Das 20. Jahrhundert in Kartons - Intendant Markus Dietze bringt das Stück der Koblenzer Hausautorin Deborah Kötting zur Uraufführung
Entrümpeln der Erinnerung
von Dorothea Marcus
Koblenz, 29. April 2018. Hier sieht es aus, als sei gerade ein nahes Familienmitglied gestorben – und wir müssten entrümpeln, wo wir gestern noch gemütlich Tee getrunken haben. Oben, fast unter dem Dach des Hauses, auf der Probebühne Zwei des schönen alten Koblenzer Theaters, hat das Produktionsteam die knarrend alten Dielen mit Perserteppichen belegt, den Raum vollgestopft mit Erinnerungsinventar und plüschiger Behaglichkeit: Lampen, viele Bilder, Paravents, Nippes, Grünpflanzen – und viele Kartons.
Es läuft ein Fernseher mit der Tagesschau, jeder Zuschauer setzt sich auf einen Sessel mit Bezeichnung, ich wurde zur "Frauenbewegung" gewiesen – ohne dass das eine Konsequenz gehabt hätte –, direkt vor das mahnende Bügelbrett. Zweifellos ein wichtiges Element im historischen Inventar des vergangenen Jahrhunderts, das zu beschreiben sich die junge Hausautorin des Koblenzer Theaters Deborah Kötting vorgenommen hat, einst selbst Bühnenbildnerin, Stadtschreiberin des Niederrheins und Absolventin des Studiengangs "Szenisches Schreiben" der Berliner Universität der Künste. Ihr Stück "Das 20. Jahrhundert in Kartons" hat nun der Intendant Markus Dietze persönlich uraufgeführt.
Warum bleibt nichts für immer?
Wie aus einer fernen Zeit kommen dann drei Schauspieler gesprungen: Raphaela Crossey, Jonas Mues, Magdalena Pircher tragen Anzug und altmodische Frisuren und sprechen poetische Gedankenfetzen, die der Raum evoziert, immer wieder zeigt ein düsteres Dröhnen an, dass letzte Rätsel nicht besprochen werden können. Sie stauben dabei geschäftig ab oder tragen hastig Umzugskartons hin und her. Manchmal sprechen sie die zarten Worte zu theatralisch und hervorgepresst – der Text von Kötting könnte mehr Beiläufigkeit vertragen.
"Das 20. Jahrhundert in Kartons" ist ein Auftragswerk des Theaters in Koblenz, wo sich mit dem Bundesarchiv auch das größte Archiv der Bundesrepublik befindet, was dem Stück seinen assoziativen Ausgangspunkt gibt. Es ist eher ein Gedicht als ein Theaterstück, in 22 Kapiteln, die da heißen: "Das Flüstern der Welt" oder "Das kleine Märchen vom Fortschritt", manchmal aber auch "Wollte den totalen Krieg". Sie versetzen den Zuschauer meditativ in eigene Lebensuniversen oder sind melancholische Abgesänge auf vergangene Zeiten. Sie sprechen davon, wie sich Räume mit Erinnerungen vollsaugen, die man jetzt entrümpeln muss. Dass man einst den Fortschritt bejubelte, dem man heute misstraut, dass einst langsam war, was heute in Gleichzeitigkeit rast: "Es geht senkrecht bergauf, zum Mond, zur Sonne."
Zeppelin, Nationalsozialismus, Ceran-Kochfelder reihen sich, eine Telefon-Ringelschnur konnte einst zum Erhängen benutzt werden, bis das Jahrhundert in letzter Kurve zur heutigen Extrem-Beschleunigung ausholte. "Warum bleibt nichts für immer?", fragt eine – außer Plutonium. "Es gibt kein Recht darauf, dass die Welt bleibt, wie sie ist", antwortet eine andere. Schön auch die traurige Beschreibung einer langen, alten Liebe in wenigen Sprachbildern: Dass man weiß, wie ein Mensch riecht nach dem Duschen, oder ein, zwei Tage danach. Dass man ihn sah, wie er aus dem Krankenhaus kam mit dem ersten, dann mit dem zweiten Kind, mit der ersten, mit der zweiten, dann mit der schlimmen Diagnose: kurz blühte das Leben, dann ist es auch schon vergangen.
Digitale Gegenwart und Retro-Sehnsucht
Manchmal wird es schulmeisterlich-moralisch, wenn es um dicke Bäuche in den Einkaufszonen Europas geht ("Überlegt sich das zehnjährige Kind, wer das T-Shirt trägt, dass es näht?"), manchmal ein wenig lächerlich, wenn überlegt wird, wohin eigentlich die vergessenen Erinnerungen verschwinden, als würden sie sich irgendwo im Zauberwald unter einen Baum legen. In einer Szene wird liebevoll eine alte Platte aufgelegt, man erwartet alte, knisternde Salonmusik – und es kommen Techno-Bässe, zu denen die drei Spieler zucken, zitternd, wie fremdbestimmt, winden sich: die neue Zeit kündigt sich an. Schön ist hier die seltsame Ambivalenz in ein Bild gebracht: der Wahnsinn der digitalen Gegenwart und wie er die Retro-Sehnsucht nach dem Alten befördert, die einerseits Pose und andererseits Ausdruck einer tiefgreifenden Überforderung ist. Kindheitseinnerungen an duftende Gärten und Pflaumenkuchen wechseln sich ab mit historischen Sätzen, die das kollektive Gedächtnis triggern: Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.
In einer Szene wird ein Erbe gemacht, ein Entrümpelungsunternehmen bestellt, ein potentieller Hauskäufer empfangen, der natürlich die ganze kranke Kondo-Cleanheit verlangt, keine Erinnerung darf bleiben. Ist Minimalismus menschenfeindlich? War der Körper eigentlich nur da, um das Internet zu erschaffen? Ist der Mensch dem Menschen ins Netz gegangen? Lieben wir das MacBook wie unser eigenes Herz? Erfrischend und überraschend springt der Text, schafft es, den Zuhörer in eigene Lebensgedanken zu verstricken, und wirkt doch manchmal auch hilflos, kitschig und kalauerhaft in seinem großen Versuch, alles zu sagen. Viel schöner wäre auch, die Schauspieler würden stärker mit den Zuschauern interagieren, die ja schließlich direkt neben ihnen sitzen, und die Texte leiser ans eigene Selbst lassen. Wir sitzen doch alle im gleichen Boot.
Schließlich werden die Kartons ausgepackt und man fördert mit Bildern und Gegenständen noch einmal alles zutage, was das Jahrhundert so mit sich brachte, und das ist wieder: alles und nichts. KZ und Kugelschreiber, Molotow-Cocktail und Mondlandung. Bis es dann doch ganz still endet: Bald wird das Meer kommen und alles zu einem Flüstern machen. Irgendwie tröstlich.
Das 20. Jahrhundert in Kartons
von Deborah Kötting
Uraufführung
Regie: Markus Dietze, Kostüme: Astrid Noventa, Mitarbeit: Helen Fischer, Deborah Kötting, Nathalie Thomann.
Mit: Raphaela Crossey, Jonas Mues, Magdalena Pircher.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.theater-koblenz.de
"Ein wunderbar leiser, dichter Abend", so Andreas Pecht in der Rhein-Zeitung (2.5.2018). Das zurückkaltende intensive Spiel motiviere aufmerksames Zuhören, dieses wiederum eröffne einen Denkpfad. Vom nostalgischen Schwelgen führe dieser Pfad auf die Ungeheuerlichkeiten eben dieser Zeit. Fazit: "Ständig verschmilzt der große Geschichtsbogen mit den kleinen Leben (...) eine kluge und schöne Theaterarbeit."
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