Das Star Wars der Theaterleute

von Paula Irmschler

Berlin, 5. Mai 2018. Ich war wirklich fest entschlossen, gegen alles zu sein. Theater in Berlin, Berlin im Theater, das klingt nach einem dieser Tagalbträume, die ich manchmal habe und in denen ich mir vorstelle, mich dreckig, wie ich bin, in einem hochkulturellen Szenario aufhalten zu müssen und alle gucken auf meine schwierigen Schuhe und zerrissenen Leggins und irgendwo habe ich immer einen Fleck, meistens mitten auf der Stirn. Theater, Theater. Das weckt einige Ressentiments in mir, die relativ langweilig, weil abgedroschen sind: arrogante Schauspieler, affektiertes Getue, vollkommen verrückte Handlungen, unverständliche Wendungen, ständiges Geficke, Rumgebrülle, Zuschauer, die "Oh" machen und an den falschen Stellen lachen, riesige Schals und Ponchos, viele Fragen, keine Antworten.

Faust4 560 Thomas Aurin xSie werden Euch nicht heimleuchten: Sophie Rois und Martin Wuttke. © Thomas Aurin

Bei der "Faust"-Inszenierung von Frank Castorf im Rahmen des Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele gibt es das alles wirklich. Ich hatte nur nicht geahnt, wie gut ich es finden würde. Ich weiß über dieses Stück nur, was auf meinem Ticket steht. Ich kenne den Typen nicht, den Ort auch nicht, weiß nicht um die historische Bedeutung. Ich fühle mich absolut unwürdig, irgendjemandem nehme ich hier bestimmt einen wertvollen Platz weg. Als ich ankomme, trinken schon alle bedeutungsvoll Weißwein im Foyer, ich komme schwitzend angerannt, bestelle mir eine Cola, die ich vor lauter Aufregung stehen lasse. Als ich sie doch noch holen will, sehe ich gerade, wie eine Frau sie einfach stiehlt. Geil! Ich liebe diese Frau. Diebstahl, das ist meine Welt. Sie gibt sie mir zurück und wir lachen darüber.

Weitestgehend normschön

Ich latsche selbstbewusst mit dem Getränk in den Saal und raffe erst am Platz, dass man gar keine offenen Getränke mit reinnehmen darf. Die nächsten zwanzig Minuten verbringe ich also damit, die Cola zu verstecken und dann doch noch heimlich zu trinken. Währenddessen sehe ich mich neugierig um. Vom Alter ist das Publikum gut gemischt, aber es ist doch sehr weiß. Naja, ich bin es ja auch. Es ist halt eine elitäre Welt, auch wenn draußen im Foyer viel mit Diversity-Flyern geworben wird und man sogar vorsichtig über #metoo spricht. Die Schauspieler sind weitestgehend normschön, die Frauen jung, schlank und rasiert, die Männer wie immer alles Mögliche. Es geht also los. Die Frau links neben mir scheint genau so nervös wie ich, das heißt, sie ist auch die ganze Zeit am Zappeln. Außerdem schreibt sie wohl auch etwas über das Stück und ist permanent am Notieren und ich frage mich, ob ich jetzt nicht vielleicht auch mal etwas aufschreiben sollte.

Stattdessen ist auf meinem Block nur eines zu lesen: "ER" und dann einige Herzen, die während der Aufführung entstanden sind und verschiedene Verben, die ich lieber für mich behalte. Mit ER ist Alexander Scheer gemeint, in den ich schon seit geraumer Zeit verknallt bin, und nun hat uns das Schicksal hier endlich zusammengeführt: Ich, die ungebildete, aber doch lebensschlaue, natürliche Überlebenskünstlerin, er, der unfassbar gute, kultivierte und doch normal gebliebene, witzige Schauspielheini. Der Abend ist gerettet. Ich will, dass es nie endet. Die gute Nachricht: Es endet auch nie. Die Aufführung dauert etwa 37 Stunden.

Die drei großen Probleme bei langen Dingen

Die drei großen Probleme von langen Dingen (Konzerte, Zugfahrten, Schule, Krankenhaus, Theater) stellen sich nun ein, man vergisst sie, bis es soweit ist. Es handelt sich um das Toilettenproblem, das Arschwehproblem und das Rauchproblem. Ich bekämpfe das erste, in dem ich einfach gar nichts mehr trinke (wenn man es mit Trinken schafft, nennt man das die Theaterblase, aber ich bin Anfängerin), das zweite durch bereits erwähntes, nervöses Bewegen und das dritte gar nicht, es macht mich wahnsinnig. Die Schauspieler scheinen wohl alle gesagt zu haben: "Jo, Castorf, ich spiele in deinem irren Stück mit, aber nur wenn ich ständig rauchen darf". Dann dreht ER sich auch noch eine Zigarette und ich bin kurz davor, die Bühne zu entern.

Faust5 560 Thomas Aurin xDas halbe "Faust"-Ensemble. Nur den Mann mit dem Cowboyhut (Scheer) müsst ihr hinzuträumen: Stangenberg, Buabeng, Tscheplanowa, Wuttke, Hosemann, Hilsdorf.  © Thomas Aurin

Stattdessen lerne ich einiges über die Mechanismen des Theaterpublikums. Gelacht wird bei folgenden Dingen: Wenn zwei Männer sich küssen. Wenn Dicke rennen. Bei modernen Dingen (Taxi, HipHop, lockere Sprache, Dildos). Und über den guten, alten "Du hast deine Seife verloren"-Vergewaltigungswitz. Irgendwann komme ich aber dahinter, dass es wohl eher eine Satire auf Männlichkeit sein könnte (bitte), und dass das Publikum Fips-Asmussen-mäßig lacht, ist halt des Publikums Schuld.

Die Bingewatcher

Sonst ist alles großartig. Ich habe nicht mal das Bedürfnis, heimlich auf mein Handy zu gucken, was etwas heißen mag. Die Uhrzeit ist mir egal, mein Körper zunehmend auch. Das Stück nimmt mich völlig ein. Ich verstehe nicht so richtig, worum es geht, aber es ist auch egal, alles ist krass. Irgendwas halt mit Faust (kenn ich noch aus der Schule), Frankreich (auch), Algerien (ja), Kolonialismus (genau) und ganz guter Männlichkeitskritik. Diese unglaublichen Schauspielerinnen, die Stimmen, der Gesang, das Geschrei, die Wandlungsfähigkeit, diese Filmsequenzen, überhaupt die Bühne, die Ausdauer, die Brüche, die vielen Metaebenen, die Selbstironie – es ist ein richtiger Trip. Geiler Moment auch, als der "Osterspaziergang" rezitiert wird, ich wusste nicht mehr, dass ich es noch auswendig kann, aber ich kann!

Die Frau rechts von mir, die das Stück nicht zum ersten Mal sieht, nennt es "sehr kulinarisch". Was auch immer das bedeuten mag. Alle Menschen dort sagen immer wieder, dass sie das Stück schon mal gesehen haben. Wow. Es ist das Star Wars der Theaterleute. Sie bingewatchen den krassesten Kulturkram einfach so weg. Erst ein paar Stunden später, als ich immer noch total aufgeregt unter den Eindrücken im Bett liege, fügt sich dann alles zusammen und ich verstehe. Noch schnell zwei Liter Wasser reingekübelt, dann schlafe ich selig mit der Erinnerung daran ein, wie ER im Cowboyhut über die Bühne schlendert. Herz.

 

Paula Irmschler 280 hochkant uPaula Irmschler wurde 1989 in Dresden geboren, hat in Chemnitz Politikwissenschaft studiert und lebt nun in Köln, wo sie nachts in der Gastro arbeitet und tagsüber für Neues Deutschland, Intro, Musikexpress, Titanic und Facebook über alles, was es auf der Welt so gibt, aber meistens über Feminismus und Musik, schreibt.


 



Hier die Nachtkritik zur Premiere der "Faust"-Inszenierung an der Berliner Volksbühne im März 2017.

Alles Weitere rund ums Berliner Theatertreffen 2018 gibt's im Liveblog.