Elfriede for president

von Michael Wolf

24. April 2018. Vor kurzem ist mir aufgefallen, welche politische Entscheidung mein Leben am stärksten geprägt hat: das Dosenpfand. Ohne Jürgen Trittin käme ich nie auf die Idee, mein leeres Wegbier neben einen Mülleimer zu stellen, statt es hineinzuwerfen.

Experten fürs Grundsätzliche?

Die großen Wegmarken der Merkel-Ära hingegen tangieren mich kaum. Seit dem Atomausstieg steigt meine Stromrechnung. Das ärgert mich ein bisschen. Andererseits konnte ich so endlich guten Gewissens Gudrun Pausewangs schreckliches Buch "Die Wolke" entsorgen. Und die Flüchtlingskrise? War bislang auch nicht meine Krise. Ich habe ein paar Mal gegen syrische Jungs beim Fußball verloren. Kein Beinbruch, ich bin das gewohnt.

kolumne wolfIch bin ein Egozentriker, meine Ideologie endet am Rande meines Sehfeldes. Sorgen mache ich mir nur um meine direkte Umwelt und die Menschen, die ich gerne mag. Auf den Rest habe ich eh keinen großen Einfluss. Zu Atomausstieg und Grenzöffnung hat mich ja auch keiner gefragt.

Im Theater hingegen lassen sie sich von den Grenzen persönlicher Lebenswelten nicht aufhalten. Was auch auf der politischen Bildfläche erscheint, schon bald haben wir ein neues Genre: Trumpstücke, Flüchtlingstheater, Erdoğanrevue, Postkolonialschwank. Und natürlich darf und muss hier auch im Jahr 2018 noch diskutiert werden, ob wir den Kapitalismus auch wirklich ganz bestimmt behalten wollen.

Keine falsche Bescheidenheit, auf unseren Bühnen tummeln sich Experten fürs Grundsätzliche. Der Nahostkonflikt? Wäre längst gelöst, hätten wir nur ein paar Angewandte Theaterwissenschaftler aus der Hildesheimer Oststadt rangelassen. Völkermorde vor 100 Jahren? Da mögen die Historiker doch endlich mal einsehen, dass sich die auf einer Studiobühne gründlicher aufarbeiten lassen. Wäre Elfriede Jelinek US-Amerikanerin, würde sicher schon spekuliert, ob sie sich für die nächste Wahl aufstellen lässt.

Missstände vor Ort verhandeln

Leider bleibt Theater bei der Abwendung der gerade aktuellen Apokalypse oft hinter den Erwartungen zurück. Im besten Falle resultieren die Arbeiten im viel gepriesenen "Bewusstseinswandel" beim Publikum. Wenn ich das Wort lese, denke ich immer an Kurt Tucholsky: "Die Revolution findet wegen schlechten Wetters im Saale statt."

Keine Sorge, ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen politisches Theater. Ich mag es nur nicht, wenn Theaterleute ihr Publikum belügen, oder noch schlimmer: sich selbst. Ginge es ihnen wirklich um Missstände, würden sie deren Auswüchse vor Ort verhandeln. Da, wo das Publikum sich verhalten kann und verhalten muss. Genau dafür haben wir doch diese ganzen Stadttheater. Zur Erinnerung: Inkompetente Narzissten regieren nicht nur in Amerika, sondern auch in manchem Rathaus.

Stich in schmerzende Wunden

Wirklich brisant und für die Beteiligten sogar riskant ist politisches Theater erst, wenn es sich traut, konkret und lokal zu arbeiten. In Bonn haben Volker Lösch und Ulf Schmidt wegen eines Rechercheabends über politische Schlamperei mächtig Ärger bekommen. Nuran David Calis spürte in Köln-Mülheim dem Nagelbombenanschlag des NSU nach. In Dresden haben sie in einer großen Laien-Performance den Theatervorplatz vom Geist Pegidas gesäubert.

Ein solches Theater sticht in die einzigen Wunden, die das Publikum wirklich schmerzen. Think global, act local. Klar, das ist ein Streberspruch, aber die Streber hatten ja in der Schule schon immer die richtige Antwort. Liebe Theaterschaffende, seien Sie mutig und schlagen Sie den Lokalteil auf. Gehen Sie dahin, wo's wehtut: Bleiben Sie zu Hause.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.

 

Zuletzt dachte Michael Wolf über Filterblasen und mangelnde Konfrontation im Theater nach.

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