Durch den Distinktionsdschungel

von Mirja Gabathuler

Zürich, 27. April 2018. Klassenkampf in Wohlfühlrosa? Ja, zumindest zu Beginn von "Café Populaire" ist die Bühne des Zürcher Neumarkts – verkleinert auf eine schmale Box – in pastelliger Wes-Anderson-Optik gehalten. Wes Anderson ist der Filmregisseur, über dessen tolles Frühwerk man sich gerne einig ist, im Stück wie wohl auch im Publikum. Zumindest, wenn man einer bestimmten Klasse angehört. Wer glaubt, der Klassenbegriff sei nun wirklich überholt, den lässt Nora Abdel-Maksoud im Verlauf ihres Stücks genüsslich auflaufen: Ihre beißende Satire speist sich aus dem alltäglichen Hickhack zwischen sozialen Klassen, die weiter existieren – auch wenn die Figuren auf der Bühne das Gegenteil behaupten.

Hospizclown und Dienstleistungsproletarier

Drei prototypische Bewohner eines prototypischen Kleinstadt-Kaffs namens Blinden stehen dort aufgereiht: Svenja, die Bildungsbürgerin mit Kunststudium, konsumbewusst und kulturaffin, "zivilisiert, gebildet und konfliktfähig", schraubt on- und offline an ihrem Durchbruch als Wortwitzbold. Bis es so weit ist, gibt sie als Hospizclown ihre mit Political Correctness überfrachteten Scherze zum Besten. Ihr Publikum besteht aus acht Abonnenten auf Youtube, den Aufgebahrten im Leichenraum und der frotzelnden Heimbewohnerin Püppi.

Püppi, die Altlinke, sucht seit dem Tod ihres Mannes nach einem neuen "bolschewistischen Stahlarbeiter mit revolutionärem Tatendrang". Und dann ist da noch Aram, der als Inbegriff des "Dienstleistungsproletariats" hinhalten muss. Der Mann für alles im Dorf: Postbote, Putzmann, Kellner, Masseur, Uber-Fahrer, Amazon-Angestellter – sowie bald Papa und daher verzweifelt auf der Suche nach einer neuen Bleibe. Kein Wunder wird er hellhörig, als der Gasthof "Zur Goldenen Möwe", inklusive Wirtswohnung, einen neuen Besitzer sucht.

CafePopulaire 1 560 BarbaraBraun uBleiben alle erst mal schön im Klassen-Rahmen: Maximilian Kraus als Aram, Eva Bay als Svenja und Marie Bonnet als Der Don © Barbara Braun

Aber auch Svenja wittert ihre Chance: sie will die "Möwe" zu ihrer Bühne machen. Blöd nur, dass eine innere Stimme namens "der Don" dazwischenfunkt und ihr unkontrolliert das Wort entreißt. Ihr Alter Ego, ein bourgeoiser Schnösel ohne soziale Scham, der arme Menschen hasst, die "Assi-Prolls" aus der "Unterschicht" nicht verstehen will, sondern verachtet und Blinden "sozial entmischen" will: Ab in die Agglo mit dem Proletariat!

Großartig sind die Szenen, in denen der Don aus Svenja herausbricht. Das liegt am herrlich wandelbaren Widersacherinnen-Gespann Eva Bay und Marie Bonnet: Das Timing stimmt perfekt, das Zusammenspiel funzt, das Hin-und-Her zwischen nettem Naivchen und geiferndem Wutbürger gelingt im Sekundentakt. Ebenso viel Freude macht es später zuzusehen, wie Simon Brusis sich während einer von Püppis Tiraden plötzlich selbst in Rage redet. Schauspielerisch sitzt an diesem Abend jede Geste und jeder Gesichtsausdruck.

Bissige Pointen in alle Richtungen

Regisseurin Nora Abdel-Maksoud war Schauspielerin, bevor sie zu schreiben und zu inszenieren begann. Ihre Stücke wie Kings am Ballhaus Naunynstrasse und "The Making-of" am Maxim Gorki – für das sie die Fachzeitschrift Theater heute vergangenes Jahr als beste Nachwuchsregisseurin kürte – sind humorvolle Abrechnungen mit dem Dunstkreis der Kreativen und Kunstaffinen. "Café Populaire", ihr erstes Stück am Theater Neumarkt, knüpft daran an. Niemand wird hier geschont, in alle Richtungen werden bissige Pointen abgefeuert: Unterschicht versus Oberschicht, Cola schlürfende Hartz-IV-Bezieher versus versnobte Cüpli-Sozialisten.

CafePopulaire 2 560 BarbaraBraun uUnten versus Oben in fröhlichem Schlagabtausch: Eva Bay als Svenja, Maximilian Kraus als Aram und Simon Brusis als Püppi © Barbara Braun

Entsprechend viel wird gelacht: Über das süffisante Sätzchen "Stimmt so", mit dem Svenja Aram Trinkgeld zusteckt, um sich danach selbst für ihre Großzügigkeit zu loben. Über den Horror in Svenjas Gesicht, als Aram ihr gefüllte Eier anbietet – und aus ihr herausplatzt: "Sie töten doch männliche Küken!" Über Dons Seitenhiebe in Richtung derer, "die das Kallax-Regal von Ikea praktisch und nicht hässlich finden" und Geschmack an der Größe von Flatscreens ablesen. Über die riesige Arm-Reich-Plüschschere, die Püppi liebkost, während sie besoffen Revolutions-Plattitüden aneinanderreiht.

Klingt nach vielen Klischees? Ja, richtig. Aber... Man will an dieser Stelle nicht zu viel verraten, denn das Stück lebt gerade davon, dass es dem Publikum das Gefühl lässt, alles zu durchschauen, Altbekanntes wiederzuerkennen – um ihm dann doch immer eine Wendung voraus ist, einen Schritt weiter wagt. Das macht den Abend nicht nur kurzweilig und sehr lustig, sondern auch wahnsinnig klug und vertrackter, als man zu Beginn denken könnte.

Macht es euch nicht zu gemütlich

Das Stück spielt mit der Bequemlichkeit des Publikums und trifft dabei so oft ins Schwarze, dass man sich am Ende des Abends nicht nur gut unterhalten, sondern auch unangenehm getroffen – sogar betroffen – fühlen kann. So entwaffnend wie entlarvend ist der Humor, der sich aus präziser Beobachtung speist. Aber das Theater schwingt sich hier nicht zur moralischen Anstalt auf, sondern meint immer auch sich selbst, wenn es im Medium der Satire zur spitzzüngigen Gesellschaftskritik ausholt.

Man lacht auch, weil sie erleichtert, diese Selbstironie – das Lachen über Quinoa-Salate und recyclierbare Coffee-to-Go-Becher, über die allzu bekannten Statussymbole, Meinungsfaulheiten und beiläufige Arroganz. Es gibt kein Entkommen aus dem Distinktionsdschungel der Abgrenzungsneurosen, so die Botschaft des Abends. Sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, ist eine halbwegs gute Ausflucht. Aber auch nicht mehr.

Die letzte von Svenjas "Punchlines" ist denn auch wortwörtlich gemeint: als Schlag in die Magengrube des Publikums. Ein letzter Treffer in diesem Stück, das von Hieben nach allen Seiten nur so strotzt – und das man trotzdem gleich noch einmal über sich ergehen lassen will.

 

Café Populaire
von Nora Abdel-Maksoud
Regie: Nora Abdel-Maksoud, Bühne und Kostüm: Moïra Gilliéron, Musik: Enik, Dramaturgie: Inga Schonlau
Mit: Eva Bay, Marie Bonnet , Simon Brusis, Maximilian Kraus
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

Einen Heidenspass mache sich Abdel-Maksoud mit fehlendem Klassenbewusstsein, schreibt Tobias Sedlmaier in der Neuen Zürcher Zeitung (30.2.2018). Es tobe hier ein Klassenkampf "in einem Mikrokosmos, der bezeichnenderweise Blinden heisst. Objekt der gemeinsamen Begierde ist der Gasthof Zur Goldenen Möwe, der einen neuen Besitzer sucht." Für die einsam herumalbernde Hospiz-Clownin Svenja ein Lichtblick. "Café Populaire" setze auf die Vielseitigkeit und Überdrehtheit seiner Schauspieler, "die allesamt Klischeerollen spielen und diese zugleich brechen müssen". Fazit: Der Abend zwinge zur Selbstbeobachtung, "ob die eigene, aber ebenso die theatrale Wahrnehmung von sozialer Realität nicht trügerisch" sei.

"Die Schauspieler lassen den Text an der Rampe knallen, als wärs ein pointengespicktes Politkabarett", so Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (30.4.2018). "Stopp: Es ist ein pointengespicktes Politkabarett! Ein satirischer Szenenreigen über die mittlere Armut und den Durchschnittsreichtum in Deutschland", heißt es weiter. Die "scharfe Chose der 35-jährigen Abdel-Maksoud" sei derzeit "etwas vom Witzigsten, was auf hiesigen Bühnen läuft". Das sei durchaus eine Ansage.

"Arme Leute erkenne man in der Schweiz daran, dass sie aussähen, wie in Deutschland die Grundschullehrer aussehen" – das ist nur einer der viele bösen Pointen dieses Abends, den auch Charlotte Theile in der Süddeutschen Zeitung (9.5.2018) gutzufinden scheint. Der Austausch der vier Schauspieler pendle "zwischen schmerzhaft wahr und wahnsinnig komisch". Klassenkampf, Generalstreik und Ruß im Arbeitergesicht? "Ein verlorener Kampf, selbst in einer deutschen Provinz. In der Schweiz jedoch, wo es nie ein Proletariat gab, wirkt das Ganze noch absurder. Sich arm rechnen, für ein Gasthaus, irgendwo in der Pampa? Zum Schreien."

Katja Kollmann von der taz (7.6.2019) sah den Abend beim Gastspiel auf den Autorentheatertagen des DT Berlin und ist begeistert: "Die Satire nimmt in diesen wie im Flug vergehenden 90 Minuten beständig zu und damit auch die Selbstbespiegelung des Publikums. Die Selbstironie der Lacher wächst, die helle Freude am Theatergenuss bleibt."

 

Kommentare  
Café Populaire, Zürich/ATT Berlin: zu viele Haken
Wie aus Abdel-Maksouds früheren Arbeiten am Ballhaus Naunynstraße und im Studio des Gorki -Theaters gewohnt, spielt sie auch in ihrer bösen Farce „Café Populaire“ lustvoll mit Klischees, ballert Kalauer und Pointen in hoher Frequenz raus und schlägt nach unterhaltsamem Beginn doch wieder deutlich zu viele Haken.

Der Abend lebt vor allem vom komödiantischen Zusammenspiel von Bay als Svenja mit Marie Bonnet als ihre innere Dr. Jekyll/Mr. Hyde-Stimme Don. Svenja ist stolz auf ihre bildungsbürgerliche Herkunft und ihre tolerante Haltung ist, mangels Talent aber daran scheitert, ihren Traum von der Entertainer-Karriere zu verwirklichen. Dem Kanal mit ihren platten Witzchen folgen aus guten Gründen nur acht Abonnenten. Ihr Alter Ego poltert plötzlich los und macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für Arbeitslose, sozial Schwache, „faule Schmarotzer“, Bewohner von Vorortsiedlungen und alle, die die Codes und Geschmackssicherheit des Bildungsbürgertums nicht beherrschen.

In der ersten halben Stunde ist dies durchaus amüsant, auf die Dauer aber zu eindimensional und ermüdend. Als Side-Kicks wirken außerdem noch Simon Brusis als alternde „Püppi“ und Maximilian Kraus als Aram, das vermeintliche personifizierte Dienstleistungs-Prekariat, mit.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/06/06/cafe-populaire-theater-neumarkt-kritik/
Café Populaire, Zürich/ATT Berlin: hochkomisch & ungefiltert boshafte
Nora Abdel-Maksoud macht die Bühne mittels Lichtbalken immer wieder zum Video- und Split-Screen, lässt die, die gerade nicht im Licht stehen, erstarren – nur wer Öffentlichkeit hat, existiert, „die im Dunkeln sieht man nicht“. Hebt der Abend noch recht gemächlich an, wie eine milde Satirenummer in einem ambitionierten Kabarett, gewinnt er schnell an Fahrt, steigert sich hinein in ein Crescendo an Wendungen, die zu kontrollieren das ultimative Ziel und der direkte Weg zur Macht ist. Genüsslich werden klassistische Wahrheiten hinter pseudo-wokem Toleranzgeschwafel aufgedeckt und vorgeführt, wie sehr das bürgerliche „Gutmenschentum“ oft noch vom Zwang sozialer Distinktion bestimmt ist. Man kann sich nur solidarisch zeigen, so lange man sich überlegen fühlt – tut man dies nicht mehr, wird es sehr schnell sehr hässlich. Wie stets bei Abdel-Maksound geschieht das in einer Mischung aus Frontalerzählung und Spiel, wobei die Gleichzeitigkeiten, die Mehrfachebenen ihrer Berliner Arbeiten etwas fehlen. Hier passiert immer nur eines, Narration oder Spiel, Repräsentation oder metatheatrale Illusionsdurchbrechung. Wo in The Making-of und The Sequel das filmische Handwerk als Mittel der Manipulation thematisiert wurde, ist es hier das Als-ob des Theaters. Die Spieler*innen hadern mit ihren Rollen, ihrem Text, der eindeutigen Moral des zu Spielenden, wissend um den Safe Space, in dem sie sich bewegen.

„Warum man hier so gut Witze über Arme machen kann?“, fragt Bay ganz am Schluss. „Weil sie sich die Karte eh nicht leisten können!“ So endet der Abend mit einem Zynismus, der an Ehrlichkeit nicht zu überbieten ist. Zuvor hatte Svenja, die irgendwann den „Don“ rechts überholt, Spielideen wie „Studieren oder Frittieren“ vorgeschlagen, die den Bildungsnachteil sozial weniger Privilegierter – ebenso deutlich gemacht durch die Danksagung der Protagonistin an alle, die sich ihren Bildungsweg nicht leisten konnten und ihn dadurch erst möglich machten – sichtbar werden lassen sollen. Café Populaire reißt denen, die sich da im Zuschauer*innen-Saal versammeln, die Maske herunter, wissend, dass die Selbstrechtfertigungen ihre Arbeit tun und den Spiegel, der hier vorgehalten wird, als Portrait aller anderen oder bestenfalls als milde Kritik und Aufforderung, noch toleranter und aufgeklärter zu werden, uminterpretiert werden. Das ist schon eingepreist, die Unfähigkeit, wirklich etwas zu ändern, mitgedacht und thematisiert in den lustlos resignierten Momenten des Aus-der-Rolle-Fallens. Wenn am Ende nur ein zunächst nicht bemerktes Stachelchen im Fleisch stecken bleibt, bei der einen oder andere Spitze ein wenig Unwohlsein aufkommt, wäre schon viel gewonnen. Und vielleicht entzündet sich die geschlagene kaum sichtbare Wunde ja irgendwann. Ein Pflaster hat dieser hochkomische, stets unterhaltsame und ungefiltert boshafte Abend jedenfalls nicht zu bieten.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/06/06/studieren-oder-frittieren/
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