Ein deutscher Totentanz

von Alexandra Zysset

Chemnitz, 11. Mai 2018. Oma Ursula ist tot und die Familie fährt nach der Beerdigung zu ihrem Haus. Die Friedhofserde klebt noch an den Schuhen, die schwarzen Trenchcoats sind vom Regen durchnässt; auf dem dreckigen Boden liegen ein paar ungeschälte Kartoffeln und der nach Mottenkugeln riechende Rock der Verstorbenen. Ansonsten scheint sie vollkommen: die nackte, leere Gegenwart.

Leichen im Keller

Opernmusik erklingt. Wie zwei Tänzer werfen die Geschwister nun ihre Jacken ab, stehen sich in langen Unterhosen und Spitzenhemd gegenüber, und kurz ist es still. Der Werbefilmer Frank putzt seine Brille. Elise, die ihre Mutter bis zur Selbstaufgabe gepflegt hat, geht auf die Knie und beginnt mit fanatischem Eifer den Boden zu schrubben. Hinter ihr der senile Wolfgang, der dreinschaut wie ein unschuldiger Bub und sich an seinen Hosenträgern festhält. Vorn die junge Franziska, die sich zum Rauchen in die Ecke verzieht. Ja, schon vor der ersten Explosion, den ersten Schreien, Fäusten und Verwünschungen des "alten Teufels", ist klar, dass diese Familie ein Kellerleichenproblem hat, auch wenn sie es hinter Schweigen und dem leitmotivisch eingesetzten Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein verstecken will.

SiebenGeister1 560 Dieter Wuschanski 1 uDas Chemnitzer Ensemble auf der Bühne von Valentin Baumeister © Dieter Wuschanski

Sören Hornung, Jahrgang 1989 und nebst seiner Schriftstellertätigkeit auch als Regisseur und Performer aktiv, hat mit "Sieben Geister" den diesjährigen Chemnitzer Theaterpreises für junge Dramatik gewonnen. Zum Heidelberger Stückemarkt 2018 war er mit dem Text auch eingeladen. Was Hornung in "Sieben Geister" beschwören will, ist die ganz große Geschichts-Erweckung: Faschismus und Nachkriegszeit, Stasikooperation und Mauertod, eine orientierungslose Nachwende-Jugend in Springerstiefeln.

Mithilfe einer Erzählerin reißt er die Traumata von drei deutschen Generationen an, wobei jede eine andere Antwort auf die Frage weiß, wer denn nun der Wolf ist, der an der Tür scharrt. Die besondere Tragödie der Familie ist dabei, dass sich ihr Hass gegen die russische Besatzung, die Grenzsoldaten der DDR oder neuerdings gegen Geflüchtete aus Syrien nur wie ein Katalysator für die inneren Konflikte ausnimmt. Der Hass prallt an der Geschichte ab wie an einem Spiegel und strahlt mit doppelter Brennschärfe zurück.

Hakenkreuze einritzen

Diese Hochspannung wirkt etwas gezwungen; wie nach dem Matrjoschka-Prinzip wird Figurengeheimnis um Figurengeheimnis gelüftet. Ohrfeigen, Gekrächze, Kartoffelschälen auf Hyperventilation. "In dieser Familie sind doch alle bekloppt!", schreit Franziska. In ihr scheint sich der Jahrzehnte alte Hass akkumuliert zu haben; sie drückt sich die Zigarette in der Armbeuge aus und wirft sich die Tabletten ihrer toten Großmutter ein, träumt davon, sich Hakenkreuze als Wunden einzuritzen.

Beruhigend wirkt da nur die Samtstimme von Maria Schubert, die als Erzählgeist die Bühne umschwebt. Und natürlich der von Horst Damm mal lustig-liebenswert, mal leidend-existentiell gespielte Wolfgang, der sie als erster wahrnimmt.

SiebenGeister 560 Dieter Wuschanski uIn Springerstiefeln durch die deutsche Geschichte: Magda Decker als Franziska. © Dieter Wuschanski

Es lässt sich auch am Ende nicht sagen, wer das weiße Fell trägt und wer den Wolfspelz. Die Wäschestücke, die die Darsteller tragen, sind am Ende des Stücks alle schmutzig, und die Bühne, die aussieht wie ein schräg abgesägter Betonbunker, ist mit Erde zugedeckt. Das von Valentin Baumeister entworfene Bühnenbild trägt nebst der Märchenmetapher die größte Bedeutung: Franziska (Magda Decker) hebt die Steinplatten, die ebenso grau sind wie der Chemnitzer Bürgersteig, und lässt somit Licht ins Haus. Später kriecht ihr Vater Frank (Christian Ruth) in einer Erinnerungssequenz als neunjähriger Winnetou durch den Kubus, drückt mit seiner Kindheitsfreundin weitere Platten weg und entblößt so das kalte, stählerne Gerüst. Bettina hieß diese Freundin, und sie wollten als Mutprobe durch den Wald, zur Mauer hinaus. Plötzlich Schüsse. Bettina (gespielt von Ulrike Euen, die in der Gegenwart Franks Frau Elise verkörpert) traf es am Kopf. "Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf", floskelt Wolfgang dazu.

Laura Linnenbaum hat die Metapher des Märchens dehnbar und somit rätselhaft gelassen. Indem sie auf weitere Motive und schulmeisterliche Deutlichkeit verzichtet, rettet sie "Sieben Geister" auch vor dem symbolischen Riesenfingerzeig. Stärker sind die poetischen Szenen, die sie mit einfachen Requisiten schafft, zum Beispiel wenn sie in Franziskas Monolog Kartoffeln über die Bühne kullern lässt, als seien sie vorbeieilende Passanten oder Regentropfen, die die Straße hinab geschwemmt werden. Aus dieser Ruhe heraus kann dann auch ein Geständnis berühren.

 

Sieben Geister
von  Sören Hornung
Regie: Laura Linnenbaum, Bühne und Kostüme: Valentin Baumeister, Musik: Justus Wilcken, Dramaturgie: René Schmidt.
Mit: Maria Schubert, Horst Damm, Ulrike Euen, Christian Ruth, Magda Decker.

www.theater-chemnitz.de

 

Mehr über den Autor und Regisseur Sören Hornung finden Sie auf der Festivalseite von nachtkritik.de zum Heidelberger Stückemarkt 2018, unter anderem Hornung im Videoporträt sowie sein Stück "Sieben Geister" im Stückporträt.

 

Kritikenrundschau

Das Stück sei ist nicht ganz frei von Schwächen. "Frank nämlich begründet seine Stasi-Mitarbeit damit, dass er irgendwann entdeckte, ein guter Schauspieler zu sein. Das ist dann doch ein wenig zu billig", schreibt Maurice Querner von der Freien Presse (13.05.2018). "Anerkennenswert ist freilich, dass dem noch nicht mal 30-Jährigen Autor eine alles in allem stimmige Story gelungen ist, die sich ernsthaft mit DDR-Geschichte befasst, die, so man Umfragen vertraut, gerade bei jungen Leuten in seltsam diffusem Licht aus Unwissen und/ oder Desinteresse zu versinken droht."

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