durchpflüge den gesamten abendländischen Kulturkanon, auf den Spuren eines Patriarchats, das es zu vernichten gilt. 1996 hat es das antike Drama erwischt; da schrieb die DDR-Ikone Christa Wolf den Medea-Mythos um. Gemeinhin kennt man ihn so: Medea flieht mit dem Argonauten Jason aus ihrer Heimat Kolchis, kurz nachdem sie ihren eigenen Bruder getötet hat. Weit kommt das Paar nicht, sondern strandet als Flüchtlinge in Korinth. Dort verliebt sich Jason in die Tochter des Königs, woraufhin Medea der Konkurrentin ein vergiftetes Kleid schenkt und anschließend die eigenen Kinder tötet.

Die 1929 geborene Christa Wolf wollte das so nicht gelten lassen und fand heraus, dass erst die Version des Euripides Medea zur Kindsmörderin macht. Zuvor galt die Protagonistin als gefallene Göttin, die sogar versuchte, ihren Kindern das Leben zu retten. Der Roman "Medea. Stimmen" macht das, was gerade in vielen ästhetischen Disziplinen en vogue ist: Er deutet ein bestehendes Werk um, indem er dessen scheinbare Objektivität in Frage stellt. Sehr oft meint diese Objektivität den männlichen Blick.

Nass gemacht

Dass die entsprechende Inszenierung am Deutschen Theater von einem Mann stammt, sollte nun wirklich egal sein. Tilmann Köhler, der gemeinsam mit seiner Dramaturgin Juliane Koepp die Fassung erarbeitet hat, gibt dem Stoff allen Raum, den er braucht, zeitlich (das Stück dauert fast zweieinhalb Stunden) und vor allem räumlich. Karoly Risz' Bühnenbild ist ein meterlanges Wasserbecken, eine so simple, wie bezwingende Idee. In diesem kugelt, rollt, wälzt und patscht das Ensemble, dass es bis in die vorderen Reihen spritzt.

Medea2 560 Arno Declair uMedea über dem Wasserbecken: Maren Eggert (sitzend, rechts) © Arno Declair

Beim Zuschauer führt das zu eleos, dem Mitleid mit Darstellern, die über die komplette Spieldauer mehr oder weniger durchnässt sind. Man reiche der die Haare auf Brusthöhe tragenden Kathleen Morgeneyer doch bitte einen Föhn! Immerhin steckt sie als einzige Figur in Gummistiefeln (Kostüme: Susanne Uhl und Henrike Huppertsberg). Ihre Rolle ist die der Königstochter Glauke, die als Mordaugenzeugin unter epileptischen Anfällen leidet. Diese manchmal eigenartig in erotische Ekstase weisenden Zuckungen gelingen Morgeneyer genauso brillant wie die flotte Zirkusseilnummer, bei der sie ungesichert unter der Bühnendecke baumelt.

Ähnlich gerne sieht man Lisa Hrdina als Medeas Schülerin Agameda zu, die weniger vor Wasser als vor Sarkasmus tropft. In ihrem Selbstbild der vom Schicksal Benachteiligten und ihrem eiskalten Intrigenhändchen erinnert sie an Franz Moor. Zumal ein Hauch Bitch dem Stoff guttut: Frauen sind ja nicht nur Opfer.

Dass Maren Eggerts Medea so unzweideutig daherkommt ist okay, schließlich war sie fast zweieinhalbtausend Jahre lang die Schwarze Petra. Spricht sie allein, könnte sie auch eine jener wirr vor sich hin brabbelnden Passantinnen sein, die einem tagtäglich begegnen (zugegeben liegt das Schizophrene in der Natur des Monologs). Im Gespräch mit anderen, vor allem Jason, wirkt sie angenehm rational. Johanna Kolberg als Medeas Gefährtin Lyssa bleibt hingegen blass und ist hauptsächlich mit dem Bedienen von Handpuppen beschäftigt.

Reste toxischer Männlichkeit

Erwartungsgemäß kommen die Männer bei diesem Stoff sehr schlecht weg. Da ist der gönnerhafte Akamas (Helmut Mooshammer), dessen Anzug viel Platz lässt zum Aufplustern. Gerade in den Szenen mit Medea wirkt er wie Sigmund Freud, der genüsslich die weibliche Hysterie seziert: Danke, gut. Jason (Edgar Eckert) ist irgendwo auf halber Strecke zum Feministen liegengeblieben, mit Resten toxischer Männlichkeit in Form von Vergewaltigungsfantasien, kombiniert mit rührender Zartbesaitetheit. Hoffentlich, denkt man beim Anblick des sich nass machenden Schmerzensmannes, haben seine Schuhe keine Ledersohlen.

Kurz vor Schluss tritt dann der wunderbar lakonische Thorsten Hierse als Leukon auf den Plan. Darin, wie er mit seiner Zunge den Mundwinkel befeuchtet, liegt eine ganze Welt begründet. Von ihm stammt außerdem der denkwürdige Satz: "Es gibt eine Stufenleiter des Wissens." Begleitet wird all das von einem weiteren Mann. Michael Metzlers Live-Musik ist so hingetupft-dezent, dass man sie gar nicht bemerkt, eine Eigenschaft, die Feministinnen am anderen Geschlecht mitunter so schmerzlich vermissen.

Medea1 560 Arno Declair uGespiegelt: Maren Eggert spielt Medea auf der gefluteten Bühne von Karoly Risz. © Arno Declair

Christa Wolfs Motive waren nicht ausschließlich emanzipativer Natur. Den Staat Kolchis etwa deutete sie als Metapher für die DDR, Korinth als eine für die BRD. Teilweise schrieb sie "Medea. Stimmen" im kalifornischen Ausland, weswegen auch das Fremdsein eine Rolle spielte. All das lässt der Regisseur elegant unter den Abendbrottisch fallen, um sich ganz der matriarchalen Lesart zu widmen. In einem Interview mit der Zeit bemerkte die 2011 verstorbene Autorin: "Erst im Zuge des Patriarchats wurde Medea dämonisiert, aus Angst vor der Frau, die Leben geben kann. Wie sagt doch Jason bei Euripides: 'Gäb es andere Geburt, ganz ohne Frau, wie glücklich wäre das Leben.' Diese Angst liegt am Grunde unserer Gesellschaft. Sie prägt die heutige Welt, die eine Männerwelt ist, auch wenn immer mehr Frauen mitherrschen."

Dass noch immer viel zu wenige Frauen mitherrschen, außer vielleicht bei der Frage, was auf dem Abendbrottisch landet, ist unbestritten. Eine Inszenierung wie die am DT trifft den Zeitgeist also auch, ohne nennenswerte ästhetische Akzente zu setzen. Das ist okay. Medeas letzte Sätze lauten: "Was bleibt mir. Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort." Mit Blick auf einen Feminismus, der viele zurzeit so sehr nervt, und der doch so unglaublich wichtig ist, lautet die Antwort: Genau hier passt sie hin.

 

Medea. Stimmen
von Christa Wolf
Regie: Tilmann Köhler, Bühne: Karoly Risz, Kostüme: Susanne Uhl, Henrike Huppertsberg, Musik: Jörg-Martin Wagner, Puppenbau: Franziska Stiller, Karen Schulze, Andreas Müller, Licht: Thomas Langguth, Dramaturgie: Juliane Koepp, Live-Musik: Michael Metzler.
Mit: Maren Eggert, Edgar Eckert, Lisa Hrdina, Helmut Mooshammer, Thorsten Hierse, Kathleen Morgeneyer, Johanna Kolberg.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

Tilmann Köhler erzähle diesen Thriller in einem so düster-poetischen wie bedeutungsschweren Bühnenbild, so Barbara Behrendt im Deutschlandfunk (6.4.2018). "Zwei Zentimeter tief steht das dunkle Wasser auf der leeren Bühne (...) Ein Spiel mit Licht- und Schattenfiguren, mit Spiegelungen und Projektionen." Der Regisseur übersteuere diese in Monologen erzählte Enthüllungsgeschichte viel zu oft ins Gebrüll. Dabei wirkt die Inszenierung gerade dann eindringlich, wenn die Stimmen leiser werden. "Doch trotz der oft überzogenen Lautstärke bleibt man dran an Wolfs spannender Umdeutung, die weit über die schlichte feministische Lesart 'gute Frau, böser Mann' hinausgeht."

Im rbb Inforadio (6.4.2018) ist Ute Büsing wenig bewegt. Zwar sei in dieser Korrektur des gängigen Medea-Bildes alles drin, was Christa Wolf intendierte: die Auseinandersetzung zwischen armer DDR und reicher BRD in Gestalt von Kolchis und Korinth, Fremdenhass und Ausgrenzung. "Aber an die Nieren gehen die am Deutschen Theater erhobenen Stimmen auch dann nicht, wenn sie sich immer brachialer zu Verfolgern und Vertreibern der Medea gruppieren."

"An großzügigen gestischen Unterstreichungen dessen, was der Text ohnehin recht deutlich sagt, mangelt es nicht", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (7.4.2018). Wenn etwa Jason an einer strategisch entscheidenden Stelle wie ein begossener Pudel dastehe, erhebt er seinen Kopf tatsächlich aus dem Wasser und schüttelt die nassen Locken. Bühnenbildner Karoly Risz habe knöcheltief das Szenario geflutet. Das Geschehen aus Wolfs Roman werde aus verschiedenen Perspektiven umkreist. Fazit: "Man hört dem Text wirklich gern und interessiert zu – wenn im DT nicht über weite Strecken ein derartiges Deklamationstheater daraus würde, dass die Wasserspiele im Verlauf des Abends nicht nur einmal nahe an der unfreiwilligen Komik entlangschrammen."

Doris Meierhenrich schreibt in der Berliner Zeitung (7.4.2018): Die "Zeichen" in Tilmann Köhlers "ebenso schwebender wie textnaher Bühnenumsetzung" seien "einfach und klar und trotzdem ungeheuer vielsagend". Das "Staunenswerte" am Wassserbassin-Bühnenbild sei das "präzise Licht- und Schattenspiel". Der "bildreichen Umsetzung" setzten die Schauspieler*innen das "Tüpfelchen" auf: von der "diesmal nicht nur edlen" Maren Eggert, über die "unübertrefflich delirierende" Kathleen Morgeneyer, die "pausbackig fiese" Lisa Hrdina bis zum "naiv-leidenschaftlichen" Edgar Eckert und den beiden "zwielichtig genauen Staatseminenzen" Helmut Mooshammer und Thorsten Hierse. Wirklich "gespenstisch" aber wisse Johanna Kolberg mit "kindgroßen Puppen durchs Wasser zu geistern".

Irene Bazinger schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online 9.4.2018, 21:59 Uhr): Tilmann Köhler hüte sich "entschieden vor jeder Aktualisierung". Er vertraue "zusammen mit seinem konzentriert agierenden Ensemble" der "erzählerischen Brillanz" von Wolf. Zu Beginn mute die Aufführung "beinahe wie ein Bühnenweihefestspie" an, so respektvoll gehe sie mit den Worten, Figuren und Konflikten um. Mit "fein dosierten musikalischen Live-Akzenten", "subtilen Lichteffekten" und einer "zwingenden inhaltlichen Durchdringung" entwickele sie "dann bald" eine "beeindruckende Sogwirkung". Maren Eggert gebe ihrer Medea "einerseits den hohen Ton der gereizten Tochter aus bestem Hause, andererseits die Berliner Kodderschnauze".

 

 

 

 

 

 

 

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