Die Gleichschaltung der Zufriedenen

von Andrea Heinz

Wien, 12. Mai 2018. Man fängt bei dieser Geschichte am Besten von vorne an. Im Herbst 2017 startete das Wiener Schauspielhaus die "Seestadt-Saga", eine "begehbare Social-Media-Serie". Protagonist*innen waren fiktive Figuren, die in der (realen) Seestadt Aspern, einem (sehr weit draußen liegenden) Wiener Stadtentwicklungsprojekt, lebten. Marko Herz (der viele an den österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz erinnerte) gründete dort die "Liste Seestadt", eine Bürgerbewegung, die in der Folge immer mehr ins rechte politische Lager driftete.

Hier begannen wohl auch die Schwierigkeiten: Die Zuschauer*innen konnten nicht nur über die sozialen Medien mit den Figuren interagieren, sondern auch vor Ort dabei sein und etwa die Stammtischabende der "Liste Seestadt“ besuchen. Für viele schien es da immer schwerer geworden zu sein, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden, das Theater spürte zunehmend Wut und Aggression. Nach einem fiktiven Todesfall in der Seestadt wurde das Experiment medienwirksam abgebrochen (wobei man geschickt zu kaschieren wusste, dass der Abbruch als solcher Teil der längerfristigen Projektplanung gewesen war). Dabei begann die bizarre Dynamik, die sich dort entwickelte, spannend zu werden. Manche schienen es durchaus vernünftig zu finden, aus Sicherheitsgründen eine Mauer um die Seestadt zu bauen.

Digitalis Trojana2 560 Matthias Heschl uDie Welt in vielen Browser-Fenstern: Bühnenbild von Stephan Weber © Matthias Heschl

Statt das Experiment unter Realbedingungen fortzuführen, wurde die Saga nun auf die "sichere" Schauspielhaus-Bühne verlegt. Das ist allein deshalb erfreulich, weil die Seestadt Aspern nun mal verdammt weit draußen liegt. Der gemeine Wiener fährt da eher nicht hin, und man hatte den Eindruck, dass die Saga für viele erst mit ihrem Abbruch Thema wurde. Dabei verhandelte sie Fragen, die alle angehen: Populismus, Meinungsmache in Sozialen Medien, das ewige Gefasel von der Bedrohung durch ein ominöses "Draußen".

Überachung und Spitzeltum

"Digitalis Trojana – Der See, die Stadt und das Ende", geschrieben von Bernhard Studlar und Tomas Schweigen, inszeniert von Tomas Schweigen, bringt nun die Saga zu einem Ende. Auf der Homepage ist zu lesen, Vorkenntnisse wären nicht nötig. Das mag sein, jedoch: Es wird kompliziert, sogar für die, die sich vorher eingearbeitet haben. Der zweistöckige Bühnenaufbau zeigt neben- bzw. übereinander die Wohnung des Schauspielerpaares Vera und Sebastian (Vera von Gunten und Sebastian Schindegger), das Büro von Marko Herz (sollte man sich merken: Max-Reinhardt-Student Anton Widauer), einen Garten, die Wohnung von Sebastians Tochter Kathi (Antonia Jung), einen Fitness-Raum und eine Überwachungszentrale.

Denn aus den Wünschen der Liste Seestadt nach Sicherheit und einer "Zufriedenheitsgemeinschaft" ist eine digitale Blase grotesken Ausmaßes geworden. In der umzäunten Seestadt herrscht das Computersystem Digitalis. Der in weißer Uniform auftretende Marko Herz hat zusammen mit seinem zwielichtigen Sicherheitschef Timur Yilmaz (Oktay Günes) ein perfides System aus Überwachung, Spitzeltum und Gleichschaltung im Namen von Sicherheit und Gemeinschaft etabliert.

Auf Digitalis wird eifrig gelöscht und zugerichtet, wer allzu unerwünschte Meinungen äußert, wird mitsamt seinem Profil eliminiert. Die Menschen existieren hier nur noch digital. Als Geschichte in der Geschichte proben Schauspieler*innen (Steffen Link, Vassilissa Reznikoff) rund um Vera und Sebastian ein Stück nach dem dystopischen Roman "Wir" von Jewgeni Samjatin (ein Vorbild für Romane wie "1984" und "Schöne neue Welt"), der die Lage in der Seestadt noch einmal spiegelt.

Reise in der Zeitmaschine

Zentrale Figuren und rätselhafte Handlungsereignisse der Saga klären sich hier im Theater auf. Jesse Inman ist der "Mann in Schwarz", ein Digitalis-Mitarbeiter. Eine andere Mitarbeiterin von Digitalis (Jaschka Lämmert) entpuppt sich als die mysteriöse "Frau in Weiß" aus Staffel 1, die seinerzeit von einer Überwachungskamera bei einem gescheiterten Mordanschlag auf Marko Herz gefilmt wurde. Jetzt werden ihre Motivationen deutlich: Die Frau durchschaut das System, will eingreifen.

Und hier wird der Abend stark und eindringlich. Die Darstellung von totalitären Dystopien kennt man ja mittlerweile zur Genüge aus dem zeitgenössischen Theater, aber mit dem Abbilden politischer Problemlagen ist noch nichts erreicht. Wenn die "Frau in Weiß" jedoch durch Zeit und Raum reist, und versucht, in der Vergangenheit Marko Herz zu ermorden, um die schreckliche Gegenwart zu verhindern, dann gibt das schon zu denken. Manche Veränderungen lassen sich nicht mehr rückgängig machen, die Zeit für demokratischen (gewaltfreien!) Widerstand ist begrenzt – und auf Zeitmaschinen sollte man besser nicht hoffen.

Digitalis Trojana1 560 Matthias Heschl u© Matthias Heschl

"Digitalis Trojana“ ist ein komplexer, sehr voller Abend (zwischendurch singt und spielt noch Hubert Weinheimer Hamburger-Schule-artige Lieder). Und nicht alles geht auf bei diesem Versuch, ein an sich schon schwer unter Kontrolle zu bekommendes Projekt wie die "Seestadt-Saga“ auf die Bühne zu kriegen. (Der in der Saga verstorbene Philipp etwas kommt hier gar nicht mehr vor.)

Aber das Team um Studlar und Schweigen hat sich den politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen gestellt, sie haben etwas riskiert – und etwas geschaffen, das Netzfragen konkret macht und zu denken gibt: über das eigene Verhalten, den eigenen Umgang mit sozialen Medien, die eigene Rolle in diesem System. Das ist schon sehr viel.

 

Digitalis Trojana – Der See, die Stadt und das Ende
von Bernhard Studlar und Tomas Schweigen
Regie: Tomas Schweigen, Bühne: Stephan Weber, Kostüme: Anne Buffetrille, Musik: Jacob Suske, Live-Musik (Das Trojanische Pferd): Hubert Weinheimer, Video: Dominic Kubisch, Manuel Prett, Patrick Wally, Dramaturgie: Tobias Schuster.
Mit: Oktay Günes, Vera von Gunten, Jesse Inman, Antonia Jung, Jaschka Lämmert, Steffen Link, Vassilissa Reznikoff, Sebastian Schindegger, Hubert Weinheimer, Anton Widauer.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.at


Über die Seestadt-Saga am Schauspielhaus Wien sprach Tomas Schweigen unlängst auf der Konferenz "Theater und Netz" (Video 3).

Den Auftakt der "Seestadt-Saga" besprach Theresa Luise Gindlstrasser für nachtkritik.de im Oktober 2017.

 

Kritikenrundschau

"Digitalis Trojana" folge dem Switchen zwischen mehreren Bildschirmen, Computer, Smartphone, Tablet, Petra Paterno in der Wiener Zeitung (15.5.2018). "Zugleich wird aber ein spannender Sci-Fi-Thriller erzählt, in dem von Ehebruch bis Verrat, Intrige und sogar Mord so ziemlich alles aufgeboten wird." Das Projekt ziele darauf ab, das derzeit beliebte Streaming-Serienformat mit dem analogen Medium Theater zu versöhnen. Fazit: "Der zweistündige Theaterabend ist ein gewitzter Kommentar, erinnert in den besten Momenten an die Techno-Serie 'Black Mirror'. Ein großer Wurf."

"Der Abend wirkt in seiner Konstruktion schwerfällig, auch wenn der Witz das immer wieder wegwischt", schreibt Margarete Affenzeller in Der Standard (14.5.2018). In Stephan Webers "imposantem Bühnenbild" würden "die schönen Momente zuweilen Opfer von szenischer Betriebsamkeit".

Schweigen habe "das nicht unbedingt originelle, aber gerade durch seine altmodische Seriosität und das Fischen in vielen Quellen und Theorien spannende Drama inszeniert", so Barbara Petsch in der Presse (15.5.2018). "Das Ensemble ist köstlich, etwa Anton Widauer als Supersaubermann Mario Herz, ein hübscher Jüngling im schneeweißen Anzug, der seinen federnden Gang, seinen geraden Blick und sein cooles Charisma bei Schauspielern einstudiert, und Kanzler Sebastian Kurz ähnelt." Ihr Fazit: "Alles in allem: Sehenswert. Und animierend für Fernstehende, sich die viel besprochene echte Seestadt Aspern einmal näher anzuschauen."

Der Abend wirkt in seiner Konstruktion schwerfällig, auch wenn der Witz das immer wieder wegwischt. Neben vier großen Screens hat Bühnenbildner Stephan Weber alle Schauplätze in einem imposanten Bühnenbild aus drei Etagen verschachtelt. Da werden die schönen Momente zuweilen Opfer von szenischer Betriebsamkeit. - derstandard.at/2000079660190/Digitalis-Trojana-Alptraum-der-totalen-Ueberwachung

Der Abend wirkt in seiner Konstruktion schwerfällig, auch wenn der Witz das immer wieder wegwischt. Neben vier großen Screens hat Bühnenbildner Stephan Weber alle Schauplätze in einem imposanten Bühnenbild aus drei Etagen verschachtelt. Da werden die schönen Momente zuweilen Opfer von szenischer Betriebsamkeit. - derstandard.at/2000079660190/Digitalis-Trojana-Alptraum-der-totalen-Ueberwachung

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