Ein Prost mit (dis-)harmonischem Klange

von Leopold Lippert

Wien, 20. April 2018. Was für ein Alpenpanorama: die tumben Wildererbrüder (Simon Jensen und Christoph Radakovits), der geschäftstüchtige Bürgermeister (Falk Rockstroh), der hysterische Kaplan (Markus Meyer), der notgeile Großvater (Branko Samarovski), und das verliebte Paar (Sebastian Wendelin und Stefanie Dvorak), das am Wildbach zueinanderfindet, bei Blitz und Donner, im pfeifenden Wind. Knarzende Holzdielen, Herrgottswinkel, Gipfelkreuz: "Der Rüssel", Wolfgang Bauers bereits 1962 verfasste, bis 2015 verschollene "Tragödie in elf Bildern" ist zuallererst absurdes Theater, aber gleichzeitig auch eine durchaus konkrete Parodie auf das alpenländische Volksstück, samt der ihm zugrundeliegenden fatalen Mischung aus traditionsbewusster Engstirnigkeit, obrigkeitshörigem Katholizismus und nonchalanter sexueller Gewalt.

Es bricht die Absurdität des Anderen in die Absurdität des Eigenen ein

56 Jahre nach seiner Entstehung von Christian Stückl im Wiener Akademietheater uraufgeführt, ist "Der Rüssel" aber auch aus einem anderen Grund aktuell: Bauers Bergdorf Rupertihausen wird von "Afrika" heimgesucht, und die Bewohner müssen sich plötzlich mit "heidnischen Palmen" (statt dem Gipfelkreuz), Schlangen und Riesenspinnen, "Tropenkostümen" und einem Elefanten befassen, der dem Wildbach entsteigt und sich prompt mit seinem Rüssel im Herrgottswinkel verheddert. In die Absurdität des Eigenen bricht also die Absurdität des Anderen, und spätestens als der Bürgermeister (der schon den touristischen Mehrwert wittert) zuversichtlich verkündet, "Wir schaffen das!", weiß man, dass das alles sehr gegenwärtig gemeint sein soll.

 Der Russel I 034s 560 Reinhard Werner uAlpenländische Engstirnigkeit mit knarzenden Dielen und Herrgottswinkel © Reinhard Werner

Über weite Strecken ist Stückls Spiel mit alpenländischen Versatzstücken stimmig, und ergänzt die überdrehte non sequitur-"Logik" der Bauerschen Dialoge mit der verschmitzten Freude am theatralen Gimmick: Das Porträt des Urgroßvaters fällt nicht nur regelmäßig zum Schlag der Kirchenglocke zu Boden, schließlich geht es auch ganz von selbst in Flammen auf; die in einem großen Plastiksack gefangene Riesenweinbergschnecke rutscht plötzlich wie von Zauberhand quer über den Bühnenboden; der Elefant ist lebensgroß und bricht krachend durch die Holzbretter der auf den Herrgottswinkel zentrierten Bühnenstube (Bühnenbild: Stefan Hageneier); der Kaplan versinkt hochdramatisch in einer Falltür im Boden; und die giftigen Tropen-Plastikschlangen, die sich der Bürgermeister unbeeindruckt aus dem Anzug zieht, sind ein Gag, der bei jeder Wiederholung noch mehr Gelächter hervorruft.

Abspulen plumper Kolonialfantasien

Aus dem Off kommen dazu aufdringliche, wiederkehrende Klangformeln: Donner, Schüsse, Schritte, Sturm. Donner, Schüsse, Schritte, Sturm. Das größte Gimmick ist aber die Gesangskapelle Hermann, die ab und an hinter dem Felsen hervorlugt und immer die passende mehrstimmige Weise parat hat: "Ein Prost mit harmonischem Klange", "Sag zum Abschied leise Servus", und so weiter. Wenn "Der Rüssel" wirklich eine Tragödie sein soll, dann sind diese sechs Herren – wie alle Schauspieler*innen rothaarig im farblosen Bauernkostüm – der Chor: Sie künden Unheil an und jodeln Liebesschmalz.

Der Russel I 097s 560 Reinhard Werner uSooo schön bunt ist "Afrika"? © Reinhard Werner

Aber dann ist da ja noch "Afrika": Bei aller Absurdität ist Bauers Auseinandersetzung mit dem sogenannten "Fremden" doch bloß das Abspulen einer plumpen Kolonialfantasie. Eine augenzwinkernd klischeehafte Projektion unter Weißen, deren Selbstbezogenheit Stückls Inszenierung auch eher wenig entgegensetzt: Sein Afrika ist eine Art "Lion King" für Arme, mit Papageno-Zottelkostümen, Trommelrhythmen und Ethnogesang mit Fantasielauten. "Sprechen Sie Afrikanisch?", fragt Florian Tilo (Sebastian Wendelin) gleich zu Beginn ins Publikum: "Ich auch nicht." Koloniale Stereotype werden also ironisiert, darin kann man mit Wohlwollen ein Statement sehen. Andererseits verblasst die Ironisierung im Kontext des ohnehin nicht-realistischen, absurden Repräsentationsmodus von "Der Rüssel". Als Darstellung jener Alterität, für die es im von Bauer herbeistilisierten Kulturkampf "Gipfelkreuz versus Palme" herhalten muss, taugt Stückls übertrieben klischiertes "Afrika" jedenfalls ganz bestimmt nicht.

 

Der Rüssel. Eine Tragödie in elf Bildern
von Wolfgang Bauer
Regie: Christian Stückl, Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier, Musik und Sounddesign: Tom Wörndl, Licht: Herbert Markl, Dramaturgie: Hans Mrak.
Mit: Stefanie Dvorak, Simon Jensen, Peter Matic, Markus Meyer, Dirk Nocker, Barbara Petritsch, Christoph Radakovits, Falk Rockstroh, Branko Samarovski, Sebastian Wendelin.
Und der Gesangskapelle Hermann: Simon Gramberger, Bernhard Höchtel, Robert Pockfuß, Joachim Rigler, Simon Scharinger, Stephan Wohlmuth.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.burgtheater.at

 


Kritikenrundschau

Um eine groteske, an der absurden Dramatik geschulte und "als Heimatstückparodie ausgeführte Politparabel" handele es sich bei diesem Frühwerk von Wolfgang Bauer, schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (23.4.2018). Christian Stückl habe die "überlange 'Tragödie in elf Bildern' auf zwei pausenlose Stunden Spieldauer gekürzt. Dass die sechsköpfige Gesangskapelle Hermann das Geschehen mit Schlagern, Volksliedern und Jodlern begleitet, schafft Atmosphäre, nimmt aber auch Tempo raus."

Diese Bauer-Uraufführung sei "etwas zu grotesk inszeniert", meint Reinhard Kager im Deutschlandfunk Kultur (20.4.2018). Bauers "später noch schärfer formulierte Kritik an einem dubiosen Heimatbegriff und an den Auswüchsen des Kapitalismus“ seien in diesem Stück "bereits angelegt". Die Inszenierung arbeite mit "viel Humor untermalt von der Gesangskapelle Hermann, die Heimatlieder allmählich in afrikanische Rhythmik gleiten lässt."

Dieser Nachlass-Text werde "dem fanatisch Bauer-hörigen Publikum von der Regie erstaunlich breit und pointenlos angetragen", klagt Ronald Pohl vom Standard (online 21.4.2018). "Famose Binnenerzählungen des Absurden" würden "völlig folgenlos vergeigt"; dafür dürfe die Gesangskapelle Hermann "eitel Wohllaut verströmen". Fazit: Wolfgang Bauers "gigantisches, kaum noch entfaltetes Dramenwerk sollte endlich szenisch zur Disposition gestellt werden. Durch eine eher mickrige Uraufführung wie die des "Rüssels" darf das Genie Bauer nicht am Nachruhm gehindert werden."

Bauers Stück habe Stückl "mit sicherer Hand fürs Unterhaltende, voll Musikalität und mit munterem Ensemble uraufgeführt", schreibt Norbert Mayer in der Presse (21.4.2018). "Aus dem Bürgerschreck Bauer ist unser aller Klassiker Wolfi geworden, der sogar mit einem Text entzückt, dem man nicht nur großes Talent, sondern auch Schwächen der Redundanz anmerkt. Stückl hat sie durch kräftige Kürzungen und eine kluge Umstellung von Szenen verdeckt. Er betont das Heitere und umwölkt das Unfertige." Einwand: Die "Exotismen sind von atemberaubender Naivität, offenbar von der Regie zugefügte Passagen, die etwas Aktualität oder gar politisches Bewusstsein erzeugen sollen, wirken aufgesetzt, wenn nicht sogar befremdend bei dem kraftgenialischen Dichter, der in 'Der Rüssel' noch auf der Suche nach seiner ganz eigenen Sprache war und sich vorerst mit dem ironisiert-gestelzten Ton alter Tragödien abfand".

"Blühender Blödsinn" zeigt sich Martin Lhotzky von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.4.2018) in diesem Stück von Wolfgang Bauer. Bei der Uraufführung könne man "ein bisschen" den Eindruck gewinnen, "dass Stückl in mancher Szene nicht so recht wusste, wie weiter. Die Handlung – welche Handlung? – des Stückes hilft dabei ja auch selten aus." Der Auftritt der Gesangskappelle sei ein "gelungener Einfall". Fazit: "Lustig, ja, urkomisch, bisweilen, absurd unbedingt – aber noch ein bisschen mehr Straffung hätte dem Jugendwerk des bei der Niederschrift wohl knapp einundzwanzigjährigen Wolfgang Bauer nicht geschadet. Ganze zwei Stunden trägt der Schwank dann doch nicht."

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