Emilia Galotti - David Bösch lässt in seiner Lessing-Inszenierung am Schauspiel Frankfurt die Frauenfiguren bestimmen
Quer gelesen
von Alexander Jürgs
Frankfurt, 14. April 2018. David Bösch braucht nicht viel für große Momente. Zum Beispiel der Annäherungsversuch des Prinzen beim Kirchgang. Eine Lichtprojektion zeichnet ein riesiges Kreuz an die dunkle Bühnenwand. Isaak Dentler als Hettore Gonzaga, Prinz von Guastalla, reckt die Hand der Emilia entgegen. Die, gespielt von Sarah Grunert, rauscht vorbei, zögert doch für einen nicht einmal sekundenkurzen Moment, kein Wort wird währenddessen gesprochen. Und doch ist alles erzählt.
Oder der Moment des Glücks zwischen Emilia und dem Grafen Appiani, die heiraten wollen. Emilia wirft sich in weiße Schale, Appiani, im Rollstuhl sitzend, pfeift begeistert, Yann-Tiersen-hafte Klaviermusik erklingt. Erst rauschen Lamettafäden und Kronleuchter hinab, kurz darauf kracht ein ganzer Schwall Nippes hinterher: Papier, Tüll, Glitzerkram. Dann ist es dunkel und still. In zehn, zwanzig Sekunden erschafft Bösch ganz leichtfüßig ein großes Bild. Als Theaterzauberer wurde er schon häufiger charakterisiert. Zu Recht.
Dass Bösch seine "Emilia Galotti", dieses hundertfach gedeutete und gespielte Schlüsselwerk der Aufklärung, auf der großen Bühne des Frankfurter Schauspiels in nur knapp zwei Stunden erzählt, liegt aber nicht nur an diesen temporeichen Augenblicken. Der Regisseur, Jahrgang 1978, hat in Lessings Text auch beherzt gestrichen. Der Maler Conti und Camillo Rota fehlen in seiner Fassung komplett, mit dem Kriminellen Angelo wird bloß telefoniert.
Männer Schluffis, Frauen Diven
Der eigentliche Mächtige des Stücks, der Prinz, der sich in die Bürgertochter Emilia verschossen hat, die aber den Grafen Appiani heiraten will, tritt in der Inszenierung als Jammerlappen auf. Diesen Hettore Gonzaga mag man nicht so recht fürchten. Viel eher erscheint er wie ein armer Tropf, der Mitleid hervorruft. Er ist kein skrupellos-strategischer und ganz gewiss kein charismatischer Herrscher, sondern ein Getriebener – amoralisch ohne Frage, vor allem aber wehleidig. Ein komischer Kauz mit Bäuchlein, fettigen Haaren und zu großer, purpurfarbener Anzugshose. Auf dem Kopf trägt eine Krone, die auch von einem Kindergeburtstag stammen könnte. Wie Isaak Dentler diesen Abgehalfterten spielt, ist ein Ereignis. Zeternd – "Klagen, nichts als Klagen" – schlurft er am Bühnenrand entlang, sein Körper verkrampft, alles strengt ihn an, dann wieder wirkt er verunsichert, dann impulsiv. Die Intrige, die ihm die geliebte Emilia bringen soll und die Appiani das Leben kosten wird, lässt er einfach laufen. Was für ein kaputter Typ.
Stark sind bei Bösch dagegen die Frauen. Katharina Bach gibt die Gräfin Orsina als Marlene-Dietrich-Diva mit orangerotem Bubikopf, mit Pelz und Perlenketten, groß, eine Erscheinung. Sie war lange die Geliebte des Prinzen, doch nun will er nichts mehr von ihr wissen. Den Brief, den sie ihm schickte, hat er zerrissen. Sein Kammerherr Marinelli, Typ eloquenter Strippenzieher, will die Geschasste vom Hof jagen, zimperlich geht er dabei nicht vor. Doch Orsina braucht nur kurz, um den Schmerz zu überwinden. Sie drückt die brennende Zigarette in die Handfläche, verzieht das Gesicht, verschluckt die Tränen und schaltet, ganz Racheengel, gleich wieder in Angriffsmodus, um ihre Gegenintrige zu spinnen. Der Dolch, den sie Emilias Vater Odoardo zusteckt, ist bei ihr eine Pistole. Bevor sie diese aus der Hand gibt, hat sie damit schon eine ganze Zeitlang herumgefuchtelt und auf so manchen Kopf gezielt.
Besserer Schluss
Emilia Galotti ist von dem sie umwerbenden Prinzen gleichzeitig angewidert und fasziniert. Am Ende seines Stücks, das auf der römischen Verginia-Legende beruht, lässt Lessing sie durch die Hand des Vaters sterben. Es ist ihr Weg, um dem Zugriff durch den Prinzen, der sie von seinem Schloss nicht mehr ziehen lassen will, zu entkommen, um ihre Unschuld zu verteidigen, einer Vergewaltigung zu entgehen. Emilia Galotti sieht keinen anderen Ausweg, als zum Opfer zu werden.
David Bösch verhilft ihr zu einem besseren Schluss. Man kann ihn auch als einen Versuch, das Stück feministisch quer zu lesen, verstehen. Denn Böschs Emilia nimmt dem Vater die Pistole ab und das Geschehen selbst in die Hand. Stoisch steht sie da, hält sich die Waffe an den Kopf. Man erwartet den Knall, doch Emilia entscheidet sich anders. Statt auf sich selbst richtet sie die Pistole in einer abrupten Bewegung gegen das Publikum. Dann erlischt das Licht. Erst Verunsicherung, dann Applaus.
Emilia Galotti
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie: David Bösch, Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Meentje Nielsen, Video: Falko Herold, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt.
Mit: Sarah Grunert, Katharina Bach, Olivia Grigolli, Fridolin Sandmeyer, Isaak Dentler, Wolfgang Vogler, Sebastian Kuschmann.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielfrankfurt.de
"Der Blick bleibt am ehesten auf die virtuosen Darbietungen der Schufte gerichtet", so in der Frankfurter Rundschau (16.4.2018). Dass sie auch komödiantisch böse sein dürfen, sei nicht unpassend. "Und doch ist das alles auch Zeitvertreib, Ablenkungen von der dramatischen Leerstelle der Inszenierung: dem Umstand, dass Bösch mit dem Vater Galotti praktisch nichts anzufangen weiß." Am Ende wendet Emilia die Pistole in letzter Sekunde die Pistole ins Publikum, "sie wird uns doch nicht erschießen wollen? Bösch meint das gewiss als freiheitlichen, emanzipatorischen Akt. Es lässt sich aber auch als Vermeidung einer Schlüsselszene und ihrer Erprobung im Jahre 2018 verstehen."
Wuchtig erzähle Böschs Inszenierung vom Missbrauch und seinen Folgen, schreibt Johannes Breckner in der Allgemeinen Zeitung Mainz (16.4.2018). "Hier geht es nicht um das politische Drama, höchstens in dem Sinne, dass alle Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern auch eine politische Dimension haben." Es ist die Erkenntnis der Machtlosigkeit, an der Emilia Galotti in dieser Inszenierung zerbreche. "Sarah Grunert zeigt das mit gnadenloser Konsequenz."
Als "ebenso merkwürdige wie gedankenreiche und spielfreudige Inszenierung des Trauerstoffs als Tugendtragikomödie" beschreibt Jürgen Kaube in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17. 4. 2018) den Abend, gegen den er wenig einzuwenden hat.
"Bösch weiß Längen nicht zu vermeiden", schreibt Katja Sturm in der Frankfurter Neuen Presse (16.4.2018). Es seien die Gegensätzlichkeiten zwischen Schein und Sein, die das Stück bestimmten. "Dazu passt, dass die Titelfigur schwer einzuordnen ist, Sarah Grunert in diversen aufreizend kurzen Kleidchen eine spröde, kaum unschuldig wirkende Emilia gibt, die die Verführungen des Prinzen trotz ihres offensichtlichen Unwillens auch angenehm berühren."
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Was in Frankfurt passiert, mag eine seichte Kritik an den harschen Rollenklischées, die im Text stehen, sein, wenn die Männer verweichlicht und die Frauen emanzipiert auftreten.
Doch Maik Priebes Inszenierung in Göttingen in dieser Spielzeit (Premiere 27.01.2018) hat das schon radikaler und gleichsam poetischer geschafft (Bühne und Kostüme: Susanne Maier-Staufen), indem die Rollen umgekehrt besetzt sind. Marius Ahrendt kann noch immer empfindsam spielen, schon sein männlicher Körper unterminiert jede Zuschreibung davon, wie eine Tochter zu sein hat. Wird der Vater von einer Frau gespielt (Gaby Dey), verschiebt sich das Machtgefüge ganz von selbst und torpediert jede überkommene Vorstellung eines Patriarchen, der über seine Tochter verfügt. Sogar eine Persiflage erlebt diese Sichtweise mit Roman Majeski als Gräfin Orsina, der wie eine Dragqueen auftritt, aber doch gleichsam die Figur ist, die das Geschehen als erste durchschaut.
Diese umgekehrte Besetzung übt fundamentale Kritik an sexistischen Machtstrukturen, daran, wie Männer über scheinbar hilflose Frauen verfügen, und eröffnet zugleich Spielräume, die ein Miteinander erneut entstehen lassen und Zwischentöne und Feinheiten offen lassen, ohne dass wiederum umgekehrt jede Emanzipation in Beton gegossen ist. Verzweiflung existiert schließlich unabhängig von Geschlecht.
Ich war bisher der Meinung und bin es noch immer, dass Lessing mit der Geschichte erzählt, wie das frühe Bürgertum sich schon vor der ersten bürgerlichen Revolution auf dem Kontinent gezwungen sieht, die eigenen Kinder zu töten, wie schwer es also sein wird, eine andere Gesellschaftsformation durchzusetzen. Das wäre ein sozusagen historischer Blick auf ein altes Stück. Aber wir meinen doch auch, aus der Geschichte sei zu lernen.
Es ist Mode geworden, die alten Stücke nach HEUTE zu zerren. Das bringt keine Glaubwürdigkeit, und meistens werden die Stücke in ihrem Format dadurch beschädigt.
Das Verhalten der Figuren versteht sich doch aus dem sozialen Umfeld in einer konkreten historischen Situation. Wenn man also an heutigen sexistischen Machtstrukturen, die freilich historisch gewachsen sind, Kritik üben will, dann sollte man ein anderes (modernes) Stück suchen oder sich selber eins schreiben.
Ich weiß, ich kann jetzt unter "altmodisch" abgelegt werden.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik