Die Zeit der Zaghaften

von Gabi Hift

Berlin, 12. Mai 2018. Früher war alles besser? Beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens auf jeden Fall. Der war früher oft ein großer Spaß, als viele Beteiligte sich noch als junge Wilde beweisen wollten und voll auf die Kacke gehauen haben. Diesmal waren die Kriterien der Auswahljury vor allem defensiv: die Texte sollten zum Thema "Geteilte Welt" passen, sollten nicht rassistisch sein, nicht sexistisch, nicht nicht-divers und vor allem nicht "well made". Die Auswahljury hat drei Stücktexte eingeladen, die in szenischen Lesungen präsentiert wurden und drei Performances, die bereits anderswo Premiere hatten.

Die Höhle des passiven Erleidens

Den Texten merkt man an, dass sie bloß nicht zu viel vorgeben wollen, was die Phantasie potentieller Regisseur*innen einschränken könnte, sie schlagen quasi schüchtern die Augen nieder und linsen dann mit kleinen sprachlichen Frechheiten drunter vor. Nur der Text von Olivia Wenzel ist ein bisschen großmäulig, aber auch da ist die Figur im Zentrum völlig passiv.

Wo die frühere Dramatik handelnde Helden ansetzte, ist bei den meisten hier gesehenen Stücken ein Loch, eine Höhle des passiven Erleidens, in die die Zuschauer*innen hineinkriechen und sich sagen sollen: "Ist es nicht ganz furchtbar, dass ...." (Sie dürfen in an dieser Stelle jedes sattsam bekannte gesellschaftliche Problem einfügen.) Eine Ausnahme macht da nur das leiseste Stück – "Fresque" von Old Masters –, in dem ein Quantensprung von rührend übertriebener Vorsicht hin zu altmeisterlicher Schönheit vollzogen wird.

Turbo Pascals Audioperformance mit Zeigefinger gegen Rechts

Los geht's mit der Performance "Böse Häuser" von Turbo Pascal. Die Zuschauer müssen Hausschuhe anziehen und kriegen Kopfhörer aufgesetzt, über die sie eine sanfte Stimme auffordert, sich in Gruppen zusammenzufinden. Alle, trotten brav in ein Eck oder gruppieren sich im Kreis oder legen sich auf den Boden, je nach dem was der Audiokanal von ihnen verlangt. Dann wird einem was ins Ohr geflötet, das wohl wie süßes Gift wirken und einen in eine Gemeinschaft locken soll, aber man begreift sehr schnell, wo das hinführen wird, nämlich direkt in den Sumpf rechten Gedankenguts, und dass man als folgsamer Zuschauer in die Falle gehen und sich dann deshalb schämen sollte.

Boese Haeuser Turbo Pascal 560 Daniela del Pomar uUnbehagliches Gemeinschaftsgefühl: "Böse Häuser" von Turbo Pascal © Daniela del Pomar

Ein Blick in die Runde zeigt, dass alle Anderen auch schon wissen, wie der Hase läuft. Es folgen 50 quälende Minuten, in denen man sich mies fühlt in der Gemeinschaft anderer Menschen, die sich auch mies fühlen, und zulässt, dass die Stimmen der Performer einem mit ihrem platten pädagogischen Zeigefinger im Hirn rumpulen, weil man zu höflich ist, die Kopfhörer runterzunehmen und zu gehen.

Olivia Wenzel mit Amoklauf und Emojis

In Olivia Wenzels "1 yottabite Leben" geht es um eine junge Frau, die in einem Münchner Hotelzimmer sitzt, und draußen läuft ein Attentäter herum. Die Polizei rät über Twitter nicht aus dem Haus zu gehen. Also chattet sie mit verschiedensten Leuten, surft durchs Internet und wird von den absurdesten rassistischen und misogynen Stimmen belästigt.

Irgendwann malt sie sich eine ganz normale analoge Beziehung aus und lässt sich von Google dabei helfen. Olivia Wenzels Sprache hat Schwung und einen schönen Rhythmus. Man merkt, dass ihr das Herumspielen mit skurrilen Hate Speeches und das Übersetzen von Emojis in Text Spaß macht. Aber das Ganze wirkt nur wie eine Fingerübung und so, als ob das Thema Internet halt eines wäre, über das man gerade ein Stück schreiben sollte und nicht eines, das ihr wirklich unter den Nägeln brennt.

Li Liorans brisanter "Exodus"

Notwendiger wird es in Li Liorans Lecture Performance "Exodus". Die israelische Künstlerin erforscht die Routen verschiedener Reisen übers Mittelmeer, erzwungener und freiwilliger. Eine solche Reise hat sie selbst von Jerusalem nach Berlin gebracht, und die Vorstellung findet für ein doppeltes Publikum statt: der Raum ist via Skype mit einem Theater in Jerusalem verbunden, die Zuschauer in beiden Städten können sich gegenseitig im Publikum sitzen sehen. Li Lioran zeichnet die Reise ihrer Großmutter an die Wand, die 1947 aus Europa mit dem Schiff "Exodus" nach Haifa emigrieren will, aber von den Briten zurückgeschickt wird. Und sie zeichnet die Routen der Nakba, des palästinischen Exodus: 700.000 Palästinenser, die nach dem Krieg von 1948 vertrieben wurden.

tt18 280 stueckemarkt maya arad yasur c privatDie Stückemarkt-Siegerin: Maya Arad Yasur mit "Amsterdam" © privatDas ist tatsächlich brisant – jedenfalls für die Zuschauer in Israel. Dort ist es kaum möglich diese beiden Erzählungen – die Flucht der Juden nach dem Holocaust nach Palästina und die Vertreibung der Palästinenser aus dem Staatsgebiet des neugegründeten Israel – nebeneinanderzustellen und für die Situation beider Seiten Verständnis zu zeigen. Li Lioran macht das sehr vorsichtig, ihre Kleidung ist fast kindlich. An die Wand heftet sie kleine Zeichen: ein ausgeschnittenes Herz, ein Pflänzchen, das "wandernder Jude" heißt, die Schlüssel ihrer Wohnung in Jerusalem.

Aus der doppelten Zuschauersituation gewinnt sie dagegen fast nichts. Die Performance ist mutig, sie bleibt nicht passiv wie die meisten anderen Stücke. Es wäre interessant, wenn Li Lioran sie noch weiter ausbauen und die widersprüchlichen Reaktionen, die bei den Zuschauern in Deutschland und Israel zu vermuten sind, herauskitzeln und miteinander konfrontieren würde.

Maya Arad Yasur Krimi "Amsterdam"

Es gibt noch ein zweites israelisches Stück: "Amsterdam" von Maya Arad Yasur. Darin geht es um eine unbezahlte Gasrechnung aus dem Jahr 1944, die einer jungen israelischen Geigerin in Amsterdam in die Wohnung flattert. Um das Rätsel dieser Rechnung wird ein Krimiplot entfaltet. Ungewöhnlich ist, wie die Geschichte erzählt wird: unbenannte Stimmen ergänzen sich, widersprechen einander, scheinen die Story gerade in diesem Augenblick zu erfinden.

Das ist genau die Art wie Fernsehserien in Writers Rooms entwickelt werden. Als Vorschlag für eine Bühnenerzählung überrascht sie allerdings, denn die konkreten Körper der Schauspieler*innen werden der Unzuordenbarkeit der Stimmen entgegenstehen. Die Geschichte selbst entwickelt sich zu einer ziemlich wüsten Kolportagestory, bei der der persönliche Auslöser leider ganz aus dem Fokus gerät: dass nämlich eine Jüdin, genau wie die Autorin selbst, dorthin zieht, wo ihre Großeltern früher verfolgt wurden, und nunmehr von den Gespenstern der Geschichte geplagt wird.

Leon Englers U-Bahn-Farce und eine Juwel von Old Masters

Leon Englers Stück "Die Benennung der Tiere" ist eine absurde Farce über einen dicken Mann, der auf die U-Bahngleise fällt und den die Menschen durch absurdes Wörtlichnehmen seiner Selbstbezichtigungen – er sei ein fettes Schwein, ein dummer Ochse – für ein Tier halten und deshalb nicht retten. Leider geht dem Text bald der Witz aus, und die moralische Botschaft – "Ist es nicht furchtbar, wie die Menschen dummes Zeug reden, statt einander aus der Not zu helfen?" – war sogar im Kontext dieses Stückemarkts zu naiv.

Und schließlich gab es noch ein kleines Theaterwunder zu bestaunen: "Fresque", ein Stück der Schweizer Performancegruppe Old Masters. Etwas, das in jeder Hinsicht so völlig anders ist als die anderen fünf Stücke, dass es wirkt, als käme es von einem anderen Planeten. Auf der Bühne steht ein Objekt, und man hat geschlagene fünf Minuten Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, bevor die beiden Darsteller auftreten. Es ist eine Art große Schrankwand aus versetzten Quadern. In der Mitte sitzt ein etwa ein Meter hohes Schaumgummiobjekt, ein an der Oberfläche leicht zerfleddertes Ei. Man weiß nicht, ob das Kunst sein soll, oder ein Wohnobjekt, es ist jedenfalls auf ganz unspektakuläre Weise hässlich.

tt18 560 stueckemarkt fresque c simon letellier uHeiterer als Beckett und genauso tief: "Fresque" von Old Masters © Simon Letellier

Dann treten zwei junge Menschen auf und beginnen über dieses Objekt, das ihr Werk ist, zu sprechen. Sie verhalten sich ganz undramatisch, reden einfache und banale Dinge, die Situation bleibt ein Rätsel, Ort und Zeit bleiben gänzlich unbestimmt, die einfache, leise Ernsthaftigkeit, mit der sie die zueinander die banalsten Sachen sagen, ist unglaublich lustig und entwickelt gleichzeitig einen magischen Sog. Einfach weil die beiden dabei bleiben, weiter an dem Objekt arbeiten, mit dem sie mal mehr mal weniger zufrieden sind, öffnet sich irgendwann ein riesiger Raum, die Tür zum Weltall geht auf.

Es erinnert sehr an Stücke von Beckett. Aber bei Beckett scheint hinter den Menschen, die auf Godot warten oder ihren absurden täglichen Verrichtungen nachgehen, eine entsetzliche gähnende Leere auf. Hier hingegen ist der Raum zwar ebenso sinnlos, aber nicht bedrohlich, sondern heiter und schön. Es geht buchstäblich um alles: um das Wesen der menschlichen Existenz, das sich durch die leisen, hartnäckigen Bemühungen dieser beiden Menschen um dieses lächerliche Schrankwandding plötzlich in all seiner Schönheit zeigt.

Am Ende erwacht das Objekt zum Leben, mysteriös und lustig und großartig. Diese Stück ist wahrhaft "well made", da stimmt jeder Ton, jede Geste, jede Pause, alles ist ganz genau richtig austariert, um diese stupende Wirkung zu erzeugen. Es ist bestimmt nicht jedermanns Sache, man muss den Humor mögen, und auch bereit sein, sich am Auftreten vom Wunderbaren im Leben zu freuen, das keinen weiteren Sinn hat.

Öffentliche Jury-Debatte

Die Sache der Jury, die am Schluss den Stückauftrag zu vergeben hatte, war es leider nicht. Ihre Entscheidung wurde zum ersten Mal in einer öffentlichen Diskussion à la Bachmann-Preis oder Mülheimer Dramatikerpreis gefällt. Die Jury bestand aus Beate Heine (Chefdramaturgin am Schauspiel Köln, das das Siegerstück uraufführen wird), Dominic Huber (Szenograph und Regisseur) und Margarita Tsomou (Autorin, Kuratorin, Missy Magazine).

Leider spiegelte das Juroren-Gespräch noch einmal die extreme Vorsicht und die defensive Grundhaltung des ganzen Stückemarkts wieder. Obwohl "Dringlichkeit" immer wieder als Kriterium genannt wurde, schien den Juror*innen selbst nichts dringlich zu sein, weder fanden sie etwas wirklich schlecht (oder trauten sich jedenfalls nicht, es laut zu sagen), noch waren sie von irgendwas wirklich begeistert. Die Diskussion war ganz und gar postdramatisch. Als Kriterien wurden neben politischer Relevanz, Sprache, Innovation, der Sprecherposition (weiß/männlich/biodeutsch sollte zwar nicht direkt benachteiligt werden, aber alles andere wäre doch besser) immer wieder der Schmerz genannt: Es müsse dorthin gehen, wo es schmerzt. Damit fällt ein Stück wie "Fresque" natürlich sofort raus, weil Old Masters überhaupt nicht dorthin wollten, wo es weh tut. Sie wollten an einen Ort, an dem Schmerz schlichtweg keine Bedeutung hat, und sie haben ihn auch erreicht.

Sieg für "Amsterdam" von Maya Arad Yasur

Die Favoriten der Jury waren "Amsterdam" und "1 yottabite Leben"; und die Wahl fiel auf "Amsterdam" – wegen seiner größeren politischen Relevanz. Wieviel mehr Mut und Brisanz in der anderen israelischen Performance, "Exodus", steckte, haben sie leider nicht gesehen.

Prinzipiell ist die öffentliche Diskussion der Stücke und der Kriterien, nach denen sie ausgewählt werden, eine begrüßenswerte und interessante Sache. Das war ja eine Premiere und bestimmt werden sich die Juroren im nächsten Jahr schon mehr trauen, weniger vorsichtig und defensiv sein – was man sich auch für die Vorauswahl wünschen würde.

 

 

Das Programm des internationalen Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2018:

Amsterdam
von Maya Arad Yasur (Israel/Niederlande)

Die Benennung der Tiere
von Leon Engler (Österreich)

Exodus
von Li Lorian (Israel/Deutschland)

Fresque
von Old Masters (Schweiz)

Böse Häuser
von Turbo Pascal (Deutschland)

1 yottabyte leben
von Olivia Wenzel (Deutschland)

www.berlinerfestspiele.de