Seelenkrämer auf Zehenspitzen

von Nikolaus Merck

Berlin, 6. Mai 2007. ICH! Das erste leidenschaftlich gebrüllte Wort ist auch das Hauptwort des Abends. Hans Löw als Werther wandert schon ruhelos vor dem Beginn. Tut tiefe Schnaufer, schaut beseligt umher, wippt auf Zehenspitzen mit der Seele. Werther trägt weiß, einen roten Rollkragenpulli unterm Hemd, spitze braune Schuh. Und Werther spricht.

Spricht Worte, die er wie glitzernde Eiswürfel auf der Zunge balanciert und plopp, plopp aus dem Mund hüpfen lässt. Worte von empfindsamer Delikatesse, die wie Scheinwerfer ihr Licht zurück werfen auf den Sprecher und seine Selbstherrlichkeit.

Hans Löw als das gefühlskraftmeierisches Egomonster ist ein Ereignis in Jan Bosses Bearbeitung der "Leiden des jungen Werther". Bei Goethe schreibt Werther Briefe an die Lieben, im Gorki Theater spricht er zum Publikum, zieht es wie im intimen Gespräch ins Vertrauen. Löw zielt mit Zeigefingern auf seine Schläfen, kratzt sich am Knie und lässt seine großen Hände ausgreifen, sich aneinander festhalten und die Eiswürfelworte wie auf einem Silbertablett darreichen.

Der Empfindlichkeitsklimbim klingt wie von heute

Und dieser Werther-Löw kann wirklich die tollsten Platitüden zum Besten geben, "Oh, was ist der Mensch, dass er sich beklagen darf?", er streut einfach ein bisschen Wort-Kehrricht zwischen seine Innigkeiten, ein paar "Ja" und "also", und der ganze Empfindsamkeitsklimbim klingt wie von heute, irgendwo zwischen elaboriertem Johannes Kerner und mittelmäßigem Handke-Imitat.

Wenn Löw genug gegriffen, geschaut und Worte hat kullern lassen, trifft ihn der Blitz. In Gestalt der jungen Dame in Reihe fünf. In Gestalt von Fritzi Haberlandt. Die spielt die weiß gestiefelte Lotte als eine ihrer patenten Mädchenfiguren. Gutherzig, fast ein wenig zu praktisch in Herzens- und Seelendingen, etwas ungeschickt auch, immer ein wenig wie bestellt und nicht abgeholt.

Außer Worte sprechen und mehr oder weniger kostbare Gefühle haben, geschieht nicht viel. Äußerlich. Bei Goethe. Bei Bosse erscheint Albert. Ronald Kukulies trägt Jeans, rosa Hemd, Pistole im Hosenbund. Da weiß man schon, aber man täuscht sich. Kukulies mit Proletengestus ("Ich bin hier der Verliebte, ja, ha ha!") spielt einen Albert, der sich bemüht, Rücksicht zu nehmen auf die zerquälte Seelenlage des Werther. Als er damit nicht ankommt, macht er ein anderes Angebot. Er schleppt einen Dreisitzer auf die Bühne, wenn schon kein richtiges Lieben im falschen, dann wenigstens ein bequemes Sitzen? Wie dieser Kukulies-Albert mit Knautsch-Gesicht und einer Frisur wie in Bier gebadet als zusehends entnervter Elefant durch den wertherschen Gefühls-Porzellanladen trampelt, ist das andere Glück des Abends.

Die beiden Seelen in der Brust des Mannes

Jan Bosse kippt die Innigkeits-Show des Werther in die alte Geschichte von der Frau zwischen zwei Männern. Eine Geschichte von unbegrenzter Haltbarkeit. Im Grunde geht in dieser Situation nichts mehr. Im Leben. Auf der Bühne schon. Jan Bosse benutzt einen Kunstgriff. Er gibt Albert Texte von Werther. Womit Kukulies’ zunächst so bräsig auftretender Klotz je länger, je mehr zum verzweifelt liebenden Gesell sich aufschwingt, der gar nicht weiß, wie sein Leid und sein Glück mit der Alltagsvernunft in Übereinstimmung und das Ganze auch noch in Worte zu bringen wäre.

Es sind die Leistungen der Schauspieler, die diesen Abend sehenswert machen. Natürlich: Goethe betrieb Seelenphysiognomie auf hohem Niveau, sein Typus des in sich selbst verliebten Innigkeitsungeheuers steht bis heute im Kurs. Aber das war bekannt. Selten indes bekommt man so präzise die beiden Seelen in der Brust des Mannes vorgeführt wie von Hans Löw und Ronald Kukulies. Hie der Literatur liebende, in Gottes freier Natur herum fuhrwerkende Schöngeist, kinderlieb, aber wenig lebenstauglich; da der alltagspraktische, vernünftige, leicht gefühlsautistische Heimwerker. Und dazwischen, sie weiß gar nicht, wie ihr geschah: die Frau. Bei Bosse gerät das zu intelligentem Unterhaltungstheater mit Extrapfiff.

Zuletzt muss Albert vor Werthers selbstischem Rasen, das nicht und nicht enden will, verstummen. So bleibt der Schluss wieder dem Konkurrenten. Der tritt ein Loch in den nur scheinbar eisernen Vorhang und geht sich erschießen. Albert spricht den Epilog, aus Lottes Auge kullert eine Träne. Jubel und Bravo-Rufe.

 

Die Leiden des jungen Werther
von Johann Wolfgang von Goethe
Für die Bühne eingerichtet von Andreas Koschwitz und Jan Bosse
Inszenierung: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn.
Mit: Fritzi Haberlandt, Hans Löw und Ronald Kukulies.

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