Der Kapitalismus als Chance

von Stefan Schmidt

Hamburg, 29. April 2018. Genies haben es schon schwer in dieser weichgespülten Welt. Überall Mittelmaß, Manipulation und Mutlosigkeit. Angst treibt die bräsigen Massen in die fragwürdigen Segnungen des Sozialstaats – anstatt dass diese Leute ihre Schicksale selbst in die Hand nehmen. Und wo bitte bleibt die Anerkennung schöpferischer Selbstbestimmtheit?

In den knapp vier Stunden, die Regisseur Johan Simons für seine Bühnenversion des Romans "Fountainhead" am Hamburger Thalia Theater braucht, wird wohl auch noch für den Letzten klar, warum die russisch-amerikanische Autorin Ayn Rand zu den großen Vordenkerinnen des modernen Wirtschaftsliberalismus in den USA gehört. Was ihre aus deutscher Sicht reichlich radikalen Thesen angeht, tanzt sich die Inszenierung dabei munter meinungslos aus der Affäre.

Fountainhead 560 Krafft angerer hLangsam abtauendes Eis als Projektionsfläche: die Bühne von Stéphane Laimé © Krafft Angerer

Zugegeben: Schauspieler Jens Harzer macht das ganz wunderbar, aasig arrogant wie so oft. Er gibt das von allen bekämpfte Architektengenie Howard Roark, den Mann, der sich höchstens aus finanzieller Not ausnahmsweise mal Konventionen beugt, der schon seinen Professoren zu freigeistig war, der es gar nicht einsieht, Häuser so zu bauen, wie es die Leute wollen, und dem der Hass und das Unverständnis der anderen auch noch egal sind. Eine lebende Provokation. Und am Ende doch auch nur ein selbstverliebter Schwätzer, der sich in Dauerschleife selbst überhöht, sich in eine Reihe mit dem ersten Bezwinger des Feuers und dem Erfinder des Rades stellt, die beide von der (ignorant undankbaren) Gesellschaft umgebracht worden seien. Das Genie als Opfer betrachtet. Marina Galic als Dominique, Roarks weibliches Gegenstück im Volksfeinddasein, dreht zu diesem finalen Geschwafel lässig ironisch eine Schallplatte von links nach rechts und zurück. Da – endlich – emanzipiert sich die Inszenierung von ihrer Stoffvorlage, und Jens Harzer kann mit ausladenden Gesten in die Freiheit (und in den Feierabend) swingen.

Abgrundreiche Versuchsanordnung

Vorher macht der Regisseur in erster Linie konsequent das, was er wohl am besten kann: Johann Simons ist ein großer Geschichtenerzähler, und an diesem Abend stürzt er sich mit spürbarer Lust von einem menschlichen Abgrund zum nächsten. Wie in einer Versuchsanordnung werden nach und nach unterschiedliche ideologische Typen miteinander konfrontiert und auf ihr reaktives Potential miteinander überprüft. Da lässt es sich gut und gespannt zuschauen.

Die Architekturkritikerin Dominique etwa arbeitet sich von Mann zu Mann vor. Im Prinzip sind ihr alle gleichgültig (wie ihr Menschen insgesamt egal sind) – außer Howard Roark, der sie entjungfert, indem er sie vergewaltigt, den sie Gegner nennt und in dem sie doch eine ähnliche (latent zerstörerische) Leidenschaft spürt wie in sich selbst. Ein skrupelloses Paar wie das Killerduo "Bonnie and Clyde" bei Serge Gainsbourg, dessen gleichnamiger Song zwischendurch anklingt.

Fountainhead1 560 Krafft Angerer hZwei Volksfeinde mit zerstörerischer Leidenschaft: Jens Harzer mit Marina Galic  © Krafft Angerer

Schauspielertheater auf höchstem Niveau

Dominiques erster Ehemann wird gleichwohl Peter Keating, ein erfolgreiches, weinerliches Mamasöhnchen. Der weißblondierte Jörg Pohl zeigt in dieser Rolle, wie facettenreich und unterhaltsam ein langweiliger, karrieristischer Schleimer auf der Bühne sein kann. Endgültig am Boden ist dieser Mann, als Dominique zu Ehemann Nummer zwei wechselt, dem Medientycoon Gail Wynand, dessen Skrupellosigkeit Schauspieler Sebastian Rudolph mit unerwarteten, aber überzeugend weichen Zügen kontrastiert.

Überhaupt ist es dem starken Ensemble und einer sensiblen Schauspielerführung zu verdanken, dass die Figuren nicht in ihren Schubladen steckenbleiben. Grandios etwa die Sexszenen zwischen der nuanciert kühlen, unterschwellig verletzlichen Marina Galic und den Männern des Abends: Jens Harzer wirbelt sie artistisch um seinen Körper, vor Jörg Pohl muss sie sich den Slip ausziehen und ihm ins Revers stecken, damit überhaupt etwas passiert, und Sebastian Rudolph versucht sich ihr zu entziehen, erliegt aber den offensichtlich manipulativen Verführungskünsten dieser verhärteten Femme Fatale. Das ist Schauspielertheater auf höchstem Niveau!

Auch das Bühnenbild macht – bei aller Reduziertheit – einiges her: Vor die kahlen, schwarzen Backsteinwände im Thalia Theater hat Stéphane Laimé ein großes beigefarbenes Podest gebaut, das ein Zementsockel sein könnte, darauf ein überdimensionierter Plexiglastisch auf Metallbeinen, umgeben von Werkstoffplatten unterschiedlicher Farben und Beschaffenheiten auf Rollwägen, die dem Ensemble als Sitz-, Liege-, Spiel und Ruheflächen dienen. Keine Schnörkel, keine Verzierungen, sondern pure, funktionale Materialien, ganz im Sinne des architektonischen Modernisten Howard Roark. Der Clou des Ganzen ist die Leinwand im Hintergrund, auf die unter anderem Kapitelüberschriften projiziert werden. Sie entpuppt sich als Eisfläche, die beständig tropft und nach und nach krachend in sich zusammenfällt. So wie die Lebenslügen der Figuren immer brüchiger werden - und damit auch die Gesellschaft, in der sie leben, sobald das unbarmherzig gleißende Scheinwerferlicht eines Howard Roark darauf fällt.

Mehr Raum für Haltung

Diesen Clash zwischen dem progressiven Einzelnen und seiner ignoranten Umgebung erzählt Johan Simons hier wesentlich lebendiger und weniger formalistisch als vor anderthalb Jahren an gleicher Stelle mit dem Schimmelreiter. Sein "Fountainhead" könnte aber noch stringenter sein, wenn er aus der ansonsten überzeugenden Bühnenbearbeitung des Stoffes durch den belgischen Dramaturgen Koen Tachelet noch die eine oder andere Tirade gegen Konzepte wie Altruismus, Selbstlosigkeit oder den sozialen Wohnungsbau gestrichen hätte – denn irgendwann hat man's wirklich verstanden. Das hätte dem Abend wohl auch einzelne Längen erspart – und vielleicht mehr Raum für Haltung gegeben. Wirklich genial war's so nämlich nicht.

 

Fountainhead
von Ayn Rand
In einer Bearbeitung von Koen Tachelet
Regie: Johan Simons, Bühne: Stéphane Laimé, Kostüme: Maria Roers, Video: Simon Janssen, Dramaturgie: Susanne Meister
Mit: Alicia Aumüller, Christoph Bantzer, Marina Galic, Jens Harzer, Matthias Leja, Jörg Pohl, Sebastian Rudolph, Steffen Siegmund, Marina Wandruszka, Tilo Werner.
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Nüchtern analysiert stecke Ayn Rands Philosophie voller kruder Denkfehler, "aber als Seligsprechung des radikalen Neoliberalismus gilt Ayn Rands Literatur heute trotzdem als bedeutender Roman", schreibt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (3.5.2018).  Das große Finale des Buches ist Howard Roarks Plädoyer vor Gericht. "Bei Johan Simons wird diese finale Brandrede überraschend lapidar dahingesagt." Die Schauspieler seien ausnahmslos engagiert darin, ihren Papiergestalten Leben und Ambivalenz einzuhauchen. Simons jedoch "verfällt der Dramaturgie von Ayn Rands Klassenkampf der Talente, anstatt die feindselige Ideologie, die sie entwickelt, zu zerpflücken". Gegen den dumpfen Antagonismus von Schöpfer und Parasit, "den Simons getreu der Vorlage herstellt, wünschte man sich an diesem sehr langen Abend doch irgendwann, Frank Castorf hätte das Stück inszeniert".

"Ver­steht man ame­ri­ka­ni­sche Po­li­tik, wenn man 'Foun­tain­head' sieht?", fragt sich Peter Kümmel in der Zeit (3.5.2018) und antwortet: "Das Pro­blem an Jo­han Si­mons’ In­sze­nie­rung be­steht dar­in, dass er dar­auf kei­ne Ant­wort ge­fun­den hat. Man be­greift nicht, wel­che Ab­sicht der Re­gis­seur ver­folgt." Er will plau­si­bel ma­chen, war­um der Ro­man ein neu­es Le­ben auf der Büh­ne ver­diene. An­de­rer­seits muss er sich von der Ideo­lo­gie der Au­to­rin dis­tan­zie­ren. "Bei­des ge­lingt nur un­zu­rei­chend. So ist die­ser fast vier­stün­di­ge Abend, wenn man es wohl­wol­lend sa­gen will, die sorg­fäl­ti­ge Ver­spot­tung je­der Ideo­lo­gie."

Si­mons nehme sich mit fast vier Stun­den viel Zeit, um "Foun­tain­head" zu inszenieren, "ge­nau­er ge­sagt: ze­le­brier­en. In­ter­pre­tier­en wä­re na­tür­lich zweck­dien­li­cher ge­we­sen", schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.5.2018). We­der von der Dra­ma­tur­gie noch von der Re­gie her tue sich ge­nug, "um die­ses Buch mit sei­ner uti­li­ta­ris­ti­schen Welt­an­schau­ung, die aus­schließ­lich auf das Prin­zip Ego­is­mus setzt, vom ver­quas­ten öko­no­mie­be­sof­fe­nen Kopf auf die zi­vi­li­sa­ti­ons­kri­ti­schen Fü­ße zu stel­len". Die In­sze­nie­rung beschränke auf zu we­nig Ak­ti­on und zu viel De­kla­ma­ti­on. Fazit: Die Fi­gu­ren mä­ßig in­ter­es­sant, ih­re Mo­ti­ve sim­pel bis wirr, "die Schauspieler ar­bei­ten al­le ta­del­los an ih­ren Rol­len, brin­gen sie grund­so­li­de auf die Büh­ne, aber die In­sze­nie­rung bleibt stumpf, haus­ba­cken, trüb­se­lig".

Das "ständiges Abtropfen, das Wegbrechen der Eisbrocken wirkt während der gesamten Inszenierung erstaunlich kraftvoll und dauerhaft", so Werner Theurich auf Spiegel online (29.4.2018). Eine Ballung schauspielerischer Hochkompetenz könne sich das Thalia für die ungewöhnliche Produktion leisten. Flankierend zu Jens Harzers mitunter fast peinigend intensivem Psychogramm "wirken Sebastian Rudolph als Presse-Mogul Gail Wynand und sein sozial verträglicher Journalist Ellsworth Toohey (brillant: Thilo Werner) tapfer und stark." "Die Stärke der Inszenierung liegt im Umgang mit der Romanvorlage der in den USA immens populären Autorin Ayn Rand."

"Sehr klug, weil unverkopft", lautet die Überschrift zu Monika Nellissens Kritik in der Welt (30.4.2018). "Hochkonzentriertes, fantastisches, beinahe ausschließlich auf Dialoge setzendes Schauspielertheater." Eine kluge und höchste Aufmerksamkeit fordernde Lehrstunde über Theorien und Individuen, "die in ihren diametral entgegengesetzten Haltungen aufeinanderprallen. Das ist spannend zu verfolgen, bisweilen auch anstrengend, ganz selten langatmig. Großartig." Simons breche die Vorlage in teils komisch-groteske Szenen auf. Gespielt werde In einem Architektenbüro mit riesigem Glastisch, dort entwickele Simons eine "Versuchsanordnung, in der er Individuen gegen- und miteinander führt, bis zum lässig befreiten Ende. Großer Beifall".

 

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