Dieses Ich wird sich selbst zerstören

von Gerhard Preußer

Recklinghausen, 9. Mai 2018. Man steht nicht ganz im Dunkeln. Man versteht schon, was gespielt wird. Aber Stephan Rottkamps Inszenierung der Uraufführung von Oliver Bukowskis neuem Stück "Verzicht auf zusätzliche Beleuchtung" verzichtet auf ganz schön viel. Keine Requisiten, keine individuellen Kostüme, keine Musik, keine festen Rollen, kein Bühnenbild. Nur Sprache, Körper und Gesicht der Schauspielerinnen und Schauspieler. Immerhin, nur ganz am Anfang und am Ende stehen die fünf Personen im Dunkeln, sonst wird ordentlich geleuchtet: alles taghell. Immerhin, es gibt auf der Bühne würfelförmige Käfige, die zu drei Buchstaben zusammengeschweißt sind: E-G-O (Bühne: Kathrin Frosch).

Gegenwartsrelevante Themen

Denn darum geht es, um das Ich, das komplizierte Ding, das keiner sieht und jeder hat, dieses Bündel von Perzeptionen, das irgendwie zusammengehalten werden muss. Und das gelingt nicht immer. Rieke ist so ein Fall. Fotografin, Ende dreißig, beruflich erfolglos, persönlich isoliert, therapieresistent. Sie öffnet keine Briefe. Aus allen Jobs wurde sie gefeuert. Ihrer Tochter geht sie mit absurden Rettungsplänen – eine Eisdiele aufmachen – auf die Nerven. Aber sie hat eine treue Freundin: Jana. Die überredet ihren Mann Holger, einen selbstständigen Softwareentwickler, Rieke als Marketingassistentin einzustellen. Nun hat sie einen Job, aber verliert die Wohnung, schläft im Büro. Als Holger davon erfährt, poliert sie der denunzierenden Praktikantin die Fresse. Gefährliche Körperverletzung, da bleibt nur die Wahl zwischen Psychiatrie und Knast. Verzicht auf zusaetzliche Beleuchtung1 560 Candy Welz xFeldzug ins gesellschaftliche Abseits © Candy Welz

Bukowski hat mit seinen Figuren eine Reihe von gegenwartsrelevanten Themen zusammengehäufelt: Identitätskrisen, Geschlechterrollen, Generationenverhältnisse. Denn es gibt auch noch Riekes Mutter, Kristin. Und alle drei Frauen gleichen sich und hassen sich: Intergenerationenambivalenz. Die ältere Generation selbstgerecht und verbissen, die mittlere möchte-gern-kreativ, hypermoralisch und instabil, die jüngere scheinbar nüchtern, heimlich auf denselben Abwegen wie die Mutter. Alle drei haben denselben Wunsch nach "etwas, was bloß für mich selbst da ist, das ohne die Meinung der anderen funktioniert, stabil und simpel". Die Figur Rieke, das ist die Potenzierung unserer milden Unsicherheit, wer wir denn sind, bis an die Grenze der klinischen Identitätsdiffusion, eine Steigerung der ganz normalen Anpassungsbereitschaft ins Pathologische.

Am Rande des Nervenzusammenbruchs

Alle drei Frauen haben eine ausgeprägte Fähigkeit zur zerstörerischen Selbstanalyse. Der Mann ist eher auf dem Rückzug, beziehungsmäßig. Weil er ja beruflich so offensiv ist. Aber auch er hat die erstaunliche Fähigkeit zur selbstkritischen Implosion nach sechs Bierchen. Und damit es nicht irgendwie frauenfeindlich erscheint, gibt es die aufopferungsvolle Freundin Jana. Rieke ist mit ihrer Radikalität, ihrem haltlosen Immer-Mitspielen-Wollen, das immer katastrophal endet, eine sympathische Figur. Aber die sozialpsychologische Analyse wird nicht zufällig an Frauen exemplifiziert. Rieke beschimpft sich selbst in einer depressiven Phase: "Ich bin eine klinisch aussichtslose unrasierbare F***e". Jana tröstet mit professioneller Therapiesprache: "Du bist keine F***e, du hast eine." Im Publikum nur Männergelächter.

Das Stück so abstrakt zu inszenieren, hat seinen Sinn darin, dass es eigentlich nur aus Sprache besteht und Sprache thematisiert. Jede Figur hat ihre Tabuwörter: Wenn Rieke "wichten", "Kompetenzen", "Win-Win" oder "briefen" hört, springt sie aus dem Fenster. Holger geht es ebenso mit "Existenz" oder "komplex". Es hätte keinen Sinn, das Milieu realistisch auszupinseln. Nur gelegentlich werden die Räume der Szenen durch das Spiel angedeutet. Rollenzuweisungen sind höchstens für eine Szene stabil, lösen sich aber dann wieder auf. Wenn die Schauspieler so wenig Hilfsmittel haben, müssen sie sehr deutlich sein. Alle Gesten, Haltungen, Intonationen sind typisiert, teilweise chorisch. Man soll einzelne Züge der Figuren wiedererkennen. Das gelingt am besten an den Höhepunkten: bei Holgers besoffener Tirade, an deren Ende er einwilligt, Rieke einzustellen, oder bei der Diskussion zwischen Chef Holger und Rieke über ihren Büroschlaf. Das Weimarer Ensemble spielt und spricht mit Verve, Tempo und pointensicherem Timing. Die Inszenierung macht das Stück nicht größer als es ist: eine scharfzüngige Sottise, eine hämische Gegenwartsdiagnose mit feminismuskritischer Schlagseite.

Die Lösung? Am Ende sitzen Jana und Rieke nebeneinander. Rieke spielt mal wieder Pennerin. Sie vernichtet alle Identitätsnachweise: Perso, Kreditkarte usw. Reset, Neuanfang. Ein leeres Blatt, eine genullte Festplatte. Wenn das so einfach ginge.

 

Verzicht auf zusätzliche Beleuchtung
von Oliver Bukowski
Regie: Stephan Rottkamp, Bühne: Kathrin Frosch, Kostüme: Justina Klimczyk, Dramaturgie: Beate Seidel
Mit: Johanna Geißler, Bastian Heidenreich, Sebastian Nakajew, Nadja Robiné, Isabel Tetzner
Koproduktion Ruhrfestspiele Recklinghausen, Deutsches Nationaltheater Weimar
Dauer: 1 Stunde, 40 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.nationaltheater-weimar.de

 

Kritikenrundschau

"Das neue Stück von Oliver Bukowski ist eine Zumutung. Nicht, weil es grundsätzlich schlecht geschrieben wäre. Sondern, weil es so gar nicht weiß, wohin es will", so Christiane Enkeler von Deutschlandfunk Kultur (9.5.2018). Die Figuren seien tot. "Sie sollen Verweise sein, aber da ist nichts zum Verweisen außerhalb des Textes." Das könne man natürlich auch konsequent finden. "Allein: Erkenntnis bringt es nicht." Regisseur Stephan Rottkamp streiche das Verhandeln von Performance, Transzendenz und physischem Mutismus, was der Inszenierung gut tue. "Es gibt ein Leben nach dem Text, das ist gut zu wissen. Und hier macht es einfach Spaß zuzuschauen. Es ist sogar phasenweise sehr lustig!"

Das Stück komme fast skizzenhaft daher und entfalte dennoch Wucht, schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (10.5.2018). Es gehe ums Ego, um Persönlichkeit oder deren Fehlen. Rottkamp folge der strengen Maxime im Titel, was den Abend abstrakt, aber wohltuend deutungsoffen halte: "keine Requisite, kein realistisches Spiel, keine Kulissen, nur drei Frauen und zwei Männer in grauen Jeans und T-Shirts".

"Mit gewohnt scharfer Zunge verhandelt Oliver Bukowski gleich eine ganze Palette an Gegenwartsproblemem: den Generationenkonflikt, Identitätskrisen, Co-Abhängigkeiten, die Rolle der Geschlechter ..." All das nutze Regisseur Stephan Rottkamp für sein Hauptthema: "Das Fehlen des Wir-Gefühls in der heutigen Ich-Welt", so Tina Brambrink in der Recklinghäuser Zeitung (12.5.2018). Es habe schon stärkere Bukowski-Texte bei den Ruhrfestspielen gegeben. "Trotzdem: Mit viel Tempo nuanciert gespielt, mutig, dabei schlüssig inszeniert."

 

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