Geisterspiele im Schietwetter

von Sophie Diesselhorst

Berlin, 24. April 2018. Wie Zuckerwatte. Eine Stunde 45 Minuten Synapsenfeuer, und zum Schluss auf der großen Videoleinwand: die Schaubühne, in der wir gerade sitzen, aus der Vogelperspektive, dazu Earth Died Screaming von Tom Waits, was perfekt darauf einstimmt, in den abgekühlten Frühlingsabend hinauszutreten. Es singen von der Unterbühne aus die Schauspieler*innen, die erst ihre Köpfe in den Sand gesteckt haben und dann ganz abgesogen worden sind. So charmant wie von Dead Centre wird man selten aus dem Theater katapultiert.

Shakespeare schlägt Schnippchen

Und es stimmt ja auch gar nicht, dass Zuckerwatte keine Substanz hat. Sie tut eben nur ganz gewaltig so als ob! Und das hat sie mit dem Theater, genauer gesagt, mit seinem berühmtesten und meistgespielten und dieses Jahr vor 400 Jahren gestorbenen Dramatiker William Shakespeare gemeinsam, der das "So tun als ob" in komischen Verwechslungsspielen und tragischen Hybrigrammen nun mal unnachahmlich und genreprägend auf die Spitze getrieben hat und es immer wieder schafft, das postdramatische Theater auszutricksen. So auch hier in der Schaubühne.

ShakespearesLastPlay 1 560 GianmarcoBresadolaBesprechung in Regen und Sturm: Mark Waschke, Nina Kunzendorf, Thomas Bading, Jenny König und Moritz Gottwald  © Gianmarco Bresadola

Er hat das erste und das letzte Wort: Altersschwach und ausgebrannt eröffnet er den Abend (als Stimme aus dem Off), kann aber gleichwohl nicht umhin, kraft seiner wenn auch müden Fantasie die runde Bühne im Globe Theatre der Schaubühne wie eine Muschel nach oben zu klappen, woraufhin eine karge Strandlandschaft mit ein bisschen Meergetümpel zum Vorschein kommt. "Shakespeare’s last play", so der Titel des Abends, Shakespeares letztes Stück, ist "The Tempest", "Der Sturm", und wir wohnen nun also Shakespeares Schöpfungsprozess bei.

Küssen, Sex, Mord und GPS

Seine Instrumente sind eine Landkarte auf der Videoleinwand in der hochgeklappten Schale der Muschel, auf der er seinen Figuren GPS-Routen vorgibt, die zu den drei klaren Zielen Küssen, Sex, Mord und Tod führen. Außerdem fünf Schauspieler*innen aus dem Ensemble der Schaubühne, die er aus dem Off auf- und abdirigiert. Er selbst ernennt sich zum Prospero und ist – mit irisch-britischem Understatement – durchaus zur Selbstkritik fähig: "Ich habe auch schon bessere Liebesszenen geschrieben", seufzt er nach der Erstbegegnung von Miranda und Ferdinand.

Kein Wunder also, dass die Schauspieler*innen immer mal wieder aus den Rollen fallen und die Shakespeare-Verse alltagssprachlich unterbrechen, um sich in dieser seltsamen Handlung, in ihren angedeutet historisierenden Korsetten und der lieblosen Strandlandschaft verloren zu fühlen. Wobei gerade diese alberne Kulisse sie, allen voran Mark Waschke, zu herrlichstem Knallchargentum herausfordert! Sein Ferdinand ist ein gegen die Marionettenfäden, an denen Prospero/Shakespeare ihn führt, unentschieden rebellierendes Pubertier; doch sein Trotz wird noch übertroffen von Jenny Königs Miranda, der schnell Zweifel an der plötzlichen Liebe kommen, und deren Weigerung, auf das von Shakespeare auf der Landkarte vorgegebene Ziel "Sex" zuzusteuern, Ferdinand so sehr reizt, dass er sie schließlich zu vergewaltigen versucht – womit der Abend auch seine durchaus eindrückliche #MeToo-Szene hat.

ShakespearesLastPlay 2 560 GianmarcoBresadolaMoritz Gottwald so: "Ist doch gleich ein ganz anderes Spielen mit GPS-Unterstützung, oder Nina?" (Moritz Gottwald mit Nina Kunzendorf)  © Gianmarco Bresadola

Angestachelt von ihrem Inspirator treiben Dead Centre das reine Spiel also ihrerseits so lange auf die Spitze, bis Prospero/Shakespeare, der sich mit ohnehin eingeschränkter Personage durch den "Sturm" zappt – "let’s try a murder" – die Lust dran verliert und alle miteinander sehr plötzlich und völlig ohne Grund sterben lässt: "There’s only one ending, and it signifies nothing."

Im zweiten, kürzeren Teil des Abends erstehen die Toten als Geister wieder auf und versammeln sich an Shakespeares Totenbett wieder. Die Abrechnung ist blutig, Shakespeare wird zersägt und verspeist, Messer- und Wortführerin ist Miranda beziehungsweise Jenny König, die sich als Frau von Shakespeare unverstanden und in ewige Abhängigkeit verbannt fühlt.

Am Strand von Lampedusa

Im Folgenden, leicht ermüdenden Hin und Her scheint mit Shakespeares Körper auch seine Sprache zerfleddert, der Geist die Bühne zu verlassen. Bis die Inszenierung noch einmal tollkühn die Tändelei mit der Gegenwart kurzschließt und Mark Waschke wütend ausbricht, dass es nicht auszuhalten sei, in unserer Zeit eine Figur zu spielen, die am Strand von Lampedusa – um welche andere Insel sollte es sich im "Sturm" handeln – angeschwemmt wird und dabei Shakespeare zu rezitieren. "Es gibt keine Sprache für das was wirklich los ist in der Welt, es gibt keine Poesie, keine Dramatik! Wir sollten alle schweigen."

Aber der kurz aufblitzende Ernst der Lage wird rasch wieder weggewischt, mit britischem Humor, der hinter jeglichen Punkt noch zwei setzt, so dass doch wieder alles im Ungefähren schwebt. Die Schauspieler*innen bekennen sich zum Sog des Innenlebens, den Shakespeares Figuren für sie haben. Wenn sie die Köpfe in den Sand stecken, bekennen sie sich genauso zur Weltabgewandtheit eines solchen Theaters. Am Ende war es definitiv beste Unterhaltung im Globe Theatre. Ein Zuckerwatte-Genuss, an den man sich erinnern möchte – auch wenn er selbst, durchaus weise, nicht verhehlt, dass das nicht möglich sein wird.

 

Shakespeare’s Last Play
von Dead Centre nach "Der Sturm" von William Shakespeare
Uraufführung
Aus dem Englischen von Gerhild Steinbuch
Regie: Bush Moukarzel, Ben Kidd, Bühne: Chloe Lamford, Kostüme: Nina Wetzel, Video: José Miguel Jiménez González, Sounddesign: Kevin Gleeson, Dramaturgie: Nils Haarmann, Licht: Norman Plathe.
Mit: Thomas Bading, Moritz Gottwald, Jenny König, Nina Kunzendorf, Mark Waschke, Stimme: Bush Moukarzel.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de 
www.deadcentre.org

 

Kritikenrundschau

Ulrich Seidler schreibt in der Berliner Zeitung (online 25.4.2018): Shakespeare stecke an diesem Abend offenbar" in einer künstlerischen Krise und lege die Szenen "eher lustlos an" oder breche sie "notfalls" ab. Bald werde dem Fädenzieher klar, dass alle Lebenslinien gleich endeten, "was ein dickes Wozu nach sich zieht". Das Geschehen löse sich nach einigen Szenen aus Shakespeares "Sturm" auf. Nach hundert Minuten bleibe die Frage: "Ist es in dieser rettungsbedürftigen Welt zu rechtfertigen, auf einer Wohlstandsinsel Theater zu spielen?" Es mache die Sache nicht besser, wenn es sich dabei um "Selbstabschaffungstheater" handele und die Spieler in dem "trickreichen Arrangement" kaum zum Spielen gekommen seien. Der Abend fühle sich an wie eine "Trockenübung" und lasse tatsächlich Zweifel an "den metaphysischen Fähigkeiten des Theaters" aufkommen.

Nadine Kreuzahler schreibt auf der Website von RBB 24 (online 25.4.2018): Während die Schauspieler vorne spielten, ließen sich ihre Bewegungen gleichzeitig auf der Leinwand verfolgen "wie bei Google Maps – als kontrollierbare blaue Punkte, Linien und Zielmarkierungen auf einer Karte". Auch das sei Thema in "Shakespeare’s Last Play": "Kontrolle über das Spiel, über sein Werk, aber auch Kontrolle heute mit Überwachungstools und dem Internet". Es sei ein Spiel mit "übereinandergeschichteten Meta-Ebenen". Warum überhaupt noch Shakespeare? Diese Frage sei nur eine von vielen. "Was kann und will das Theater heute erzählen? Und: Wie Position beziehen zu dem, was draußen in der Welt passiert?" Manchmal sei das Stück "allzu überdeutlich" in seinem Anliegen. Es wolle viel und stoße "ein Fenster nach dem anderen" auf. "In seinen besten Momenten bringt es diese Vibrationen dann zum Schwingen. Meistens ist es aber einfach ein unterhaltsames, lustiges Spiel mit verschiedenen Ebenen."

Als "a witty and irreverent version" von Shakespeares "Der Sturm" erscheint diese Produktion A. J. Goldmann von der New York Times (2.11.2018). "The directors Bush Moukarzel and Ben Kidd have eliminated the play's three most interesting characters — Prospero, Caliban and Ariel — and concentrate instead on the supporting cast that Shakespeare moves around like pawns on a chessboard."

 

 

Kommentare  
Shakespeare´s Last Play, Berlin: ging die Luft aus
Der zweite Teil des Abends gerät zur großen kannibalischen Leichenfledderei, nachdem alle Spielerinnen und Spieler brav gestorben sind und sich als Zombies an Shakespeares Gruft versammeln. Inspririert von Michel de Montaignes „Über die Menschenfresser“ (1580) machen sie sich über Shakespeares Leiche her und spielen sich gegenseitig die Meta-Theater-Bälle zu: Was soll eigentlich dieses ganze klassische Einfühlungstheater? Was haben uns Shakespeares Stücke überhaupt noch zu sagen? Ist es nicht zynisch, den märchenhaften Klassiker über Verliebte und Gestrandete auf einer fiktiven Mittelmeerinsel zu spielen, während in Lampedusa die Leichen der Bootsflüchtlinge an den Strand gespült werden, fragt Mark Waschke.

Nach und nach stecken alle fünf ihren Kopf in den Sand, der am Rand des Planschbeckens aufgetürmt wurde, dessen Inhalt auch bis in die erste, mit Regencapes bewaffnete Reihe spritzte. Der launige Metatheater-Abend der irischen Gruppe, die in den vergangenen Jahren bereits zu drei Gastspielen beim FIND-Festival eingeladen wurde, entlockte dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble ein Schmunzeln und erntete freundlichen Applaus, hatte aber auch sichtlich damit zu kämpfen, dass ihm über die Strecke von 105 Minuten sichtlich die Ideen und die Luft ausging.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/04/24/shakespeares-last-play-harmloses-metatheater-zum-schmunzeln-an-der-schaubuehne/
Shakespeare’s last play, Berlin: Möglichkeitswelten
Der Abend ist voller Fragezeichen. Er spricht von der befreienden Kraft des Theaters, das uns Welten, Alternativen, Leben vorstellen lässt, die uns sonst nie in den Sinn kommen. Und das doch einengt, kontrolliert, navigiert, uns dahin bringt, wo es uns haben will. Er erzählt von der Ambivalenz des Erzählens, von seiner diktatorischen Macht, dem Zwang des Narrativs, der Rolle, der Vorbestimmung. Er handelt von gesellschaftlicher Kontrolle, von Überwachung und dem Wunsch auszubrechen. Und davon, wie schwer , wie unmöglich es scheint, diese zu verlassen, das Narrativ hinter sich zu lassen oder gar ein neues, eigenes zu schreiben. Wenn am Schluss die imaginierte welt wieder verschwindet, bleibt Leere. Die Figuren sind verschwunden und doch noch da. Untote, gefangen zwischen Buchdeckeln und in Regisseurs- und Zuschauerhirnen. Und auf den Sitzen letzterer. denn auch wie sind nur blaue Trackingpunkte auf der Karte unserer Welt. Fremdbestimmte, Kopf-in-den-Sand-Stecker. Ein düsteres Bild. Und doch auch ein heiteres. Denn Shakespeare’s Last Play kennt auch die subversive Kraft des Lachens, den rebellischen Akt der Lächerlichkeit, der Macht in Frage stellt, straucheln lässt und ihren Umsturz zumindest denkbar macht. Während und indem sich die Erzähl-, Denk-, Imaginationsebenen ineinander verknäueln, sie miteinander spielen und sich gegenseitig in den Schwanz beißen und auf die Füße treten, entstehen Zwischenräume, Möglichkeitswelten. Nur hereinspaziert. es mag dunkel darin sein. oder ganz hell.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/04/25/funf-figuren-suchen-keinen-ausweg/
Shakespeare's Last Play, Berlin: die Frau?
Wer war "die Frau von Shakespeare"?
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