Raus aus der Komfortzone

von Jan Fischer

Hannover, 30. April 2018. Freies Theater wird ja immer interessant, wenn es sich etwas erlaubt, was in einem großen Haus nie funktionieren würde. Die Gewinnerproduktion der diesjährigen "Best Off"-Edition in Hannover zum Beispiel: "Welcome to the comfort zone" von der Gruppe xweiss wurde in drei Festivaltagen von gerade mal 40 Besuchern gesehen. Das ist weniger, als bei allen anderen Produktionen des Festivals für Freies Theater in einem Durchgang mit dabei sind.

Immersion in minimalistisch

welcome to the comfort zone 280 x weiss"Welcome to the comfort zone" von xweiss © xweissDass das Wort "gesehen" das falsche ist, um die Produktion zu beschreiben, ist das zweite, was sie sich erlaubt. Denn niemand sieht dort etwas, jedenfalls nicht mit den Augen – pro Durchgang werden drei Besucher mit Kopfhörern und blickdichten Brillen ausgestattet, und folgen, von drei Tänzerinnen durch den Raum geführt, der Geschichte, die durch die Kopfhörer erzählt wird. Die Tänzerinnen nehmen die Besucher an die Hand, führen ihre Hände durch Hitze, rotes Licht und die Gerüche von Gewürzen in Kisten voller Körner und zu zurückgelassenen Kuscheltieren, drücken beruhigend die Schulter, werfen sich auch schon einmal schützend über sie, wenn durch die Kopfhörer der Bombenangriff kommt.

Minimalistischer als in "Welcome to the comfort zone" geht Immersion nicht. Die Produktion, so formuliert es etwas staksig die Begründung der Jury, die aus Holger Bergmann vom Fonds Darstellende Künste, Dirk Förster vom LOFFT Leipzig und Sigmar Schröder vom Theaterlabor Bielefeld besteht, sei "eine Erfahrung, die weiter trägt, als die medialen Überforderungen mit den Bildern des Krieges."

Schon die Einladung ist ein Preis – und 10.000 Euro wert

"Welcome to the comfort zone" ist eine von sechs Produktionen, die auf dem dem alle zwei Jahre stattfindenden Best Off gezeigt wurden – 40 Produktionen aus Niedersachsen hatten sich beworben. Alle eingeladenen Produktionen bekommen 10.000 Euro alleine für die Einladung – die Gewinnerproduktion erhält noch einmal 5.000 Euro obendrauf.

Die diesjährige Auswahl ist eine, die sich durchaus politisch positionieren möchte – alle Produktionen umkreisen die Themen Flucht, Migration und Identität. In ihrer Abschlussrede formuliert Daniela Koß, die Leiterin des Festivals, dann auch explizit: "Die Frage, wie politisch Theater ist, ist von hoher Bedeutung" und ruft die Freien Theatermacher dazu auf, aus ihren Echokammern herauszugehen und die Diskurse zu Menschen die tragen, die nicht sowieso schon ihrer Meinung seien – raus aus den Städten, rein in die Provinz also. "Niedersachsen", sagt Koß, "ist ein Flächenland."

Im Güterwaggon bei Tee und Lahmacun

Am stärksten sind dabei die Produktionen, die sich auf ungewöhnliche Orte verlassen. Bei "Wir haben die Angst gefressen" der Gruppe "Das letzte Kleinod" ist es der Zug, mit dem die Gruppe Niedersachsen bereist, erweitert um einige Güterwaggons als Spielstätte, der an Gleis 11 des hannoverschen Bahnhofs Messe / Laatzen steht, so dass schon die Fahrt zum Spielort in der Regionalbahn ein wenig zu einem performativen Akt wird. Die Produktion besteht dann aus Geschichten von Geflüchteten, wie sie zwar schon oft erzählt wurden – Heimweh nach ruhigeren Zeiten, plötzlicher Kriegsausbruch, Folter, Flucht in dafür ungeeigneten Booten über das Mittelmeer – aber eben noch einmal bezeugt von syrischen Geflüchteten in der bedrückenden Enge der Güterwaggons. Die Erzählung driftet dabei oft in Pathos ab, das aber wieder aufgefangen wird vom Gesprächsangebot bei Tee und Lahmacun am Ende der Inszenierung.

Wir haben die Angst gefressen 560 Julia Kawka"Wir haben die Angst gefressen" vom Letzten Kleinod © Julia Kawka

Bedrückend eng geht es auch bei "Haus" von Operation Wolf Haul zu, eine Inszenierung nach einem Theatertext des US-amerikanischen Autors Daniel MacIvor. Die Inszenierung in dem sonst als Konzertraum und Kellerclub genutzten "Feinkost Lampe" ist eine verrauchte und dichtgehazerte Angelegenheit, das Publikum sitzt auf Klappstühlen und alten Sofas und spielt mit Modelliersand während die Darsteller Jakob Benkhofer und Tim Golla Theaterterrorismus im besten Sinne betreiben – laut, schwitzig, dem Publikum oft unangenehm nah. Und mit einem Text, der in Ton, Dynamik und mit seinen abgefuckten Protagonisten ein wenig an "Fight Club" erinnert, nur ohne Männlichkeitsposen.

Migrationsgeschichte in lustig

Eher schwächer fallen – erstaunlicherweise – die Produktionen aus, die im Theaterraum bleiben und dort versuchen, mit anderen Stimmen etwas zu sagen. In "Home.Run" konstruiert der Theatermacher und Autor Hartmut El Kurdi in einer Mischung aus Comedy, Musiktheater zwar aus der Migrationsgeschichte seiner Familie eine schöne, "Imagine"-mäßige Utopie der postmigrantischen Gesellschaft. Die bis in El Kurdis Urgroßelterngeneration hinein recherchierte Geschichte bleibt jedoch bei aller Lustigkeit leider genau in dieser stecken – obwohl El Kurdi die 75minütige Inszenierung durchaus heldenhaft alleine trägt.

Auch "Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor", eine kooperative Musiktheaterinszenierung der beiden Gruppen theater fensterzurstadt und der theaterwerkstatt hannover bemüht sich redlich, eine Migrationsgeschichte zu erzählen, in diesem Fall eine für Kinder. Musik und Sprache der Inszenierung machen dabei durchaus Spaß – insgesamt bleibt sie dennoch etwas niedlich und naiv erzählt – das Schlussbild beispielsweise ist ein in Regenbogenfarben beleuchtetes Peace-Zeichen, das auf zusammengeschobene Matratzen gemalt ist.

Gala 560 Marc Seestaedt"Gala!" von Landerer&Company © Marc Seestaedt

"Gala!" von Landerer&Company wiederum scheitert an der eigenen Perfektion. Um Verletzlichkeit solle es gehen, sagt Felix Landerer in der Einführung zur Inszenierung. Die erste Hälfte ist dabei eher repetitiv, in unterschiedlichen Konstellationen werden Situationen gezeigt, in denen immer wieder Stärke in Schwäche umschlägt, die Tänzer und Tänzerinnen fallen, rappeln sich wieder auf, tanzen weiter. Die zweite Hälfte bietet ein wenig mehr Abwechslung, die Situationen werden intimer, es wird mehr gefallen, mehr gekrochen. Dabei sind sowohl die Audiospur als auch die Tänzer und Tänzerinnen in "Gala!" exzellent. Doch wenn es um Verletzlichkeit gehen soll, ist das ein Problem: Jeder Fall, jede Verletzung, jede Schwäche hier ist zu schön, zu perfekt choreographiert, um wirklich zu berühren. Auch, wenn die Inszenierung in einem Meta-Move noch die Umkleide der Tänzerinnen zeigt und so auf ihre eigene Inszeniertheit hinweist, bleibt sie immer ein wenig zu clean.

Kämpferische Dekonstruktion

Alle Inszenierungen des diesjährigen Best Off geben sich auf ihre Art nicht nur politisch, sondern auch auf ihre Art kämpferisch – ob es jetzt wie in "Gala!" und "Haus" um die Dekonstruktion von Lebensweisen und Identitäten geht, in "Home.Run" und "Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor" um die Utopie einer postmigrantischen Gesellschaft oder in "Wir haben die Angst gefressen" und "Welcome to the comfort zone" um Flucht und Empathie mit Geflüchteten. Man kann das als thematische Setzung der Auswahljury lesen, die aus den Bewerbungen genau diese sechs als Leistungsschau der Freien Szene zusammengestellt hat. Man kann das aber auch als Trend lesen und konstatieren: Das Freie Theater – wenigstens das in Niedersachsen – wird nicht nur politischer, sondern auch in seinen Themen spezifischer und aktueller. Und erlaubt sich, so zu sein. Und mehr.

 

Welcome to the comfort zone
Konzept & Regie Christian Weiß, Assistenz & Guide Mona Kyas, Ausstattung Christian Weiß und Christian Strohall.
Mit: Denise Noack, Anna Fingerhuth, Verena Wilhelm und Marie Theres Zechiel.
Dauer: 30 Minuten, keine Pause
www.xweiss.info

Gala!
Choreografie: Felix Landerer, Choreografische Assistenz: Simone Deriu, Musik: Christof Littmann, Bühnenbild und Kostümdesign: Melanie Huke, Technik: Oliver Hisecke, Produktionsleitung: Achim Bernsee.
Mit: Simone Deriu, Jean-Gabriel Maury, Anila Mazhari, Luigi Sardone, Karolina Szymura und Jessica van Rüschen.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, eine Pause
www.felixlanderer.de

Haus
von Daniel MacIvor
Regie: Volker Bürger, Ausstattung Dirk Thiele, Jo-Anna Hamann, Musik: Tim Golla, Licht und Ton: Sven Weinert.
Mit: Mit Jakob Benkhofer und Tim Golla.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.wolfhaul.de

Wir haben die Angst gefressen
Regie: Regie Jens-Erwin Siemssen, Dramaturgie: Zindi Hausmann, Regieassistenz: Julia Kawka, Produktion: Juliane Lenssen, Technik: Marjan Barjamovic und Abdoulmaula Abdusamad.
Mit: Zaher Alchihabi, Rizgar Khalil, Sally Soliman Lina Zaraket, Abdin, Abrahim, Faisal, Hevin, Jumaa, Lazgin, Lina, Mohamed, Mohammad, Muwafaq, Omid, Oria, Rias, Salem, Sandra, Yasser.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.das-letzte-kleinod.de

Home.Run
Regie und AUstattung: Ulrike Willberg, Dramaturgie: Rania Mleihi, Technik: Dietrich Oberländer.
Mit: Hartmut El Kurdi, Maria Rothfuchs.
Dauer: 1 Studne 15 Minuten, keine Pause
www.ulrikewillberg.de

Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor
von Joke van Leeuwen
Regie: Carsten Hentrich und Ruth Rutkowski, Dramaturgie: Sabine Trötschel, Textfassung: Carsten Hentrich, Bühnenbild: Melanie Huke, Kostüme: Ruth Rutkowski, Technik/Licht: Matthias Alber, Grafik und Animation: Alexandra Faruga.
Mit: Elke Cybulski, Alexandra Faruga, Carsten Hentrich und Heino Sellhorn.
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause
www.theaterwerkstatt-hannover.de
www.fensterzurstadt.de

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